Der grüne Parteitag

Ringelreihen mit Sozialpädagogen

Auch wenn die Ampel-Koalition die einzige Machtoption der Grünen ist, passt eine Koalition mit der FPD nicht zum grünen Selbstverständnis. Noch versteht sich das sozialtherapeutische Projekt der Grünen als ein linkes.

»Das hat der Parteitag doch gezeigt, der Hauptfeind ist die FDP«, sagt Franz Josef Bayer leise ins Mikrofon vor den jetzt unruhig werdenden 870 Delegierten. Franz Josef Bayer hat lange graue Haa­re und trägt ein Cowboy-Halstuch, und er hat drei Minuten, um die Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen zu überzeugen, den Verfahrensantrag des Bundesvorstands abzulehnen. Der beinhaltet, dass über Franz Josef Bayers Antrag gar nicht erst abgestimmt wird. Weil also jetzt ein An­trag über einen Antrag vorliegt, wird es kompliziert und ein einziges Mal auch etwas hitzig. »Leu­te, bleibt cool!« ruft Winfried Hermann, der dieses Verfahren leitet, vom Präsidium.
Franz Josef Bayer spricht für den Spandauer Kreisverband, der beantragt hatte, dass im grünen Wahlprogramm eine Koalition mit der FDP ausgeschlossen wird. Und der hat damit nicht locker gelassen. Das sorgt ganz zum Schluss des Parteitags für ein wenig Aufregung. Der Antrag der Spandauer ist der einzige zur Koalitionsfrage, der nicht »ausgeräumt« werden konnte, wie Steffi Lemke, die politische Bundesgeschäftsführerin, auf dem Podest des Präsidiums etwas säuerlich erklärt. »Der Ausschluss einer Koalition mit der FDP ist doch nur folgerichtig, wenn man sich ansieht, was hier gelaufen ist«, wiederholt dagegen Franz Josef Bayer, als er von der Rednertribüne kommt.

Damit hat er nicht ganz Unrecht, denn fast sieht es so aus, als wollten viele grüne Delegierte nicht auf der Westerwelle surfen, die mit 14 Prozent durchs Land schwappt. Auch wenn sie der Fernseh-Satiriker Tobias Schlegl dazu mit einer lebensgroßen Westerwelle-Pappfigur einlädt, die Grünen selbst mit nur sieben Prozent vor sich hin dümpeln und sie es ohne FDP kaum in die Regierung schaffen werden. Dass das »Spitzenduo« Jürgen Trittin und Renate Künast versuchte, eine Ampel-Koalition als Präferenz in den »grünen Gesellschaftsvertrag« zu schreiben, und der Parteienforscher Franz Walter den Grünen permanent bescheinigt, sie seien längst eine Partei für sich selbst belügende bessergestellte Postmaterialisten – so etwas ärgert grüne Sozialpädagogen. »Vie­le hier arbeiten im sozialen Bereich«, sagt ein langhaariger Delegierter, »da weiß man doch, was da draußen los ist.«
Dementsprechend hören sie gern Trittins engagierte Schelte der »Profitgier« und des »ungeregelten Gewinnstrebens«, auch wenn man das derzeit in allen Parteien hört – vielleicht mit Aus­nahme der FDP. »Dauerhaft 25 Prozent Rendite zu erzielen – das geht nicht ohne Spekulation und Ausbeutung«, ruft Trittin. »Ein Wirtschafts­system, das auf Ausbeutung aufgebaut ist, wird immer wieder zu solchen Krisen führen.«
Trittin verkündet den »Green New Deal«, der mit großen Lettern die eine Seite der Radrennhalle ziert. Wie auf der anderen Seite des Berliner Velodroms ebenso groß versprochen wird, soll der »1 Million Arbeitsplätze« bringen. »Dabei haben wir sehr konservativ gerechnet!« ruft Trittin. Im Gegensatz zu den »Linken« verspreche man nicht das Blaue vom Himmel. Die Grünen wollen wirtschaftspolitische Kompetenz demonstrieren. Sie loben sich, endlich die alte grüne Unterscheidung zwischen guter Öko-Wirtschaft und schlechter Industrie verabschiedet zu haben, ja mit den Verhältnissen im Reinen zu sein. Die böse Industrie wollen sie durch die Figur des innovativen Mittelstands ersetzt wissen und damit Terrain von der CDU und der FDP besetzen. Aber sozial muss es sein: »Mit Arbeitslosen und innovativen Unternehmern gemeinsam kämpfen!« ruft Trittin in die Halle.

In den ausgelosten Redebeiträgen ist von den »in­novativen Unternehmern« aber wenig die Rede. »Das kann nicht gehen, dass man Menschen in je­den Job zwingt«, sagt eine Delegierte. »Bei der Agenda 2010 sind wir deutlich übers Ziel hinausgeschossen.« Und während Realos, die wohl gerne die Haushaltskonsolidierer der Zukunft wür­den, drohen, »nach der Krise« sei »keine Party angesagt«, fordert der Kreisverband Bonn, den im Programm ohne konkrete Summe versprochenen Mindestlohn zumindest auf 7,50 Euro festzu­setzen. Es dürfe nicht passieren, dass die Mindestlohnkommision, wie sie der Programmentwurf in Anlehnung ans britische Mindestlohnmodell vorsieht, »von C-Gewerkschaften untermi­niert wird«.
Laut hebt die Realo-Abgeordnete Brigitte Pothmer zur Gegenrede an: »Wenn wir den Mindestlohn durchsetzen wollen, brauchen wir dafür Ak­zeptanz!« Akzeptanz bei den Arbeitgebern gewähr­leiste allein das britische Modell, in dem der Min­destlohn von Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelt wird. »Wenn die Linke zehn Euro Mindestlohn verspricht, können die Grünen nicht 7,50 sagen«, ruft Pothmer. »Die Politik soll den Rahmen festlegen, aber nicht die Löhne!«
Handzeichen reichen nicht, um die später im schriftlichen Verfahren ermittelten 305 Stimmen für den 7,50-Euro-Mindestlohn von den 300 Gegenstimmen zu unterscheiden. Ebenso knapp und ebenso gegen den Willen des Bundesvorstands stimmen die Delegierten dafür, bei Hartz-IV-Empfängern nicht mehr das Einkommen des Part­ners anzurechnen. Und dafür, sämtliche Zuzahlungen für Medikamente und die Praxisgebühr abzuschaffen. Renate Künast steht am Samstagabend wenig begeistert neben dem Realo Alex Bonde, dem breitschultrigen Grünen aus Baden-Württemberg mit dem kantigen Kopf. »Das mit dem Mindestlohn hab’ ich mir anders vorgestellt, macht aber nichts«, kommentiert Künast und beißt energisch auf ihr Kaugummi. Dass die Linken zehn Euro und die Grünen 7,50 bieten: »Ist doch egal! Was hab’ ich denn mit der Linken zu tun?«

Der Antrag, Hartz-VI-Empfängern künftig alle Sank­tionen zu ersparen, findet dagegen nicht die Mehrheit der Delegierten. Ein älterer schwäbischer Sozialarbeiter in gestreiftem Poloshirt erzählt von seiner Arbeit mit Langzeitarbeitslosen: »Viele wollen arbeiten, aber es gibt auch welche, die nicht arbeiten wollen und rumhängen und das auch noch lustig finden.« Ganz ohne Sanktionen können sich die grünen Sozialarbeiter die Beglückung ihres Klientels, das wohl kaum ihr Wäh­lerklientel ist, nicht vorstellen.
Wenig Zustimmung findet auch ein Antrag des Attac-Aktivisten Sven Giegold, der erst seit kur­zem bei den Grünen ist und heute die Erhöhung der Erbschaftssteuer fordert, was nicht recht zum unternehmerfreundlichen »Green New Deal« passen mag. »Das ist schon schade«, sagt Giegold nach der verlorenen Abstimmung. Trotzdem sei der Parteitag ein klares Zeichen für die schon länger sichtbare »Linksverschiebung der Grünen«. Die liegt seiner Meinung nach nicht etwa daran, dass die Grünen in der Opposition sind und da mit großer Sicherheit auch bleiben werden. Sondern an »gesellschaftlichen Veränderungen«: »Die Frage der sozialen Gerechtigkeit steht wieder im Vordergrund.«
Auch wenn die FDP in der Krise floriert, während die Linke vor sich hin vegetiert, weckt die Wirtschaftskrise bei den Grünen linke Reflexe – Kalkül hin oder her. Max Löffler, Sprecher der Jungen Grünen, ruft vom Podest: »Wir sind die soziale Par­tei!« Unten stehen derweil einige Junge Grüne in ihren Trainingsjacken und hoffen, dass ihre Par­tei, käme sie denn wieder an die Regierung, »zumindest mutiger und gegen Sozialabbau und Sachzwänge resistenter ist«, als sie es in der Ära Schröder gewesen sei. Die Bundesdelegiertenkon­ferenz 2007 in Nürnberg habe die von Cottbus, auf der Schröders Agenda 2010 abgesegnet wurde, »erfolgreich aufgearbeitet«, sagt Löffler auf dem Podium, als ginge es hier vornehmlich um die grüne Psyche. Die Erhöhung der Hartz-IV-Bezüge auf 420 Euro sei »ein gutes Signal«. Was aus dem Signal werde, sollten es die Grünen tatsächlich in die Regierung schaffen? »Na dann kommen die Sachzwänge«, witzeln die Jungen Grünen unten im Saal.
Für viele Grüne ist die echte Sozialpolitik aber ohnehin die Bildungspolitik. Damit das aber nicht komplett nach CDU klingt, sagt man hier nur selten »Chancengerechtigkeit«. Sondern etwa: »Zugang zur Bildung ist entscheidend für den sozialen Aufstieg.« Derartiges hängt einem nach einer grünen Bundesdelegiertenkonferenz ebenso aus dem Hals wie das ständig wiederholte »liebe Freundinnen und Freunde«. Dass Mi­gran­ten­kinder nicht dümmer sind als andere, sondern dümmer gemacht werden, erfährt man hier, dass die Kinder und Jugendlichen die »VIPs« dieser Gesellschaft sind und dass Bildung so wichtig ist, »weil Arbeitslosigkeit auch in der Seele schmerzt«, wie Brigitte Pothmer so schön sagt. Nach einem Plädoyer für Gesamtschulen und ähnlich radikalen Forderungen ruft Stefan Lange von den Jun­gen Grünen tatsächlich: »Lasst uns die Verhältnisse zum Tanzen bringen!« Ringelreihen mit dem Sonderpädagogen.

An die Macht des guten Zuredens glaubt auch Gast­rednerin Gesine Schwan. »Ganz, ganz toll, was ihr programmatisch da macht«, lobt die Bundespräsidentschaftskandidatin der SPD, die sich auf ihr Amt freut, denn »die Macht des Bundespräsidenten ist eine kulturelle«. »Mit strategischer symbolischer Politik« will sie »zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts« beitragen und »Werte« vorgeben. »Wenn man nicht weiß, wie es materiell weitergeht«, müsse man wenigstens »sonst wissen, wie es weitergehen soll«. Dafür brauchte es Gesine Schwan und die Grünen. Die seien die »einzige Kraft« für eine »gemeinsame Aufarbeitung der Krise«, für eine »Krisenanalyse«, zu der aber auch die Finanzmanager an den »runden Tisch« gehörten – also etwa die FDP, das verdrängte Dritte im Saal?
Angesichts solcher rot-grün-gelber Therapie­drohungen kann man dankbar sein, dass die Idee eines die politischen Lagergrenzen transzen­dierenden krisentherapeutischen Projekts nach diesem Wochenende unwahrscheinlich scheint und nur der gute alte Lagerwahlkampf droht. Wenn der baden-württembergische Abgeordnete Alex Bonde das Ende der »Lagerorientierung« fordert und ruft: »Das ist kein linkes Programm, das ist kein rechtes Programm, das ist ein gutes Programm«, bekommt er dafür von den Delegier­ten wenig Applaus. Noch versteht sich das therapeutische Projekt als ein linkes.
»Wir haben erreicht, was wir wollten«, sagt Sven Giegold, der mit Thilo Hoppe und Gerhard Schick eine rot-rot-grüne Koalition gegen die vom Bundes­vorstand präferierte Ampel-Koalition gestellt hat. »Die Ampel wird nicht erwähnt, Jamaika ist ausgeschlossen, und Rot-rot-grün bleibt eine Option.« Vor allem aber käme es darauf an, dass »man die Überzeugungen nicht an der Koalition ausrichtet«. Da habe man »unter Rot-grün Fehler gemacht.«
Um sich deshalb grüner Überzeugungen zu ver­gewissern, betonen die Delegierten erneut die »Alleinstellungsmerkmale«: Die Grünen sind die Partei des Klimaschutzes, die Partei der sozialen Gerechtigkeit, die Partei der Bürgerrechte und die »Partei der Inhalte«, wie jemand sagt, während fleißige Helfer schon mal die grünen Wink-Elemente verteilen. Damit sollen die Delegierten optisch ihre Einheit demonstrieren, auch wenn über den Antrag der widerspenstigen Spandauer noch nicht entschieden ist.

Doch wie das ausgeht, ist klar. Auch wenn am Ende selbst Künast die FDP angreift und Westerwelle »Ideologieklamauk« vorwirft, werden sich die Grünen keine Absage an die FDP ins Programm schreiben. Weil sich die überwältigende Mehrheit der Grünen doch ein kleines Machtoptiönchen offen halten will, wird der Antrag der Spandauer nicht mehr eigens diskutiert. Die Mehrheit stimmt dem Antrag des Bundesvorstands zu, gleich zur Abstimmung über das Gesamtprogramm zu schrei­ten. Stadionrock kommt aus den Boxen, die Delegierten schwenken ihre Wink-Elemente.
»Normalerweise hätte unser Antrag nochmal diskutiert werden müssen, aber das passte wohl nicht in die Parteitagsregie«, sagt Franz Josef Bayer. Deshalb hatte er jetzt ganz am Schluss nur noch die Wahl, das ganze Programm abzulehnen oder ihm eben zuzustimmen, wie es ist. Er hat wie fast alle zugestimmt. »Ist doch ein gutes Programm. Der Wahlaufruf ist im Laufe der Bundesdelegiertenkonferenz viel besser geworden.« Schwenkte nicht beispielsweise der Realo Alex Bon­de sein Winkelement mit nur mäßigem Elan, wäre die Harmonie perfekt.