Das Wahlprogramm der Grünen

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Auf dem Parteitag am Wochenende haben sich die Grünen ein Wahlprogramm gegeben. Sie wollen »Blockaden lösen« und »Teilhabe verbessern«, »gute Arbeit« schaffen, bei der man sich wohl fühlt, und überhaupt: die Gesellschaft therapieren.

Der Politologe Franz Walter, Old-School-Sozi, Kolumnist von Spiegel-online und als solcher ein bisschen das Enfant Terrible seiner Zunft, weiß vermutlich gar nicht, was für einen müden Gaul er da reitet. Pünktlich zum Parteitag der Grünen präsentierte er seine Abrechnung: »Grüne 2009 – Partei der Selbstbetrüger«. Worin besteht der Selbstbetrug? In einem, so Walter, linken, ja geradezu radikalen Wahlprogramm, das nicht nur keine Chance auf parlamentarische Verwirklichung hat, sondern vor allem an den Bedürfnissen der eigenen Wählerbasis vorbei geht. Die nämlich ist saturiert, etabliert, wohlgenährt. Was wollen diese Leute, die mental schon längst in einer Jamaika-Koalition angekommen sind, mit einer Agenda, die einen Mindestlohn von 7,50 Euro fordert, hohe Spitzensteuersätze, mehr Arbeitslosengeld und überhaupt einen »neuen Gesellschaftsvertrag«, wie das Programm ganz unbescheiden überschrieben ist? Eben, meint Walter, reiner Selbstbetrug.
Sein Gaul ist deshalb so müde, weil sich Linke in den vergangenen 30 Jahren nicht zu schade waren, die Grünen ausgerechnet an ihren Idealen zu blamieren. Entweder wurde lauthals beklagt, dass Programm und Parteiwirklichkeit nicht übereinstimmten (so ist das nun mal mit den Idealen …). Oder, subtiler, es wurden Widersprüche im Programm selbst aufgezeigt und aus ihnen geschlussfolgert, dass es sich gar nicht verwirklichen lassen könne. Die Partei als Ausdruck einer spezifischen kapitalistisch-demokratischen Entwicklung, die soziale Lage ihrer Funktionäre, Aktivisten und Wähler kam gar nicht in den Blick. Oder, wie bei Walter, nur so weit, um die Unvereinbarkeit der realpolitischen Wirklichkeit mit den Idealismen des Programms zu beweisen.

Man kann dieses Spiel sehr lange weitertreiben, nur erfährt man dann immer noch nicht, was es mit dem andauernden Erfolg dieser Partei auf sich hat. Immer dann, wenn Linke triumphiert haben – »Garzweiler II«, Bewilligung von Auslands­einsätzen der Bundeswehr, Angriffskrieg auf Jugos­lawien etc. pp.: Jetzt haben die Grünen ihr Programm verraten! Jetzt sind sie geliefert! –, ist nämlich nichts passiert. Keine Wahlniederlagen, keine nennenswerten Austrittswellen. Obwohl man davon ausgehen muss, dass der harte Kern der Wählerschaft das Programm recht genau zur Kenntnis nimmt.
Aber was macht den harten Kern der Wählerschaft aus? Latzhosenträger und Sandalenfetischisten taugen nicht mehr als Klischeefiguren, schon lange nicht. Grün wählt heute der Anwalt, der auf das Statussymbol Daimler Benz verzichtet; der emanzipierte Vater, der den Kassenwart in der Kindergarten-Initiative gibt; die Sportlehrerin, die an ihrem Gymnasium eine Mädchen-Fußballmannschaft gegründet hat. All die Mediatoren, Potenzialberater, Supervisoren und Trainer, die im Non-Profit-Sektor, aber zunehmend auch in der harten Wirtschaft coachen, beraten und ausgleichen, was das Zeug hält, dürften ihr Kreuzchen für die Grünen setzen.
Das verbindende Merkmal der grünen Wähler ist ein Ultrapragmatismus, und dieser unterscheidet sich von den anderen gesellschaftlichen Pragmatismen. Der konservative Pragmatismus besteht ja darin, brav zur Kirche zu gehen und trotzdem seinen Ehepartner zu betrügen; der sozialdemokratische in zäher gewerkschaftlicher Arbeit, die jede Entscheidung des Firmenvorstands zähneknirschend mitträgt; und der liberale Pragmatismus pfeift fröhlich auf alle Gesellschaftstheorie und ergötzt sich am Selbstlauf der Wirtschaft. Grünen Pragmatismus findet man fast ausschließlich im reproduktiven Bereich der Gesellschaft, dort, wo Hilfe bei den richtigen Konsumentscheidungen nötig ist, wo es um Erziehung und Bildung, um die sozialpsychologische Betreuung der Arbeitskraft geht.
Dieser Pragmatismus spiegelt sich im vermeintlich scheinheilig-linken, am vergangenen Wochenende mit SED-gleichem Einheitswillen beschlossenen Wahlprogramm wider. So beginnt der dritte Punkt, »Die Blockaden lösen – Soziale Teilhabe für alle«, mit folgender Analyse: »Immer mehr Menschen nehmen unsere Gesellschaft als ungerecht und blockiert wahr. Die Geschichten der sozialen Blockaden in unserer Gesellschaft sind zahlreich: Sie handeln von Kindern, die davon träumen, Anwältin oder Mechaniker zu werden, die aber ein Schulsystem erleben, das ihre Chancen eher zerstört als fördert.«
Nun könnte man anmerken, dass es generell ein Problem ist, wenn Kinder davon träumen, sich später in die Klassengesellschaft einzuordnen. Dass es weiter ein Problem ist, dass nur ganz bestimmte Kinder davon träumen, später einmal Anwalt zu werden, und wiederum ganz bestimmte davon, Mechaniker zu werden. Man könnte auf das Schulsystem verweisen, dass nicht »eher zerstört als fördert«, sondern sehr präzise die jungen Menschen nach den Erfordernissen des Arbeitsmarktes vorsortiert. Kurzum – was dort im Programm mit einer lauten Wehklage anhebt, ist nichts anderes als das grundsätzliche Einverständnis mit den Verhältnissen. Soweit der Ertrag der Ideologiekritik, der aber nicht besonders überrascht.

Interessanter ist das Weltbild, das sich in dieser Wehklage artikuliert: Unsere Gesellschaft hat ihren Mangel in »Blockaden«; die Lösung besteht in einer Art universalisierter »Teilhabe«. Das sind Phrasen aus dem Sozialpsychologen-, Pädagogen- und Coach-Jargon. Sie zielen auf den Therapeuten, der im vermittelnden Gespräch die Blockaden aufspürt und sie in Workshops und Rollenspielen wegdiskutiert. Bezeichnend auch die praktischen Folgerungen aus diesem Blockadenlösungsprogramm: »Wir wollen im Jahr 100 000 Menschen qualifizieren und weiterbilden« und außerdem »400 000 Stellen im Sozialen Arbeitsmarkt schaffen«. Denn: »Es gibt in unserer Gesellschaft genug zu tun: im Bereich Stadtteilarbeit und der kommunalen Kulturarbeit, bei der ergänzenden Unterstützung älterer Menschen im Haushalt, als Assistenzen und Unterstützung in Kitas und Schulen.«
Ein anderer zentraler Punkt des grünen Wahlprogramms heißt »Anders Wirtschaften«, da wird Arbeit gefordert, »die Menschen als gut empfinden und die fair bezahlt ist«. Vielleicht hätte noch vor zehn Jahren das Maß einer persönlichen Befindlichkeit (»Wie fühlst du dich dabei?«) als Bestandteil einer politischen Forderung allenthalben Gelächter provoziert. Wie gesagt, es fällt leicht, sich über derlei Moralsülze lustig zu machen. Man muss sich aber dabei klar machen, wer eigentlich im Betrieb dafür zuständig ist, dass die Abhängigen und Untergebenen sich »gut« fühlen. Es sind natürlich die Chefs, Manager und Abteilungsleiter, von denen echte Führungsqualitäten verlangt werden. Und es ist der Coach, der »weiche« Unternehmensberater, der dem Chef zu dieser Qualität verhilft.
Abermals spricht das Wahlprogramm direkt zum grünen Klientel, oder besser: es spricht ihm aus der Seele. »Uns ist es nicht egal, unter welchen Bedingungen die Menschen arbeiten müssen. Gemeinsam mit den Gewerkschaften und Unternehmen wollen wir gute Arbeit schaffen, also Arbeit, die den Menschen Zufriedenheit gibt, die sie anspornt, die ihnen Raum lässt für Familie und Privatleben oder Weiterbildung und sie angemessen entlohnt.« Angemessen ist das, was die Leute zufrieden macht, und es macht die Leute zufrieden, wenn Unternehmer und Gewerkschaften zum Konsens finden. Dafür müssen die kommunikativen Rahmenbedingungen entkrustet sein, und zum Entkrusten sind bekanntlich die emsigen Reproduktionsspezialisten, die Subjekte jenes Wahlprogramms, zur Stelle. Die Gesellschaft – ein einziges Projekt.

Scheinheilig und selbstbetrügerisch ist an diesem Wahlprogramm nichts. Es ist im hohen Maße realistisch. Realistisch heißt nicht, dass es mit Verwirklichung rechnet. Umgekehrt! Es ist Ausdruck real existierender Verhältnisse, es gibt das wieder, woran die grüne Klientel ohnehin gerade arbeitet, natürlich in rosaroter Reinform und »visionär« als Forderung verpackt. Aber auch das ist kein Widerspruch zur Realität: Jeder Coach, jeder Pädagoge lässt die Teilnehmer zu Beginn einer Mediation ihre Zielvorstellungen formulieren. Nicht, um die eine zu erreichen und die anderen fallen zu lassen, sondern um die Beteiligten auf den Kompromiss vorzubereiten.
Aus dem Programm der Grünen entnimmt man nicht, wie verkommen das »Projekt« der grünen Partei mittlerweile ist – zu unterkomplex. Es vermittelt vielmehr den aktuellen Stand der Sozialtechnologie, und wie die Schicht der mentalen Dienstleister ihren Platz in der Gesellschaft sieht. Ohne Umstand verstehen sich der alternative Seelenklempner, die Reformpädagogin, die Sozialanwältin und der Wissenschaftler der »Nachhaltigkeit« als Optimierer von Arbeitskraft unter den Bedingungen der Agenda 2010. Heutzutage nennt man das links. Das ist auch eine Auskunft darüber, welche Fortschritte die Kapitalherrschaft ununterbrochen macht.