Ein Nazibuch wird zu Raubkunst

Ich habe geschreddert

Wie »Die kleine Rassenkunde des deutschen Volkes« zu Raubkunst wurde.

Letzten Herbst war ich auf Föhr. Die Insel ist weder mit Sehenswürdigkeiten gesegnet, noch hat sie landschaftlich etwas zu bieten. Föhr wird die »grüne Insel« genannt, ein Attribut, das ich doch etwas euphemistisch nennen möchte. An den tris­ten Agrarflächen hat sich sogar ein Stadtmensch wie ich schnell satt gesehen.
So verschlug es mich nach Oldsum in »Stelly’s Hüüs«, ein Café, das gleichzeitig Töpferei, Teeladen und Museum ist. Bestimmt finden das alle großartig, nur ich habe ja immer etwas auszuset­zen. Alter Krempel macht noch kein Museum, aber immerhin habe ich keinen Eintritt bezahlt, und eine urige Atmosphäre erzeugt so ein Ladendurcheinander allemal. Ich wählte einen Platz neben einem Bücherregal mit Blick auf einen reichlich ramponierten Kachelofen. Bis hierhin war ich noch einigermaßen zufrieden. Während ich auf die Bestellung wartete, griff ich aus Langeweile in die Bücher und erwischte prompt die »Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes«.
Nun hält sich mein Bedürfnis, zum hausgemachten Apfelkuchen in Naziliteratur zu blättern, eher in Grenzen, das gebe ich unumwunden zu. Und ich gebe auch gerne zu, dass ich das Buch augenblicklich geklaut habe, um es zu vernichten.
In Hamburg habe ich das Buch nicht einfach vernichtet, die Umstände verlangten nach einem anspruchsvolleren Umgang. Ich habe den Inhalt sorgfältig geschreddert und Geschreddertes und Einband in einem Schaukasten arrangiert, so dass man das Werk in der Öffentlichkeit zeigen kann, ohne weiteren Schaden damit anzurichten. Mehr noch: Der Schaukasten macht die ursprüng­lich mehr als leichtfertige Bereitstellung zur Lektüre in »Stelly’s Hüüs« überdeutlich.
Die Rückgabe gestaltet sich seitdem etwas zäh. Sie erfordert nämlich eine gewisse Öffentlichkeit, wie ich meine. Die Tatsache des Fundes soll ruhig breite Kreise ziehen. Ich möchte verhindern, dass mein Schaukasten als unangenehme Erschei­nung sang- und klanglos in einem Keller ver­schwin­det. Immerhin bin ich Künstler, und die Zeiten, da unliebsame Kunst entsorgt wurde, haben wir, glaube ich, hinter uns.
Zunächst überlegte ich, den Schaukasten an die Polizei in Wyk zu schicken, mit der Bitte, das Diebesgut an das Museum zurückzureichen. Dann dachte ich daran, einen Anwalt mit der Formulierung einer entsprechenden Selbstanzeige zu be­trauen, ein anwaltliches Schreiben wäre wohl geeignet, die Dimension der Sache zu steigern. Dann wandte ich mich an die Redaktion des Insel-Boten, um die Rückgabe mit einer Berichterstattung zu verbinden.
Zuletzt rief ich bei der Polizei in Hamburg an, um sie zu fragen, wie ich das nun machen soll. Das war keine so gute Idee. Die Polizei interessierte sich überhaupt nicht für den nationalsozialistischen Charakter des Buches, und für meinen kritischen Umgang mit der Sache schon gar nicht. Die Polizei fragte mich stattdessen mehrfach, ob ich mir eigentlich darüber im Klaren sei, dass ich hier eine Straftat zugäbe!
Nach meinem freimütigen Bekenntnis, ich hätte auf Föhr in einem für jedermann zugänglichen Pseudomuseum ein Nazibuch geklaut und ge­schred­dert, würde mir der Gedanke, dass der Begriff »Klauen« illegal besetzt ist, natürlich nie kommen. Leider begriff die Polizei den bewusst provokanten Tenor meines Geständnisses nicht. Wenigstens fiel der Umstand der schweren Sachbeschädigung nicht weiter auf, so dass mein ausgeprägter Hang zu kriminellen Handlungen seitens der Ordnungshüter nicht weiter ausgedehnt wurde.
Etwas maulig wurde mir ernsthaft geraten, ich solle das Buch seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben! Für die Polizei ist das eine einfache Sache, für die habe ich bloß ein Buch geklaut. Dabei ist die Sache so einfach nicht, ich habe mich ja nicht daran bereichert. Genau genommen habe ich nicht einmal einen Schaden verursacht, ganz im Gegenteil. Ich habe mich eingemischt, habe mit einfachsten Mitteln eine höhere Ebene geschaffen, die möglicherweise sogar der Bewusstseinsschärfung dient.
Vielleicht ist die Polizei gar nicht dafür da, das Rich­tige im Falschen zu erkennen. Vielleicht darf die Polizei differenzierte Betrachtungen gar nicht anstellen, wo würde das hinführen? Vielleicht bin ich naiv, wenn ich glaube, andere Menschen sollten sich für diese Angelegenheit interessieren, sie bedenken und begreifen und erkennen, dass ich im Grunde alles richtig gemacht habe, beispielhaft geradezu. Der Insel-Bote jedenfalls ist redaktionell unterbesetzt und mit drängenderem Zeug wie ausgelaufener Gülle beschäftigt. Da möchte ich mich wirklich nicht hinten anstellen und eine Woche lang warten, bis alles aufgewischt ist.
Meinen Schaukasten habe ich noch immer. Fast gewinne ich den Eindruck, ich werde ihn nicht los.