Die Krise als Chance für soziale Proteste? – Für französische Verhältnisse!

Geschichte wird gemacht!

Auch wenn die Reaktionen auf die Krise meist defensiv sind, gibt es Hoffnung für wirkungsvolle Sozialproteste – sofern die Gewerkschaften nicht den Willen der Beschäftigten zum Protest in drögen Sonntagsspaziergängen ersticken.

Einer der Demonstranten zieht ein ziemlich schrä­ges Gesicht: Gestützt und festgehalten von zweien »seiner« Arbeiter, läuft der Herr Werksdirektor Alain Royer in der Demonstration mit. Nein, nicht wirklich ganz freiwillig. Auch ein T-Shirt hat er sich zur Feier das Tages übergezogen, oder eher: Es wurde ihm übergezogen, auch wenn es ziemlich schief sitzt. Darauf wird die Anzahl der Jobs verkün­det, die der Konzern zu streichen im Begriff ist. Diese Szene spielte sich im zentralfranzösischen Auxerre in der Batteriefabrik Fulmen ab, am 29. Ja­nuar dieses Jahres. Zusammen mit ihrem Gast nahmen die Lohnabhängigen an den landesweiten Sozialprotesten und Gewerkschaftsdemonstrationen teil, die an jenem Tag zwei Millionen Men­schen auf die Straßen Frankreichs brachten.
Dieses Ereignis wurde erst jüngst bekannt, als die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde es Anfang April mit einem schönen Foto dokumentierte. Sozialer Protest muss also nicht immer drö­ge und langweilig daherkommen, wie es für viele, wenn auch nicht alle Gewerkschaftsdemons­trationen leider zutrifft. Abgesehen von alternativen Basisgewerkschaften wie der französischen SUD fürchten die Apparate vieler Gewerkschaftsverbände genau jene Fantasie und Spontaneität, die in vielen Protesten »von unten« zum Ausdruck kommt.

2009 ist nicht 1968. Nicht die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft in naher Zukunft treibt die heutigen Proteste an. Vielmehr reagieren sie auf die unmittelbare Bedrohung von einstmals erkämpften sozialen Rechten, sie zeichnen sich durch ihren Defensivcharakter aus. Und doch schwingt in vielen aktuellen Protestbewegungen die Sozialutopie, der Wunsch nach einem besseren Morgen mit, der Wunsch nach Entfaltung des Individuums bei gleichzeitiger Sicherung eines Standards sozialer Rechte. Dies war in Frank­reich etwa bei der Bewegung gegen die Abschaffung des Kündigungsschutzes im Frühjahr 2006 der Fall. Obwohl der Anlass für die Bewegung gegen den so genannten CPE ein defensiver war, konnte sie beachtliche Teile der Jugend politisieren, ermutigen und die Hoffnung auf Veränder­barkeit der Gesellschaft aufrechterhalten.
Noch defensiver ist derzeit die Ausgangssituation in ganz Europa, denn die mannigfaltigen Aus­wir­kungen der Krise sind nicht so einfach zu fassen wie etwa ein Gesetzesvorhaben, dessen Abwehr den gemeinsamen Konsens einer großen Pro­testbewegung bilden konnte. Dennoch kocht die soziale Wut, bilden sich Keimzellen von sozialem Protest.
Doch den erwähnten Gewerkschaftsapparaten beispielsweise ist viel daran gelegen, dass sie nichts von ihrer sozialen Funktion einbüßen, den »Makler der Ware Arbeitskraft« zu spielen. Während sie also gleichzeitig sozialen Protest kanalisieren wollen – und das gilt für die französischen Gewerkschaften ebenso wie für die weitaus schwerfälligeren deutschen –, stecken sie derzeit in der Defensive. Das Resultat ist, dass die Apparate den sozialen Druck »von unten« durch De­monstrationen abzuleiten suchen, die eigentlich Spaziergänge sind und die, sofern sie nicht mit einem Streikaufruf über den Tag hinaus verknüpft sind, ohne Konsequenzen bleiben. Französische Gewerkschaftsführer wollen ihre zu »Aktionstagen« geadelten Straßendemonstrationen oft als Alternative und nicht als Ergänzung zu radikaleren Aktionen in den Betrieben verstanden wissen.

Solange diese Hemmnisse nicht überwunden wer­den, bleibt die soziale Dynamik also blockiert. Auf anderer Ebene lässt sich aber auch nichts von jenen erhoffen, die frustriert von der aufdringlichen Harmlosigkeit bestimmter Gewerkschaftsaktionen die scheinbare Radikalität der Aktionsform über den Inhalt triumphieren lassen. Jene, die etwa an einem Samstag Anfang April in Strasbourg glaubten, das Anzünden von Hotels und Apotheken in Unterklassevierteln bringe irgendetwas, betreiben objektiv das Geschäft ihres Gegners. Denn der Sicherheitsapparat des Staates hat diese blinde Radikalität, die ihre vermeintliche Sprengkraft an der äußeren Erscheinungsform festmacht, längst einkalkuliert.
Ein Ausweg ist möglich, wobei beispielsweise Frankreich – mutmaßlich weitaus eher als Deutsch­land – der Schrittmacher in Europa sein könnte, falls die bestehenden Hemmnisse überwunden werden. Doch wo der Funke für weitreichende Entwicklungen entstehen könnte, lässt sich in der Geschichte selten voraussagen.