Hausbesetzungen in Brasilien

City of Favelas

Der Wohnraum in São Paulo ist knapp, vor allem für Menschen, die sich keine Luxus­apartments in privat bewachten Vierteln leisten können. Durch selbst organisierte Wohnprojekte und durch die Besetzung von leer stehenden Gebäuden versuchen mehrere Initiativen, den Obdachlosen eine Perspektive zu bieten.

In der Nähe der Estação da Luz, eines historischen Bahnhofs im alten Zentrum São Paulos, steht Rafael Sampaio und wartet. Die Sonne geht langsam unter, und eigentlich wäre es an der Zeit für den Journalisten, die Gegend zu verlassen. Jeder Paulista, wie die Einwohner der Stadt genannt werden, kennt das Viertel, das durch Drogen und Polizeigewalt in Verruf geraten ist, un­ter dem Namen »Cracklandia«.
Nicht weit von hier lag zwischen 2002 und 2007 das »Prestes Maia«, Südamerikas größtes besetztes Haus, das von 485 Familien bewohnt wurde. Die rund 4 000 Bewohner hatten sich damals in einem heruntergekommenen und leer stehenden Hochhaus an der Avenida Prestes Maia eingerichtet. Heute sieht man nur noch die tristen zugemauerten Fenster und Türen, wo sich einst die Bibliothek der Besetzer befand, die auch von der Nachbarschaft frequentiert wurde. Nur die Fenster mit herauswehenden Gardinen und einige Graffiti erinnern daran, dass sich hier eine der interessantesten Wohnprojekte Südamerikas befand.
Rafael kennt sich hier aus. Er hat viele Artikel verfasst über Stadtaneignung, städtische Armut und über die Lebensbedingungen der Menschen, die in so genannten Cortiços (Mietskasernen) leben. Mit ihm warten wir nun auf Maria Lee von der Gruppe »Communas urbanas«. Gemeinsam gehen wir die Straße vor dem Bahnhof entlang und bleiben vor einer Stahltür stehen. Nach mehrmaligem Klopfen öffnet ein Mann die Tür und begrüßt uns. »Drogen und Waffen haben hier nichts zu suchen«, erklärt er vorneweg, »wir wollen keinen Ärger mit der Polizei.« Die Stahltür schützt nicht nur vor der Kriminalität auf den Straßen, sie erschwert auch den Beamten den Zutritt. Hinter der Tür erstreckt sich ein dunkler Gang, der auf einen Innenhof des besetzten Hauses führt. Hier begrüßt uns Ivanete von der Bewegung der Obdachlosen im Zentrum (Movimento dos Sem-Teto do Centro, MSTC). »Das Gebäude hier in der Rua Maua 340 ist das ehema­lige Hotel Santos Dumont. Der Besitzer zahlt seit längerer Zeit keine Grundsteuern mehr«, sagt sie, »und weil die Eigentümerfamilien zerstritten sind, wird es auch nicht mehr renoviert. Während sie streiten, verkommt das Gebäude, wie viele andere Häuser hier im Zentrum, die leer stehen, bis sie von Obdachlosen zurückerobert werden.«
Seit der Räumung des Prestes Maia bietet das ehemalige Hotel einigen der Vertriebenen eine Unterkunft. Ersatzwohnungen in der Peripherie wurden den Besetzern nach der Räumung nur wenige angeboten, viele Leute wurden obdachlos.
In den fünf Stockwerken des ehemaligen Hotels mit teilweise lagerhallenartiger Atmosphäre haben die Besetzer viele kleine Nischen mit Brettern abgeteilt, damit zumindest ein wenig Privatsphäre entsteht. In so einem Bretterverschlag von 3 × 2,5 Metern sind manchmal fünfköpfige Familien untergebracht. Alle Nischen liegen an einem langen Gang, der zu den Gemeinschaftstoiletten und zu den Waschräumen führt. Im Winter kann es hier sehr kalt und feucht werden, denn es herrscht Durchzug, und von vielen Seiten kann Wasser eindringen. Im Sommer hingegen plagt drückende Hitze die Bewohner, viele von ihnen sind deshalb chronisch krank, insbesondere die Kinder.
Maria Leque war schon bei der Besetzung des Prestes Maia dabei. »Ich habe das Prestes Maia mitbesetzt und drei Jahre dort gelebt. Ich war Koordinatorin für Gleichstellungsfragen, Frauenbildung und Kultur«, erzählt die kleine Frau mit energischen Bewegungen. »Einmal haben wir mit 120 Künstlern und Kooperativen eine Ausstellung zusammen mit den Sem Teto (Obdachlosen) gemacht – um nicht nur uns selbst, sondern auch Außenstehenden zu zeigen, dass Obdachlose Menschen mit Würde sind, die arbeiten gehen und selbst Kunst und Kultur haben.«

Nun befindet sich diese Gegend im Umbruch. Der renovierte historische Bahnhof und die im angrenzenden Park eröffnete Pinakothek des Bundesstaats São Paulo haben das verrufene Viertel stark aufgewertet. Mit dieser kulturellen und baulichen Aufwertung und der damit verbundenen starken Polizeipräsenz und Vertreibung der ärmeren Bevölkerung kehrten die wohlhabenden Schichten langsam zurück. Für die Besetzer und die Menschen, die auf der Straße leben, bedeutet dies verstärkte Repression und wiederholte Übergriffe der Polizei und privater Sicherheitsdienste. Obdachlose werden im hygienisierten Viertel als unerwünscht und potenziell gefährlich angesehen.
»Das Problem in São Paulo ist, dass die Stadtverwaltung ein Projekt verfolgt«, erklärt Rafael. »Sie will das Zentrum der Stadt sanieren, um Nobelviertel zu schaffen, die für Firmen attraktiv sind. Seit 2004 wird das Zentrum der Stadt gesäubert.« Am stärksten trifft die Gentrifizierung des Viertels die Armen und die sozialen Initiativen der Obdachlosen. »Der MSTC unterstützt Menschen mit niedrigem Einkommen«, stellt Ivanete ihre Gruppe vor. »Wir sind in 50 Basisgruppen organisiert und betreuen Familien, Menschen, die auf der Straße leben, und Bewohner von Favelas und Cortiços. Dort, wo es unwürdige Wohnsituationen gibt, sind wir aktiv. Wenn es notwendig ist, zelten wir vor dem Rathaus, oder wir organisieren Demonstrationen und Proteste und, was ich am wichtigsten finde, Besetzungen von leer stehenden Gebäuden ohne soziale Funktion.«
Während die meisten Bewohner der Stadt sich mit prekären Wohn- und Lebensbedingungen herumschlagen müssen, schotten sich die Reichen immer mehr in ihren eigenen Vierteln ab. Rafael blickt sich um. »Es ist, als würden in São Paulo zwei Welten existieren: die der Reichen, die konsumieren und eine Wohnung in einem privat bewachten Viertel kaufen können, und die Welt der Armen, die in die ärmsten Stadtteile verbannt werden.«
São Paulo zählt offiziell 16 Millionen Einwohner. Seine ausufernde Peripherie geht nahtlos in die zwei angegliederten Millionenstädte Campinas und Santos über. Das Zentrum der Stadt gleicht einer Hochhauswüste in Grau. Brasiliens Wirtschaftsmetropole und industrielles Zentrum bietet seiner Oberschicht dennoch viele Annehmlichkeiten: einen bequemen Landeplatz für Helikopter im Luxus-Shoppingcenter Daslu nahe der Avenida Marginal Pinheiros oder 1 200 Helikopterports an vielen Hochhäusern und Privatvillen, die es den Reichen ermöglichen, den lästigen Stadtverkehr zu umgehen. Gleichzeitig lebt die Mehrheit in improvisierten Siedlungen und in den Favelas, den Armenvierteln, die sich über die gesamte Stadt ausbreiten und bis an die Grenzen der Luxusquartiere stoßen.
In Morumbi, einem der exklusivsten Viertel São Paulos, stehen die Häuser der aus­ufernden Favela Paraisópolis direkt neben den Luxus­apartments mit Swimmingpools. Die Grenze wird von Mauern markiert und von privaten ­Sicherheitsfirmen bewacht. Entlang der Avenida Marginal Pinheiros befinden sich die Prestige-Bauprojekte, vom Jockey Club, dem teuersten Wohnkomplex Südamerikas mit unzähligen Hochhäusern, die den Vergleich mit New York nicht scheuen müssen, bis zu São Paulos neuestem Wahrzeichen, der Brücke Octávio Frias.

Überall wird in der Stadt gebaut, trotzdem fehlen in São Paulo 188 700 Wohnungen, während über 400 000 Wohneinheiten leer stehen. Das hat die NGO Instituto Polis recherchiert, deren Räume sich nahe der Praça da Republica im alten Zentrum São Paulos befinden. Die Organisation hat sich dem Ziel einer »anderen Urbanisierung« durch Bürgerengagement, Beratung und Unterstützung von sozialen Bewegungen verschrieben. Das Instituto Polis ist eine der wenigen Institutionen dieser Art in Brasilien. Hier werden empirische Untersuchungen zu den städtischen Besetzungen, zu Polizeigewalt und zu alternativen Stadterneuerungskonzepten durchgeführt und in eigenen Schriftenreihen vorgestellt. »In São Paulo gibt es schätzungsweise 1 600 Favelas, in denen ungefähr 1,5 Millionen Menschen leben«, schil­dert Professor Nelson Saule Junior die erschütternde Wohnsituation der armen Bevölkerung. »Dazu kommt das Problem der Cortiços.« So nennt man hier heruntergekommene Wohnhoch­häuser im Stadtzentrum, in denen die arme Bevölkerung zusammengepfercht unter unwürdigen Bedingungen lebt. »Man schätzt, dass im Zentrum von São Paulo rund 600 000 Menschen unter diesen Bedingungen leben.«
Nicht nur im Zentrum der Stadt haben sich aus der sozialen Ausgrenzung Formen von Widerstand entwickelt. Gerade in den entlegensten Gegenden, in die kein Bus mehr fährt und deren Bewohner teilweise noch nie im Zentrum von São Paulo gewesen sind, organisieren sich Einwohner, die ihre Häuser verloren haben, Landlose, die in die Stadt kamen, um eine bessere Zukunft zu finden, und Angehörige des Movimento dos Trabalhadores Sem Teto (MTST), der Bewegung der obdachlosen Arbeiter. Sie besetzen leer stehen­de Gebäude oder unbebautes Land.
Wir treffen Guilherme Boulos, einer der für den Bundesstaat São Paulo zuständigen Koordinatoren des MTST, in einem besetzten Gebäude im Südosten São Paulos. Er steht auf dem Dach und blickt über die angrenzenden Hügel, die bis zum Horizont mit sich türmenden Backsteinbauten überzogen sind. »Bereits seit zehn Jahren zeichnet sich die Arbeit des MTST durch große Be­setzungsaktionen in den Städten und den Ballungszentren des Landes aus«, erzählt er. Neben Großbesetzungen wie in Campinas, São Paulo und an anderen Orten artikuliert der MTST auch andere Bedürfnisse der Marginalisierten in den brasilianischen Städten. »In Rio haben wir auch andere wichtige symbolische Aktionen durchgeführt. Eine Aktion, die große Wirkung hatte, war die Besetzung der Shopping Mall der Elite von Rio.« Durch solche Aktionen versucht der MTST, auf die sonst in der Öffentlichkeit kaum vertretenen Millionen von Armen und ihre miserablen Lebensbedingungen aufmerksam zu machen.

In einer ehemaligen Schule in Osasco, nordöstlich vom Zentrum São Paulos, befinden sich nach der fünften Räumung die verbliebenen Beteiligten einer weiteren Besetzung des MTST, die unter dem Namen »Carlos Lamarca« bekannt ist. Sie befand sich schon an mehreren Orten, etwa auf einem Gebiet in der Nähe des Flughafens Garulhos. Nach einer bürokratischen Odyssee ist sie nun nach Osasco gekommen. Das Gelände liegt hinter Mauern und ist nur durch eine schmale Tür zu betreten. Dahinter stehen ein Billardtisch und eine kleine Bar. In den Ruinen der ehemaligen Schule leben über 100 Menschen, Familien mit Kindern, die sich hier eine Unterkunft eingerichtet haben. Zum Teil leben alle Familienmitglieder in dunklen Einraum-Wohnungen, aber das ist immer noch besser, als auf der Straße zu sitzen. Hier wohnt auch Rogerio, der aus dem Nordosten nach São Paulo kam: »Ich habe zehn Jahre auf der Straße gelebt, an verlassenen Orten und in verlassenen Häusern. Wenn der Besitzer mit der Polizei kam, musste ich wieder unter die Brücke. Wenn ich in ein verlassenes Haus kam, holten die Nachbarn die Polizei und ließen mich räumen.« Seit er eine Familie hat, ist er froh, hier mit Hilfe des MTST einen festen Wohnsitz gefunden zu haben.
Das »Carlos Lamarca« ist aber nicht nur ein Ort zum Wohnen. In einem Raum hat hier der MTST eine Bibliothek eingerichtet, in der regelmä­ßige Treffen der Bewohner stattfinden und ein Austausch zwischen den im Stadtgebiet von São Paulo weit verstreuten Besetzern ermöglicht wird. Neben der Bildungsarbeit steht die politische Organisation im Vordergrund. Nach langem Kampf hat der Bürgermeister von Osasco nun ein­gewilligt, 160 Wohneinheiten für die Bewohner des »Carlos Lamarca« zur Verfügung zu stellen.
Nicht unweit von Osasco, mitten in dieser Peripherie des Elends, liegt »Alphaville«, die älteste und wohl bekannteste Gated Community Brasiliens. Seit den siebziger Jahren bietet Alphaville den wohlhabenden Schichten eine Oase der Sicherheit und der Sauberkeit. In die umzäun­te, von einem eigenen Wachdienst bewachte Stadt gelangt man durch komplexe Sicherheitsschleusen. Drinnen findet man alle erdenklichen Annehmlichkeiten des luxuriösen Wohnens, von Gärten und Pools über Golf- und Tennisplätze bis hin zu Privatkliniken und Shopping-Malls. Hier wohnen rund 50 000 Menschen in mehr als 12 000 Häusern und über 40 Hochhäusern. Dieses Wohnmodell war bei der wohlhabenden brasilianischen Mittelschicht so erfolgreich, dass seit 1995 in ganz Brasilien über 30 Ableger der Gated Community entstanden, sieben davon allein im Großraum São Paulo.

Ähnlich wie das »Carlos Lamarca« wurde auch die Besetzung »Joao Candido« in Calu bereits mehr­mals gewaltsam geräumt und kämpfte erfolgreich um ihre Legalisierung. Calu liegt am Rand der Großstadt. Über die Hügel außerhalb der Stadt erstrecken sich kilometerweit die Häuser der Armen, und erst nach stundenlanger Autofahrt erreicht man den Ort. Auf einem Plateau zwi­schen den Palmen liegt ein Fußballplatz, auf dem Kinder spielen. Ein kleiner Pfad führt einen Abhang hinab, und von hier aus erblickt man das Zeltdorf. Hunderte von kleinen Hütten aus Sperr­holz und blauen Abdeckplanen beherbergen mehrere hundert Familien. Eine kleine Haupt­straße führt an einer Gemeinschaftsküche, dem offiziellen »Marktplatz« und der Schule vorbei, die, ebenso wie die anderen Hütten, nur aus Planen und alten Holzplanken besteht. Aber es gibt zumindest Strom, und die Anwohner müssen nicht befürchten, in der Nacht gewaltsam vertrieben zu werden.
Rafael Sempaio kennt die Realität an diesen Orten. »Artikel 5 der brasilianischen Verfassung garantiert allen Bürgern das Recht auf Unterkunft. Aber die Stadt kümmert sich nur um die, die Geld haben. Ist das nicht verrückt?«