Im Gespräch mit Jürgen Mümken über den Kongress »Anarchismus im 21. Jahrhundert«

»Für mich heißt Anarchismus auch Antikapitalismus«

Über Ostern findet in Berlin ein Kongress zum Thema »Anarchismus im 21. Jahrhundert« statt. Einer der Referenten ist Jürgen Mümken. Der 43jährige Autor wird bei der Tagung zu der Frage referieren, was die Postmoderne für den Anarchismus bedeutet.
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Anfang der neunziger Jahre haben anarchistische Kongresse noch mehrere tausend Teilnehmer angezogen. Bei dem Kongress jetzt in Berlin ist wohl kaum mit solch einem Zuspruch zu rechnen. Ist der Anarchismus als Idee in der Krise?
So würde ich das nicht sehen. Auf den Libertären Tagen 1993 in Frankfurt waren zwar sehr viele Leute, die sich als Anarchistinnen und Anarchisten verstanden haben, aber viele kamen auch aus dem autonomen und antifaschistischen Spek­trum, welches damals insgesamt viel größer war als heute. Der letzte wirklich große Kongress der linken Bewegung war meines Wissens der Autonomiekongress 1995 in Berlin.
Das könnte ja ein Ausdruck dieser Krise sein?
Ja, die Bewegung ist nicht gerade größer geworden, und es hat wenig Nachwuchs gegeben. Im Moment scheint es sich aber wieder umzukehren. Es wollen wieder vermehrt jüngere Leute Politik machen. Die Krise betrifft jedenfalls die gesamte Linke, nicht speziell die anarchistische Bewegung oder Theorie.
Aber müsste nicht gerade jetzt der Anarchismus boomen? Angesicht der Weltwirtschaftskrise beobachten wir überall vermehrt Staatsinterventionen, Verstaatlichung, einen neuen Trend zum Etatismus.
Eigentlich hätten anarchistische Ansätze ja schon 1989 boomen müssen nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten in Osteuropa. Auch da gab es, in Deutschland zumindest, keinen Boom. Hinsichtlich der Wirtschaftskrise jetzt muss man feststellen, dass die soziale Frage in der Linken leider immer eher eine untergeordnete Rolle gespielt hat, außer bei den Parteikommunisten vielleicht und bei der FAU, die sich ja als Gewerkschaft versteht. Das ist einer der Grün­de, weshalb ein Großteil der Linken jetzt auch nicht auf diese Wirtschaftkrise reagieren kann.
Im Aufruf zu dem Kongress heißt es, es soll um die »politische Philosophie des Anarchismus« und die »Strukturen der anarchistischen Bewe­gung« gehen. Von den aktuellen politischen Themen ist dort nicht einmal die Rede.
Dies ist ja ein offener Kongress, und jeder, der möchte, kann dort Workshops und Vorträge anbieten. Bisher scheint es aber tatsächlich niemanden zu geben, der solche Fragen zur Wirt­schafts­krise und zur zunehmenden Anrufung des Staats thematisieren möchte.
Vielleicht, weil insgeheim doch alle auf den Staat als Retter in der Not hoffen?
Das war ja schon bei der Hartz-IV-Debatte das große Problem. Da hieß es, der Staat muss den Menschen Arbeit geben, bei Opel heißt es jetzt, der Staat soll intervenieren. Die Frage ist in der Tat: Wie kann man, jenseits von der richtigen aber zur Zeit utopischen Forderung nach der Abschaffung des Kapitalismus mit einer libertären Perspektive intervenieren, ohne den Staat anzurufen. Ich befinde mich da aber auch selbst immer wieder in einem inneren Konflikt. Denn für die Leute, die zum Beispiel ihre Arbeitsplätze verlieren, drängen die realen ökonomischen Fragen der Gegenwart. Und wenn man ihnen da keine konkreten alterna­tiven Antworten bieten kann, dann werden sie ihre Hoffnungen immer auf den Staat richten. Und das ist dann ja auch verständlich.
Wäre es da nicht die Aufgabe von Anarchisten, die Staatskritik vorzutragen?
Auf jeden Fall wäre das notwendig. Aber ein Problem in der anarchistischen Bewegung ist, dass es zwar eine Staatsablehnung gibt, aber eine ernst­hafte Staatskritik ist das nicht automatisch. Die Frage, was ist überhaupt gegenwärtig Staat, wie sieht staatliche Politik aus, die wird von vielen Staatsgegnern gar nicht beantwortet, oder nur so ganz vereinfacht: »Der Staat, das sind die da oben, und die sind böse.« Ich bin mir nicht sicher, ob man sich überhaupt so auf den Staat fixieren sollte. Es geht doch um Herrschaftsverhältnisse. Wenn man Herrschaftsverhältnisse überwindet, verschwindet auch der Staat, aber wenn man den Staat überwindet, verschwinden noch lange nicht Herrschaftsverhältnisse. Das sehen wir ja in vielen Gegenden der Welt, wo sich die staatliche Ordnung auflöst, dort entsteht ja nicht automatisch das Paradies der Freiheit. Der Blick auf die Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse scheint mir wichtiger zu sein. Foucault hat in diesem Zusammenhang von der Staatspho­bie der Linken geredet.
Sie gelten als »Postanarchist«, was genau hat man sich darunter vorzustellen?
Ich würde mich nicht als solcher bezeichnen, denn Postanarchismus ist ja keine politische Strö­mung, eher ein »Label«, eine Art zu denken. Es ist der Versuch, in Auseinandersetzung mit gegen­wärtigen politischen Theorien, vor allem dem Poststrukturalismus, die anarchistische Theorie zu aktualisieren, weiterzuentwickeln, den heutigen Erkenntnissen über Herrschaftsverhältnisse anzupassen.
Welche Rolle wird denn der Anarchismus im 21. Jahrhundert noch spielen?
Er wird sicher nicht in absehbarer Zeit zu einer Massenbewegung werden. Er wird aber Teil jener Linken bleiben, die versucht, die Verhältnisse grundlegend zu verändern. Mir geht es darum, die Verhältnisse so zu ändern, dass der Mensch in einer freien Gesellschaft leben kann. Ich will nicht meine Insel der Glückseligkeit errichten bzw. mich auf eine Landkommune zurückziehen, dabei die gesellschaftlichen Verhältnisse aber unangetastet lassen. Ob der Anarchismus dafür eine größere Bedeutung bekommen kann, als er es jetzt hat, weiß ich nicht. Ich fände es wichtiger, wenn die Grenzen zwischen Anarchisten und libertären oder antiautoritären Kommunisten mehr verschwinden würden, wenn die gegenseitigen Vorurteile abgebaut würden. Bei dem Kongress soll es eine Veranstaltung geben »Was können AnarchistInnen und MarxistInnen voneinander lernen?« So etwas finde ich spannend.
Sie plädieren also für die anarchistisch-kommunistische Ökumene? In Zeiten eines staatsfixierten »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« und Krisenetatismus, und nach dem Ende der Ära des Neoliberalismus wären ja auch libertär-liberale Annäherungen denkbar …
Für mich nicht. Sicher, es gibt immer merkwürdige Flügel innerhalb des Anarchismus, die zwar antistaatlich sind, aber nicht besonders antikapitalistisch, oder die für Marktwirtschaft ohne Kapitalismus plädieren. Aber diese Gruppen, auch Freiwirtschaftler oder so genannte Anarchokapitalisten, sind zumindest in Deutschland marginal. Zum Glück! Für mich heißt Anarchismus auch Antikapitalismus. Für mich bedeutet gegen den Staat zu sein, in erster Linie gegen Herrschaft zu sein. Liberale wollen die Herrschaftsver­hältnisse aber nur privatisieren, ich will sie über­winden. Deshalb kann es da gar keine Gemeinsam­keiten geben.
Der Eindruck bleibt, dass es zumindest hierzulande nicht nur keine anarchistische Theorie auf der Höhe der Zeit gibt, sondern zusätzlich auch keine relevante anarchistische Praxis.
Es gibt schon einiges an Praxis, etwa die Graswurz­ler mit ihren Aktionen gegen Castor-Transporte …
Gegen Castor-Transporte zu sein, hat aber doch mit Anarchismus nichts zu tun, das ist ja keine anarchistische Praxis …
Ja gut, aber was wäre dann eine wirkliche anarchistische Praxis?
Sie sind der Anarchist, sagen Sie es uns!
(lacht) Ich würde sagen, anarchistische Praxis ist da, wo Anarchistinnen und Anarchisten aktiv sind und etwas tun. Das Problem ist doch, dass es quasi keine anarchistische Bewegung gibt, sie ist total zerfleddert. Neben den beiden etwas größeren Organisationen FAU und Graswurzel sind das ja alles lokale Gruppen, Einzelpersonen, oder Leute, die eigentlich in anderen politischen Zusammenhängen aktiv sind, wie ich es bei den Autonomen war. Es gibt sehr viele Leute, die mit libertären Ideen sympathisieren, aber eine große anarchistische Bewegung gibt es nicht.
In Griechenland schon. Und die ist ja auch mal wieder recht aktiv in letzter Zeit.
Schon. Aber in Griechenland ist man entweder Anarchist oder Kommunist. Die Abgrenzung von einander ist dort ganz zentral.
Also gerade ganz ohne Ökumene ist die anarchis­tische Bewegung dort offenbar stark.
Man ist dort viel eher bereit, sich als Anarchist zu definieren. Wenn Leute hier Antifa-Arbeit machen, verstehen sie sich als »Antifa«, auch wenn sie darüber hinaus anarchistisch oder libertär denken.
Haben Sie spezielle Erwartungen an den Kongress?
Ich bin einfach gespannt. Die Referenten sind zum Großteil die etwas älteren, üblichen Verdächtigen, und das Publikum wird wohl eher jünger sein. Mal sehen, was sich daraus so ergibt. Aber den ganz großen Impuls für die Bewegung sollte man wohl nicht erwarten. Es ist am Ende eben auch nur ein Kongress.

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