Flüchtlingsproteste in Italien

Raus aus Alcatraz

Die Flüchtlingsproteste, die auf Lampedusa begonnen haben, breiten sich in ganz Italien aus. Ihre Chancen, die Migrationspolitik der Regierung zu beeinflussen, sind aber gering.

»Basta Guantánamo! Basta Spaghetti!« Mit diesem Slogan rebellierten zwei Tage nach der Ankündigung der bevorstehenden Schließung des amerikanischen Militärgefangenenlagers Migranten in verschiedenen italienischen Städten gegen die katastrophalen Zustände in den Flüchtlingslagern des Landes.
Der Protest nahm seinen Anfang auf Lampedusa. Die Mittelmeerinsel ist die erste Station für Flüchtlinge, die versuchen, von der nahegelegenen nordafrikanischen Küste aus, Europa zu erreichen. Das Aufnahmelager dort ist für die Unterbringung von 500 Flüchtlingen vorgesehen, deren Zahl sich im Notfall kurzfristig auf 800 erhöhen kann. Seit Jahresbeginn ist die Einrichtung jedoch mit mehr als 1 600 Personen hoffnungslos überfüllt. Viele Flüchtlinge müssen in Zelten und unter aufgespannten Plastikplanen kampieren.
Dieser Zustand versetzte die Bewohner der kaum 20 Quadratkilometer großen Insel in Aufruhr. Sie protestierten gegen die Migrationspolitik der Regierung in Rom, weil sie befürchten, ihr Touristenparadies könne zu einem riesigen Gefängnis unter freiem Himmel, zu einem neuen »Alcatraz« werden. Den Protesten der Einheim­ischen schlossen sich vergangene Woche mehr als 600 Flüchtlinge mit ihren eigenen Forder­ungen an. Ihnen war es gelungen, die Umzäunung des Aufnahmelagers zu überwinden. Da der Protest der Inselbewohner vom Bürgermeister persönlich angeführt wurde, wagte die Poli­zei nicht einzugreifen. Zudem war es klar, dass den Migranten eine Flucht von Lampedusa unmöglich sein würde. Tatsächlich gelang es keinem, die Insel unbemerkt zu verlassen, alle wurden später wieder aufgegriffen und in das Aufnahmelager zurückgebracht.

Doch dass sie sich um ihre Freiheit bemühen, war bis aufs Festland vorgedrungen. Die Flüchtlingsproteste breiteten sich rasch über Massa Marittima in der Toskana bis in den Norden nach Turin aus.
In der toskanischen Kleinstadt forderten etwa 100 Flüchtlinge, darunter viele Frauen aus Somalia, Eritrea und Äthiopien, die Anerkennung ihres Asylantrags. Statt der gesetzlich erlaubten 30 Tage werden sie bereits seit dem vergangenen Sommer ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung in einer Notunterkunft des Roten Kreuzes festgehalten.
In Turin protestierten knapp 300 Flüchtlinge gemeinsam mit Aktivisten aus den Centri Sociali für eine angemessene Unterbringung. Seit Monaten leben sie in zwei heruntergekommenen, von Räumung bedrohten Gebäuden, die weder mit einer Heizung noch mit ausreichenden sanitären Anlagen ausgestattet sind. Verhandlungen mit der Stadtverwaltung blieben in beiden Städten erfolglos. In Massa wurde die Gruppe, nachdem sie sich geweigert hatte, ihre friedliche Sitzblockade in der Innenstadt zu beenden, von Polizeieinheiten in voller Kampfmontur angegriffen; in Turin wurde die Demonstration auf der zentralen Piazza Castello von einer Hundertschaft Polizisten in rassistischer Weise beschimpft und mit Tränengas in die Flucht getrieben.
Silvio Berlusconis Koalition hatte im Wahlkampf versprochen, im »Kampf gegen die Illegalen« Härte zu zeigen. Die Bilder von überfüllten Flüchtlingsbooten, die im Kanal von Sizilien in Seenot geraten, inszenieren einerseits die immer gleiche »Flüchtlingstragödie« und propagieren andererseits das Schreckensbild von den »Flüchtlingsmassen«. Lampedusa steht seit Jahren im Mittelpunkt der italienisch-europäischen Abwehrpolitik gegenüber Migranten. Auch dieses Mal ist die Situation auf der Insel nicht zufällig eskaliert.
Das Flüchtlingslager auf Lampedusa ist als Centro di la prima accoglienza (CPA) nur für die erste Notaufnahme bestimmt. Entsprechend der gesetzlichen Vorgaben müssen die Flüchtlinge innerhalb von 48, maximal 72 Stunden in so genannte Centri di identificazione ed espulsione (CIE, vormals CPT) verlegt werden, in denen ihre Herkunft geklärt und ihr Asylanspruch geprüft wird und von wo aus sie gegebenenfalls auch abgeschoben werden können. Im Herbst vergangenen Jahres hat die Regierung die Einrichtung von zehn neuen Identifikations-und Abschiebelagern beschlossen. Innenminister Roberto ­Maroni von der rechtspopulistischen Lega Nord kam dabei die Idee, eines dieser Zentren direkt auf Lampedusa einzurichten. Wer auf der Insel ankommt, muss dann nicht erst nach Sizilien oder auf das Festland transportiert werden, es bestünde nicht länger die Gefahr, dass Flüchtlinge als clandestini untertauchen könnten.
Wegen dieser Planung wurden die Flüchtlinge seit Jahresbeginn nicht mehr auf die nationalen Zentren verteilt, sondern im CPA auf Lampedusa festgehalten. Allerdings gibt es bisher nur die ministeriale Anordnung, die Gebäude des ehemaligen Nato-Stützpunkts Loran im äußersten Wesen der Insel, in denen das neue CIE eingerichtet werden soll, sind noch nicht umgebaut.

Eine Delegation der Demokratischen Partei konnte vergangene Woche sowohl das überfüllte CPA als auch das geplante CIE besichtigen. Da beide Gelände seit Tagen von Polizeieinheiten abgeriegelt werden und für die Presse unzugänglich sind, liefert ein von den Demokraten auf ihrem Parteisender veröffentlichtes Video die ein­zigen aktuellen Aufnahmen aus dem Flüchtlingslager.
Doch ebenso wie sich die einheimischen Inselbewohner nur am vorgesehenen verlängerten Aufenthalt der »Fremden«, nicht aber an deren Abschiebung stören, beschränkt sich die Kritik der demokratischen Opposition auf die Forderung nach Einhaltung rechtlicher Mindeststandards im Hinblick auf ihre Unterbringung.
Unwidersprochen bleibt der Versuch der Regierung, den Notstand auf Lampedusa im Rahmen eines europäisch-afrikanischen Kontroll­regimes zu lösen. So wurde in diesen Tagen das italienisch-libysche Abkommen, das Ministerpräsident Berlusconi mit Libyens Staatsoberhaupt Muammar al-Gaddafi bereits im Sommer 2008 ausgehandelt hat, auch mit den Stimmen der Linksliberalen ratifiziert. Demnach sollen Polizeieinheiten beider Länder gemeinsam vor der Küste Libyens patroullieren und die Ausfahrt von Schlepperbooten verhindern. Auch Maronis Absprachen mit dem tunesischen Präsidenten Ben Ali über die Rückführung von Flüchtlingen, die als Tunesier identifiziert werden, wurden von allen Parteien begrüßt.
Dass Libyen regelmäßig gegen die internationale Menschenrechtskonvention verstößt, Massenabschiebungen selbst nach dem restriktiven europäischen Flüchtlingsgesetz nicht erlaubt sind und viele der als Tunesier abgeschobenen Flüchtlinge aus den Bürgerkriegsregionen der Subsahara kommen und Asyl gewährt bekommen müssten, interessiert die demokratische Opposi­tion hingegen kaum. Und all das löst auch keine nennenswerten Proteste aus.