Drei Tage in Taipeh

Eine kurze Affäre

Zugegeben: Taipeh ist kleiner als Tokio, Bangkok oder Singapur. Aber dafür hat Taiwans Hauptstadt den höheren Turm, die kompliziertere politische Situation und viel Schaum auf der Tanzfläche.
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Der »101 Tower« ragt in der Mitte von Taipeh auf wie der Metalldorn auf einem Plattenteller. Um das mit 509 Metern zweithöchste Gebäude der Welt scheint das Leben der Stadt zu kreisen. Auf der Besucherplattform ist man zwar noch mehr als 100 Meter von der Spitze des Turms entfernt, kann aber Taiwans Hauptstadt in ihrer gesamten Ausdehnung überblicken. Wenige Kilometer im Norden und Osten liegen die Strände des ostchine­sischen Meeres und des Pazifik. Im Süden beginnen die Gebirgszüge.
Hier lerne ich Minna kennen. Die kleine, kompakte Frau ist 48 Jahre alt und lebt 48 davon in Tai­peh. Sie ist Lehrerin und spricht fließend Deutsch, also frage ich, warum ein Reisender Taipeh besuchen soll und nicht irgendeine andere Metropole Südostasiens. Minna überlegt kurz: »Ein Besuch in Taipeh ist wie eine Liebesaffäre. Am schönsten ist sie, wenn sie drei Tage dauert. Bevor die Routine beginnt.«
Aha. Also eine Affäre. Werde ich mich in die Stadt verlieben können? Das frage ich mich, während der Fahrstuhl den 101 hinunterrast. Doch am Fuß des Towers steht schon Taipeh und zwinkert mir zu. Ein bisschen erhitzt sieht sie aus in der schwülen, subtropischen Mittagshitze. Und weil gerade der Ausläufer eines Monsuns die Stadt streift, hat auch die Frisur etwas gelitten. Aber gerade das ist reizvoll – ich lächle zurück, und dann nimmt Taipeh mich einfach an der Hand.

Erster Tag der Affäre. »Darf ich mich vorstellen?«
Als erstes zeigt Taipeh mir die Nan King Street. Auf dieser Einkaufsmeile drängen sich große Kaufhäuser aneinander, dazwischen die Boutiquen internationaler Designer. In den Nebenstraßen, in denen überwiegend Plattenbauten stehen, beginnt man schnell zu spüren, dass Taipeh kein reiches Glamourgirl ist wie Tokio, Bangkok oder Singapur. Sondern eine Stadt mit wechselhafter jüngerer Vergangenheit und nicht ganz einfach zu verstehender politischer Logik, die sich vor allem aus dem problematischen Verhältnis zur Volksrepublik China (VRC) speist.
Beide Staaten gehörten zunächst zur Republik China, die sich nach dem Sturz des letzten Kaisers Pu Yi im Jahr 1912 gründete. Im Zuge des japanisch-chinesischen Krieges wurde die gesamte Insel Taiwan zur japanischen Kolonie, was sie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs blieb.
1945 – Taiwan war mittlerweile zurückgegeben – geriet China in den bis 1949 dauernden Bürgerkrieg, mit den Kontrahenten Mao und Chiang Kai-shek. Nach anfänglichen Erfolgen Kai-sheks gewannen Maos Truppen die Oberhand. 1947 zog sich Kai-shek mit etwa zwei Millionen Anhängern nach Taiwan zurück, was die faktische Gründung des Staates bedeutete. Als am 1. Oktober 1949 in Peking die Voklsrepublik ausgerufen wurde, waren aus der einstigen Republik China zwei Staaten geworden, die einander als abtrünnige Provinzen betrachteten. Taiwan galt international als Rechtsnachfolger der Republik China und blieb deshalb als Grün­dungsmitglied der Uno die alleinige chinesische Vertretung bei den Vereinten Nationen, inklusive ständigem Sitz im Sicherheitsrat. Vor allem durch die Protektion der USA wurde das möglich. Aber dennoch wurde damit eine auf Dauer absurde Situation geschaffen.
Mir raucht ein bisschen der Kopf, und deshalb lasse ich mir von Taipeh ein paar Sehenswürdigkeiten zeigen.
Bis heute kommt man als Reisender nicht um die Besichtigung des Chiang-Kai-shek-Memorials herum. Die Gedächtnishalle an der Sinyi Road, wo der verdiente Tote in Bronze gegossen aufragt und über die Stadt schaut, lässt das Leipziger Völkerschlachtdenkmal wie eine Puppenstube wirken. Links und rechts der Statue werden stündlich die Wachmänner gewechselt. Sie tragen polierte silberne Helme und verharren in derart unnatürlicher, nach vorne gebeugter Haltung, dass sie sich krampfhaft auf ihr Gewehr stützen und stündlich abgelöst werden müssen. Im Keller sind nicht nur Kriegsgemälde ausgestellt, sondern auch zwei von Kai-sheks Autos. Spätestens hier drängt mal wieder die Frage, warum Alleinherrscher immer so einen katastrophalen Geschmack haben. Ich schaue Taipeh ein bisschen genervt an. So wird das nichts mit unserer Affäre! Sie zuckt die Achseln, schürzt schuldbewusst ihre Lippen und setzt mich in ein Taxi. Auf der Fahrt sehe ich an jeder Straßenkreuzung, dass ein junger Einheimischer offenbar genau drei Dinge braucht, um ernst genommen zu werden: eine Vespa, eine Windjacke und ein Mädchen mit flatternder Schuluniform und starker Brille auf dem Sozius.
Am Long-Shan-Tempel steige ich aus. Für viele Einwohner ist dieser Ort der spirituellste in der Stadt. Das pagodenähnliche Gebäude, vor dem ein künstlicher Wasserfall sprudelt, ist mit unzähligen Drachen und anderen mythischen Figuren verziert. Im Innenhof befindet sich eine Galerie mit den einzelnen Göttern, die hier ihre Altäre haben. Die Hauptgöttin ist die der Barmherzigkeit. Automatisch setze ich mein ernstestes Kirchengesicht auf. Taipeh knufft mich in die Seite. Leise kichernd zeigt sie um sich. Mindestens 100 Einheimische besuchen gerade den Tempel, aber keiner schaut so freudlos wie ich. Auf den Tischen vor den einzelnen Altären stapeln sich die Opfergaben. Süßigkeiten, Orchideenblüten, duftendes Sandelholz. »Die Opfer müssen stark riechen, damit die Götter sie bemerken«, flüstert Taipeh mir ins Ohr. Dann zeigt sie auf große, goldene Öfen. Die Schalen, in denen das Sandelholz verbrennt, werden von kleinen Figuren getragen. Deren Kleidung ist der Bekleidung holländischer Kaufleute nachempfunden. Da die Stadt zeitweise eine holländische Kolonie war, müssen die einstigen Besatzer als Buße glühendes Metall stemmen. Ich hingegen stemme mich für heute nur noch ins Bett.

Zweiter Tag der Affäre. »Der Besuch des alten Herrn«
Am nächsten Morgen wartet Taipeh geschäftig vor dem Hotel. Sie hat gemerkt, dass ich mich für die Geschichte ihres Landes interessiere, und stellt mir Herrn Kim vor, einen alten Mann, der als Kind mit seinen Eltern, die an der Seite von Kai-shek kämpften, auf die Insel kam. Drei Jahrzehnte lang hat Herr Kim an der Universität von Taipeh jüngere Geschichte gelehrt. Er sollte sich also mit der Situation des Landes auskennen. Doch gleich beim ersten Schluck Tee stellt er klar: »Was ich Ihnen erzähle, ist natürlich subjektiv aus der Sicht meines Landes. Ein Festlands­chinese hätte eine ganz andere Meinung!«
Im Jahr 1971, so erzählt der pensionierte Historiker, verlor Taiwan seine Rolle als Stimme Chinas bei den Vereinten Nationen. Die UN-Resolution 2 758 übertrug, vereinfacht gesagt, die Rechte Taiwans auf die Volksrepublik. Und damit nicht genug: Die VRC begann mit der Ein-China-Politik. Wer diplomatische oder ökonomische Kontakte zur immer mächtiger werdenden Volksrepublik haben wollte, durfte Taiwan nicht anerkennen. Bis heute taten das nur 23 Länder. Deutschland ist nicht darunter, und auch nicht Taiwans Schutzmacht USA.
In Taiwan regierte seit 1947 die chinesische Nationalpartei KMT unter Chiang Kai-shek. Mit einer Einparteienregierung, die von den Taiwanesen bis heute »Demokratur« genannt wird. Und mit einer seltsamen Begründung. »Die KMT hat bis heute den Anspruch, dass von Taiwan aus ganz China demokratisch regiert werden soll«, lächelt Herr Kim. »Aber das war nicht möglich, und so wurde das Mandat der Regierung, das ursprünglich auf sieben Jahre begrenzt war, einfach immer weiter verlängert. Offiziell hieß dieses Konstrukt ›Das lange Parlament‹.«
Nach dem Tod ihres Führers regierte seine Partei weiter, auch über die ersten freien Wahlen 1992 hinaus. Erst im Jahr 2000 kam die Opposition an die Macht. Die demokratische Fortschrittspartei (DDP) strebt die formelle Anerkennung Taiwans an. Was natürlich prompt zu ernsten Problemen mit der Volksrepublik führte, die bei einer Unabhängigkeitserklärung mit einem militärischen Angriff drohte und sich dieses Recht im Jahr 2005 mit einem »Anti-Abspaltungsgesetz« selbst zugestand. In den USA galt hingegen der »Taiwan Relations Act«, der den Verkauf von Waffen an Taiwan bei militärischer Bedrohung regelt.
Seit den Wahlen von 2008 ist nun wieder die KMT an der Macht, was die Situation ein bisschen entspannt hat. Dennoch stehen in Taiwan 300 000 Soldaten unter Waffen, und 3,5 Millionen stehen als Reserve bereit. Mit gewissem Recht kann man den China-Taiwan-Konflikt als eine der letzten Fronten des Kalten Krieges verstehen.
Ich bedanke mich bei dem alten Wissenschaftler. Aber da ich Taipeh nicht nur als potenzielles Kriegsgebiet sehen mag, führt unser nächster Weg zum Theater. Zum Bihu-Theater, der größten Schule des Landes für traditionelle chinesische Bühnenkunst. Zehn Jahre lang müssen die Schüler im Internat bleiben, um Tanz, Gesang, Artistik und chinesische Oper zu studieren. Für unterprivilegierte Kinder ist die Schauspielerei eine Chance, der Unterschicht zu entkommen und berühmt zu werden. Jeden Tag treten die begabtesten Schüler vor zahlendem Publikum auf. Es wird Artistik geboten und ein traditioneller Einakter. Der heutige Einakter heißt: »Schneewittchen und die sieben Zwerge«. Das ist übrigens die einzige traditionelle chinesische Oper, die ich kenne. Immerhin lerne ich nach der Aufführung die Hauptdarstellerin kennen, die, noch in ihr kunstvolles weißes Gewand eingewickelt, auf die Garderobiere wartet. Yu Pa Li ist 25 und erst im zweiten Jahr an der Schule. »Aber ich habe vorher schon als Schlangenfrau gearbeitet. Mein Vater ist auch Schauspieler, der hat mich ausgebildet«, sagt sie. »Wenn die Ausbildung zu Ende ist, bin ich dafür schon fast zu alt. Das macht aber nichts. Schlangenmenschen müssen sowieso Lehrer werden, bevor sie 40 werden und der Rücken nicht mehr mitmacht.«

Dritter Tag der Affäre. »Kommst du noch mit rauf?«
Am dritten Tag verzichte ich auf eine weitere politische Vorlesung. Wir stürzen uns ins Nachtleben. Taipeh zeigt mir den Songshan District. Die Straßen sind eng und vollgepackt mit Modeboutiquen und Spielhallen, die so lange geöffnet haben, bis man in die Clubs gehen kann. Die Jungs haben ihre Vespas stehen gelassen und sich ein Pfund Gel ins Haar geschmiert. Die Mädchen haben ihre Schuluniformen durch gürtellange Kleider ersetzt. Manche Damen haben auch ihre Kleider durch Schuluniformen ersetzt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Das Restaurant »Ting Tai Fung« ist der beste Ort, um sich in diesem Bezirk für eine ausufernde Nacht zu stärken. Die Spezialität des Hauses sind »Dumplings« – kleine, runde Nudeltäschchen, die mit verschiedensten Füllungen in Körben serviert werden. Die zu essen, ist eine komplizierte Angelegenheit – jedenfalls beim ersten Mal. Man hebt das Nudeltäschchen auf den Löffel. Gibt mit den Stäbchen Ingwer dazu. Beißt den Dumpling an der Spitze vorsichtig mit den Zähnen auf. Dann rollt die Füllung heraus, und erst dann darf man ihn verzehren. Natürlich sieht das bei mir sehr sonderbar aus.
Im »Carnegie’s« sind vor allem Europäer. Der Laden sieht aus wie ein englischer Pub, in dem die Meisterfeier für Manchester United gerade böse aus dem Ruder läuft. Das Personal hat den Tresen als zusätzliche Tanzfläche freigegeben, und im ganzen Laden liegen sich Menschen in den oft schon etwas faltigen Armen. Schlimme Gitarrensoli der sechziger bis achtziger Jahre haben eine echte Chance. Ein vierschrötiger Kerl rammt seine Hand in meinen Rücken. »Hi, ich bin Bob, der Manager«, grölt er. »Weißt du, warum ich so heiße? Nach meiner Geburt hat mein Vater mir zwei Bs auf den Hintern gemalt und dann das Wort gelesen!« Englischer Humor war mir schon immer ein bisschen zu akademisch. Ich wechsle den Ort. Draußen wirft Taipeh zickig den Kopf in den Nacken. »Europäer!« sagt ihr Blick. Wird das hier etwa unser erster Streit?
Ein paar Straßen weiter, im Kellerclub »Face«, ist das Nachtleben so, wie ich es mir in Taiwan vorgestellt habe. Der Laden ist brechend voll. Zwei DJs verlassen ihr Pult und wühlen sich brüllend durchs Publikum, bis sie willkürlich eine junge Frau auswählen und auf eine kleine Bühne stoßen. Dort beginnt sie sofort mit zuckenden Bewegungen. Tanzt sie? Stellt sie pantomimisch die Geschichte von Schneewittchen und den sieben Zwergen dar? Wirft sie Schattenrisse der Meistermannschaft von Manchester United an die Wand? Ich weiß es nicht.
Nach ein paar Minuten ziehe ich Taipeh auf die Tanzfläche. Doch sofort springt eine leicht bekleidete Frau auf mich zu und schüttelt alle möglichen Körperteile. Gerade will ich mir etwas auf meinen Tanzstil einbilden, da beginnt plötzlich am Rand der Tanzfläche eine Düse, Schaum auszuspucken. Ich wackle drei Schritte zurück und lande direkt vor Jackie, der Managerin. »Wir haben hier jeden Abend eine Wahl der Miss Dancing Queen«, erklärt sie. »Unseren Stargast hast du ja schon gesehen. Sie spielt in japanischen Erotikfilmen.«
Morgens um vier stehe ich mit Taipeh im Hoteleingang. Unschlüssig sehen wir uns an. »Ich habe katastrophalen löslichen Kaffee in meinem Zimmer«, schlage ich vor. »Und einen drei Tage alten Obstteller.« Taipeh lächelt mich an. Dann schubst sie mich in die Lounge. Winkt und verschwindet in der Nacht. Wahrscheinlich ist das richtig. Wir sind eben sehr verschieden – sie frühstückt Fischzungen, ich fliehe vor halbnackten Japanerinnen. Auf Dauer ginge so was nicht gut.
Aber wir hatten drei Tage. Und Minna sagte, das seien die schönsten mit Taipeh.