Armut in Deutschland

Arm, aber Ossi

Der Armutsatlas des Paritätischen Wohlfahrtsverbands belegt: Ob eine Person arm ist oder nicht, liegt nicht zuletzt ­daran, aus welcher Region sie kommt.

Was ist der Unterschied zwischen einem Schwaben und einem Ossi? Die Antwort ist keine flache Pointe, sondern sie lautet: 20 Prozent. Während in Vorpommern jeder Vierte (27 Prozent) unter der Armutsgrenze lebt, trifft die Geldnot im Schwarzwald nur jeden Dreizehnten (7,4 Prozent). Regionale Besonderheiten dieser Art illus­triert der Armutsatlas, den der Paritätische Wohlfahrtsverband vorige Woche veröffentlicht hat.
»Der Mensch lebt in der Region, nicht im Durchschnitt«, begründet Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Verbandes, die mit dem Armuts­atlas vorgenommene regionale Aufschlüsselung von Daten aus den Jahren 2005 bis 2007. Damit will er den entscheidenden Unterschied zwischen dem jährlichen Armutsbericht der Bundesregierung und der neuen Publikation des Verbandes hervorheben. Durchschnittswerte verbergen, dass Armut in einigen Regionen bereits zum Massenphänomen geworden ist, weil andere Ge­biete mit einem relativ kleinen Anteil verarmter Bevölkerung das Mittel relativieren. Ohne wirk­same Gegenmaßnahmen sei »die Verödung ganzer Land­striche nicht mehr aufzuhalten«, schlie­ßt Schneider daraus, dass die ostdeutschen Bundesländer im Armutsatlas tiefrot ­eingefärbt sind.

Der Armutsatlas teilt Deutschland grob in drei Regionen. In den südlichen Bundesländern Bayern, Baden-Württemberg und Hessen leidet mit Quoten zwischen zehn und zwölf Prozent der kleinste Bevölkerungsanteil materielle Not, im Osten mit 19 bis 24 Prozent pro Bundesland der größte. Vom Saarland bis Niedersachsen sind zwischen 14 und 17 Prozent der Bevölkerung arm. Bremen sticht mit 19,1 Prozent als ärmstes westliches Bundesland hervor, während sich Schleswig-Holstein mit 12,5 Prozent dem relativ reichen Süden annähert.
Tatsächlich verzerrt die Betrachtung der Bundes­länder ebenfalls die Realität, je größer sie sind, desto mehr. Deshalb sollte ein Wirtschaftsflüchtling aus Vorpommern, der sein Glück in Süddeutschland sucht, aufpassen, dass er statt im Schwarzwald nicht etwa in Mannheim strandet – wo er immer noch eine 13prozentige Chance auf Armut hätte.
Den gängigen Statistiken zufolge gilt als arm, wer über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügt. Im Jahr 2007 entsprach das einem Nettoeinkommen von 764 Euro monatlich für eine allein lebende Person, im Jahr 2008 waren es 780 Euro.
Der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes basiert auf Daten des vom Statistischen Bundesamt erhobenen Mikrozensus. Dabei handelt es sich um eine Art Mini-Volkszählung, zu der jährlich ein Prozent aller Haushalte in Deutschland herangezogen werden. Der Bericht der Bundesregierung setzt dagegen auf die Erhebung mit dem Namen European Union Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC), die zu positiveren Ergebnissen kommt. Dagegen kam etwa das Sozio-ökonomische Panel, eine jährliche Befragung von 12 000 Privathaushalten, schon 2008 auf eine Armutsquote von 18,3 Prozent.

Dass überall in Deutschland dieselben Einkommensgrenzen für Armut gelten, macht es schwierig, ein konkretes Bild von der Lebenssituation der Betroffenen zu zeichnen. So kann ein Münchner mit weniger als 780 Euro im Monat nach Abzug der meist immensen Miete nicht mehr als das Allernötigste konsumieren. Auf dem Land und in Vororten äußert sich die Armut häufig weniger in ihren sichtbaren Erscheinungsformen wie Mangelernährung und Wohnungslosigkeit, dafür aber in der Ausgrenzung vom kulturellen Leben, also beispielsweise der fehlenden Möglichkeit, einen Ausflug in die nächste Stadt zu unternehmen. Bei der Deutschen Bahn, deren Personal mehrfach in der jüngeren Vergangenheit sogar Minderjährige, die ihr Ticket vergessen hatten, in der Einöde aussetzte, kann jemand, der mangels Geld ohne Fahrschein fährt, kaum auf Nachsicht oder gar Solidarität hoffen.
Wie schon die Reaktionen auf den amtlichen Armutsbericht des vergangenen Jahres gezeigt haben, wird Armut meist nur dann als gesellschaftspolitisches Problem wahrgenommen, wenn Kinder betroffen sind: »Kinder können nichts dafür, wenn ihre Eltern (…) scheitern«, kommentiert die Berliner Zeitung auch den aktuellen Armutsatlas. Daraus spricht die Überzeugung, dass Erwachsene grundsätzlich die Chance hätten, sich aus eigener Kraft nach oben zu arbeiten. Wie am Stammtisch genügt auch im Wirtschaftsteil der Zeitung meist das Beispiel des »faulen Nachbarn« als Beleg dafür, dass individuelles Versagen die Hauptursache für Armut und Arbeitslosigkeit ist. Entsprechend bilden Sanktionen gegen die Betroffenen das wichtigste Gegenmittel.

Die individuelle Anstrengung spielt aber nur eine kleine Rolle, was den sozialen Status angeht. Dem Bewohner einer armen Region nützt selbst brutalstes Hauen und Stechen nichts, wenn es keinen ausreichend bezahlten Job gibt, den er sich erkämpfen könnte. Der Armutsatlas stört das Bild von der vermeintlich selbst verschuldeten Armut immerhin teilweise, indem er die regionale Herkunft als einen entscheidenden Faktor benennt. Weitere äußere Umstände, wie etwa die »soziale Herkunft«, berücksichtigt der Armutsatlas nicht.
Die Sozialpolitiker der Regierungsparteien geben offenbar nicht gerne zu, dass die Einwohner mancher Regionen statistisch gesehen kaum eine andere Chance haben, als in Armut zu leben, und schweigen deshalb lieber zum Armutsatlas. Maßnahmen zur Bekämpfung der Misere haben sie sowieso nicht in petto. Der eigene Armutsbericht aus dem vorigen Jahr blieb schon folgenlos, und die jüngsten Maßnahmen tragen auch nicht zur sozialen Angleichung bei: Von den zehn Milliarden des so genannten zweiten Konjunkturpakets etwa fließt nach Angaben des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ein Drittel in die drei Bundesländer mit der geringsten Armutsquote. Sicher dürfte sein, dass sich die Zahl der Armen mit der Wirtschaftskrise, die der Armutsatlas noch nicht berücksichtigt, erhöht.

Auch die Opposition gibt sich wenig Mühe, die neuen Erkenntnisse zu nutzen. Die FDP, deren Klientel im Durchschnitt nicht sehr arm ist, ohnehin nicht. Die anderen Parteien wiederholen anlässlich der Publikation ihre altbekannten Forderungen, etwa nach der Erhöhung der Hartz-IV-Sätze. Während Markus Kurth von den Grünen in einer Pressemitteilung zum Thema mit fünf knappen Sätzen Routine demonstriert, trumpft Klaus Ernst (»Die Linke«) mit allgemeinen Phrasen über den »entfesselten Finanzkapitalismus« auf. Vorschläge für Maßnahmen, die auf eine soziale Gleichheit in der Gesellschaft abzielen, tauchen erwartungsgemäß nicht auf. Anscheinend haben alle Parteien nun mehr oder weniger hingenommen, dass manche Leute eben arm sind und bleiben.
Immerhin genießen die Armen mit deutschem Pass im Gegensatz zu denen aus Osteuropa und Ländern außerhalb der EU das Recht auf Freizügig­keit. Eine Folge davon lässt sich auf Baustellen und in U-Bahnen in München belauschen, wo sich Sächsisch als inoffizieller Zweitdialekt etabliert hat.