Die Ausstellung: »Die Sprache Deutsch« in Berlin

Die Peitsche vergessen

Das Deutsche Historische Museum präsentiert die Nationalsprache harmloser, als sie ist.

Wären die Sprachen Instrumen­te, wäre das Französische eine Violine, das Italienische ein Cello, das Englische eine Klarinette, das Chinesische eine Piccoloflöte, das Dänische ein Waldhorn. Das Deutsche müsste die Kesselpauke sein, denn es ist ungeschlacht, lärmt, aber ist dabei stets pünktlich. Nach seinen Gliedsätzen kann man die Uhr stellen. Es ist eine Sprache des Befehlens, Organisierens, Ordnens, auch der Systemphilosophie, dagegen für Dichtung – es sei denn für die groteske –, erst recht fürs Lied, für Feinheiten und Abstufungen der Empfindung gänzlich ungeeignet.
Das ist Pech für die deutschen Nationalisten, denn außer Sprache bleibt ihnen nicht viel. Eine Einheit des Territoriums, der Herrschaft, damit der Geschichte hat es nicht gegeben, jeden­falls nicht für einen nennenswerten Zeitraum, nicht einmal eine Einheit der Religion, denn die katholische unterscheidet sich von der protestantischen doch stärker als diese vom Atheismus oder jene von der Orthodoxie. Bleibt nur die eher fragwürdige Einheit der Sprache; fragwürdig deshalb, weil auch viele Schweizer und alle Österreicher deutsch sprechen und sich vermutlich mit Bayern besser verständigen können als diese mit Plattdeutschen. Aber das Problem kennen die Chinesen auch, und immerhin haben sich Nord und Süd auf eine Schriftsprache geeinigt, das Hochdeutsche, und auf eine Konferenzsprache, das Englische.
Sprachliche Einheit also. Wer aber von der Ausstellung über die deutsche Sprache im Deutschen Historischen Museum (DHM) eine nationalistische Propagandaschau erwartet, wird angenehm überrascht. Am Eingang haben sich nicht drohend Martin Luther oder die Brüder Grimm aufgebaut. Nein, erst einmal wird der Besucher durch eine dunkle Tonschleuse geführt, von überallher wispert es Sätze aus älteren Sprachstufen, die Paukenschlägel sind wattiert. Hier kommt also der moderne native speaker zur Welt, aber mehr wie in einem mythischen Traum, mehr wie in »Lohengrin«.
Auf der Geburtsstation wird keine nationale Rückbesinnung gehalten, sondern eine allgemeine Erklärung gegeben, was Sprache sei, ein Mittel der symbolischen Kommunikation unter Menschen nämlich. Vom biologischen Standpunkt aus gesehen ist das ganz richtig. Affen und Sperlinge kommunizieren anders. Aber es hieße die Menschen schlecht kennen, sie für freundliche Plaudertaschen zu halten. Deshalb fand ich von je Fritz Mauthners Definition viel passender, die Sprache sei die Peitsche, mit der die Menschen sich gegenseitig zur Arbeit antreiben.
Auch wenn ich nur insgesamt fünf Minuten in der Ausstellung verbracht habe, die bei meinem Besuch von zwangsrekrutierten Schulklassen überfüllt war, will ich gern zugeben, dass sie liebevoll gemacht ist. In der Mitte eine Rotunde mit Lesesofas wie bei Hugendubel, rundherum Regale voll mit den gelben Reclam-Heftchen sämtlicher deutscher Dichterinnen und Dichter, die Avantgarde paritätisch berücksichtigt; Brötchen, in die Fähnchen gesteckt sind, darauf die Brötchenwörter aller deutschen Dialekte; Tagebücher verzweifelter Mädchen aus den fünfziger und achtziger Jahren; ein kopiertes Punk-Fan­zine; Handynachrichten; Generalsuperintendent Herders Sprachursprungsschrift nebst Büste; skurrile DDR-Urkunden; Werbung; einiges mehr. Es ist an vieles gedacht, und abseits eines Raums zur Sprachgeschichte steht nicht das nationale Erbe, sondern die Vielfalt des zeitgenössischen Deutsch im Vordergrund.
Aber das Deutsche wird eben als Medium, nicht als Peitsche vorgestellt. Nicht, dass ich noch einmal eine der sattsam bekannten Brandreden von Goebbels oder Hitler hätte anhören wollen. Aber weder Victor Klemperers »LTI« noch Charles Chaplins »änder straffhin ins Insekt änder Schnitzel änder lag in Werten an der Sauerkraut änder Flütensack Teerpferden« oder »Demokrazie? Schtonk!« sind vertreten. Man sieht oder hört nichts vom Vorstandsvorsitzenden, vom Richter und vom U-Bahn-Abfertiger. Ich begegne dem Vorarbeiter nicht, der uns am Fließband in seinem genuschelten Deutsch zusammenschiss, und auch nicht meinem alten Erdkundelehrer, der seine Stunden stets mit einem schnarrenden »Büchärr, Häftä, Zättel, Blöcke, Atlanten – zumachen, wegpacken! Es tritt jetzt vor zu miiir, mein Freund, dääär … « begann. Ich lese nicht das Siegel des Gerichtsvollziehers an der Wohnung meines versoffenen Nachbarn, diese sei hiermit »entsetzt«, und finde auch nicht den vorsorglichen Hinweis des Finanzamtes, »bei Wirtschaftsgütern, die über das Kalenderjahr der erstmaligen Verwendung hinaus zur Ausführung von Umsätzen verwendet werden«, sei »der Vorsteuerabzug aus den Anschaffungs- und Herstellungskosten zu berichtigen, wenn sich die für den ursprünglichen Vorsteuerabzug maßgebenden Verhältnisse ändern«.
Das war die deutsche Sprache in meinem Leben, andere werden vermutlich eine ganz ähnliche gekannt haben. Davon kein Wort im DHM, allein die Dichtkunst, große Förderer und etliche Kuriositäten.
Die Ausstellung hat einen weiten Begriff von Sprache, aber keinen sozial oder gar politisch geschärften. Sie kennt nicht die Indoktrination, die Demagogie, die Herabwürdigung, die Verletzung, die Unterdrückung, kein einziges der sprachlichen Gewaltmittel, über die die anderen Sprachen ebenso verfügen, aber die im Deutschen besonders brutal sind. Nicht umsonst lassen sich Ausrufe wie »Lauf, Saujud, lauf« nicht übersetzen. Aber auch nach dieser kleinen, ganz netten Werbeveranstaltung werden solche Sätze nicht vergessen sein.

»Die Sprache Deutsch«. Deutsches Historisches Museum, Berlin, noch bis 3. Mai. Katalog 25 Euro.