Die Geschichte des Grundgesetzes

Verfassungsfragen sind Machtfragen

Trotz all seiner Mängel hat das Grund­gesetz dabei geholfen, aus Untertanen Bürger zu machen. Autoritäre Tendenzen drücken sich heute eher in den Versuchen aus, Grundrechte einzuschränken.

Eine ganze Generation in Westdeutschland lernte das Grundgesetz als eine Art Unterwerfungserklärung kennen. Kaum tauchte einmal ein halbwegs netter Lehrer an der Schule auf, flog er alsbald auch wieder. Er stehe nicht mit beiden Beinen auf dem Boden der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung«, begründeten die staatlichen Schulbehörden den Rauswurf mittels des so genannten Radikalenerlasses von 1972. »Ulrike Mein­hof als Lehrerin oder Andreas Baader als Polizist zu beschäftigen, das geht doch nicht«, sagte der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn (SPD). Die innerstaatliche Kampf­ansage gegen die »Verfassungsfeinde« richtete sich tatsächlich gegen alle, die sich auf ihrem »langen Marsch durch die Institutionen« nicht völlig verbiegen wollten.
Gut 20 Jahre später, am 26. Mai 1993, versuchten Tausende Demonstranten aus eben diesem linken und alternativen Milieu, gegen das sich die Berufsverbote richteten, den Bundestag in Bonn mittels Blockaden und Demonstrationen an einer Änderung des Grundgesetzes zu hindern. »Politisch verfolgte genießen Asylrecht«, hieß es bis dahin im Artikel 16, und dieses wurde im Jahr 1992 von knapp einer halben Million Menschen aus aller Welt in Anspruch genommen. Die schließlich durchgesetzte Verfassungsänderung schaffte das individuelle Recht auf Asyl faktisch mehr oder weniger ab. Seither können die deutschen Behörden an der Grenze jeden abweisen, der aus einem als sicher geltenden Herkunftsland oder einem sicheren Drittland einreist. Nur noch rund 22 000 Menschen gelang es im Jahr 2008, einen Asyl­antrag zu stellen.

Die versuchte Blockade des Bundestags symbolisierte einen Wendepunkt. Jahrzehntelang benutzten die politisch Etablierten das Grundgesetz zur Disziplinierung von oppositionellen Bewegungen und um den Rahmen abzustecken, in dem allenfalls an Veränderungen gedacht werden darf. Doch schon wenige Jahre nach dem Wegfall der Blockkonfrontation und damit der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs stehen die im Grundgesetz verankerten Grundrechte dem politischen Establishment bei der Durchsetzung ihrer Machtpolitik im Weg. Sei es beim Einsatz der Bundeswehr im Ausland wie gegen Serbien 1999, in Afghanistan oder jüngst beim Einsatz gegen die Piraten vor Somalia. Sei es beim Versuch, sich eine Abschussgenehmigung für entführte Flugzeuge ausstellen zu lassen, bei der flächendeckenden Datenspeicherung, bei der ­Online-Durchsuchung oder beim neuen BKA-Gesetz.
Was für einen Wert zum Beispiel das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung darstellt, wird vielen Oppositionellen und Rebellierenden erst bewusst, wenn ein solches Grundrecht zugunsten der staatlichen Gewalt weiter beschnitten oder teilweise abgeschafft werden soll, wie es seit 1998 häufig geschieht – im genannten Fall durch den »großen Lauschangriff«. Gleichzeitig bewirkt dieses politische Handgemenge um die individuellen Grundrechte, dass soziale Bewegungen immer wieder zum Schutz des von Änderung bedrohten Grundgesetzes mit Verfassungsklagen agieren. Im Ergebnis wird damit das Grundgesetz zum gemeinsamen Bezugspunkt.

Solche Konflikte lagen für die 73 Männer und vier Frauen noch in weiter Ferne, die sich im August 1948 wochenlang auf der Insel Herrenchiemsee in Oberbayern zur Ausformulierung des Grundgesetzes aufhielten. Dort arbeiteten sich Konservative wie der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer, bürgerlich-liberale wie der spätere Bundespräsident Theodor Heuss und der Kommunist Max Reimann vor allem an den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und den Fehlern der Weimarer Republik ab. Noch keine vier Jahre vorher hätte die Mehrheit der Deutschen die auf der Insel Zusammengekommenen als »ehemalige Zuchthäusler und KZ-Häftlinge, Volks- und Staatsverräter, politisch Unzuverlässige, Defätisten und andere ›Charakterschweine‹« bezeichnet, schreibt Christian Bommarius in seinem Buch »Das Grundgesetz – eine Biografie«. Deshalb war die Versammlung in keiner Weise repräsentativ. Umgekehrt war das Misstrauen gegenüber den eigenen Mitbürgern so groß, dass über das Grundgesetz nur in den Landesparlamenten abgestimmt werden sollte und alle plebiszitären Elemente verweigert wurden.
Wie wenig man sich in einer »Stunde Null« befand, zeigt sich an der von Brommarius erzählten Anekdote, dass etliche der Stenografen des Parlamentarischen Rats, die am Grundgesetz mitschrieben, schon im Reichstag, aber auch im Führerbunker und an Freislers Volksgerichtshof tätig gewesen waren.
In dem nach langen Diskussionen vorgelegten Grundgesetz brach man mindestens ansatzweise mit einem Prinzip des deutschen Staatsverständnisses: Nicht mehr der Staat als solcher, sondern die »Würde des Menschen« steht zumindest den Buchstaben nach im Mittelpunkt. Selbst gemessen an der Verfassung der Weimarer Republik war der Grundrechtskatalog sensationell, zum ersten Mal wurden für jedermann einklagbare Rechte gegenüber dem Staat auf der bürgerlich-individuellen Ebene festgelegt. Dass deren reale Durchsetzung jahrzehntelanger sozialer Kämpfe bedurfte, steht auf einem anderen Blatt. Und noch immer ist es eben Ausdruck der »tatsächlichen Machtverhältnisse«, dass zum Beispiel Hartz IV nicht als Verstoß gegen die »Würde des Menschen« gilt.
Im 1949 als Provisorium verabschiedeten Grund­gesetz finden sich viele beachtliche Artikel wie jene zur Abschaffung der Todesstrafe, zum uneingeschränkte Recht auf Asyl und zur Durchsetzung eines förderalen Prinzips, um durch ein System von »checks and balances« einen neuen Zentralstaat zu verhindern. Dies geht soweit, dass die Polizei in Deutschland noch immer Ländersache ist, damit im Falle eines faschistischen Putsches genügend unabhängige bewaffnete Kräfte zur Verfügung stünden.
In der Wahrnehmung vieler Linker diente das Grundgesetz in Westdeutschland vor allem dem Schutz des bürgerlichen Eigentums. Wie offen das Grundgesetz aber in dieser Frage ist, zeigte sich in den vorigen Wochen. Zur Rettung des bürgerlichen Bankensystems sind bei Bedarf sehr wohl Verstaatlichungen möglich. In der Vergangenheit schien es sogar einmal für kurze Zeit so, als könnten soziale und materielle Grundrechte wie das Recht auf Arbeit oder auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit in die Verfassung aufgenommen werden, als im Frühjahr 1990 der Runde Tisch der DDR einen neuen Verfassungsentwurf präsentierte. Doch wie vieles andere erledigten sich die Vorschläge nach der Wiedervereinigung durch die bruchlose Übernahme des bundes deutschen Modells.

Rückblickend kann man entlang der 60jährigen Geschichte des Grundgesetzes auch beschreiben, wie sich in lang andauernden sozialen Kämpfen im Bereich der individuellen Grundrechte eine Annäherung der gelebten Wirklichkeit an die Buch­staben des Grundgesetzes vollzog: Heute sind Frauen formal gleichberechtigt, (fast) niemand wird mehr wegen seiner Homosexualität verfolgt, es herrscht weitgehende Meinungsfreiheit. Inzwischen kann man mit bunten Haaren und Ring im Ohr in einem Kampfflugzeug der Bundeswehr seine Runden über Afghanistan drehen. Doch noch immer gibt es keinen Anspruch auf ein gesichertes Grundeinkommen, auf eine Wohnung und einen Arbeitsplatz.
So wirken auch die Feiern zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes reichlich bizarr. Zwar wird offiziell die Erfolgsgeschichte gefeiert, der zufolge es innerhalb von zwei Generationen gelang, aus preußischen Untertanen moderne Bürger zu erziehen. Gleichzeitig ist gerade die große Mehrheit der geladenen Gäste dabei, wichtige Bestandteile des Grundgesetzes zu entsorgen. »Die strikte Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten – von den westlichen Siegermächten seinerzeits aus gutem Grund befohlen – wird als Schnee von gestern belächelt«, schreibt der Kritiker Christian Bommarius. Seit Jahren würden das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht vom Gesetzgeber wie eine feindliche Bastion belagert. »Die Kanonaden von Sicherheitsgesetzen aus dem Bundesinnenministerium folgen in immer kürzeren Intervallen, die Breschen werden immer größer«, klagt der Jurist und sucht Verbündete, die dem Grundgesetz zu Hilfe zu eilen. Doch dazu genügt es wohl kaum, wie in der vergangenen Woche geschehen, die dritte große Klage gegen das neue BKA-Gesetz in Karlsruhe einzureichen, solange der entsprechende soziale Druck auf der Straße ausbleibt.