Ohnesorg, Kurras, die Stasi und die Linke

Das Ohnesorg-Theater

Der Mörder Benno Ohnesorgs, Karl-Heinz Kurras, war seit 1955 Stasi-Agent und seit 1964 Mitglied der SED. Die neuen Erkenntnisse haben nach 42 Jahren die Frage aufgeworfen: Muss die Geschichte umgeschrieben werden? Und wenn ja, wessen?
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»Im Januar 1972 schlossen wir uns zur ›Bewegung 2. Juni‹ zusammen. Das war ein Datum, welches alle immer noch verband, Studenten wie Jungproleten. Alle wussten, was der 2. Juni bedeutete. Eine andere Überlegung war dabei für uns genauso wichtig: Dieses Datum wird immer darauf hinweisen, dass sie zuerst geschossen haben.« Ralf Reinders und Ronald Fritsch, ehemalige Mitglieder der »Bewegung 2. Juni«, haben so in einem Interview-Büchlein aus dem Jahr 1995 die Namens­gebung ihrer Gruppe erklärt.
Eines der zentralen Worte dieser Aussage steht jetzt nach der Enttarnung des Ohnesorg-Mörders Karl-Heinz Kurras als Stasi-Agent allerdings in einem etwas anderen Licht da: das Wörtchen »sie«. Sie, die da zuerst geschossen haben, wegen denen man also meinte, zurückschießen zu dürfen, war zumindest in diesem einen Fall ein Mitglied der SED, ein offenbar überzeugter DDR-Anhänger und gut dotierter Stasi-Agent. Tatsächlich war jener Todesschuss am Rande der Demonstration gegen den Schah von Persien für viele spätere Achtundsechziger ein Schlüsselerlebnis, das zentrale Motiv, sich entweder neu für Politik zu interessieren, mit der zunehmenden Militanzbereitschaft der Linken zu sympathisieren oder gar sich selbst den Militanten anzuschließen.
Auch Ralf Reinders erklärt, dass seine »eigentliche Politisierung« mit der Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 begonnen habe: »Nach all den Prügeln und Schlägen hatten wir das Gefühl, dass die Bullen auf uns alle geschossen haben. (…) Ich kenne viele, die an diesem Tag einen Knacks gekriegt haben. Die auf einmal wussten, du musst auf die Straße, du musst Stellung beziehen.« Und so ging es vielen, sehr vielen. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) erlebte eine enorme Eintrittswelle. Tatsächlich hat dieses Ereignis die Gesellschaft erregt, durcheinander- und aufgebracht. Sogar der ansonsten nicht für unüberlegte Sprücheklopferei bekannte Professor Theodor W. Adorno schien das Geschehnis dermaßen zu verwirren, dass er dummes Zeug redete: »Ich habe unmittelbar nach der Ermordung von Ohnesorg meinen Studenten im Soziologischen Seminar gesagt, dass die Studenten heute die Rolle der Juden spielen würden – und ich werde dieses Gefühl nicht los.«

Es ist also nicht ganz und gar abwegig, wenn nun darüber spekuliert wird, ob die Geschichte der 68er-Bewegung anders verlaufen wäre, wenn die Hintergründe über Kurras bekannt gewesen wären. Am Gesamtverlauf der bundesrepublikanischen Geschichte hätte es nichts verändert, denn darin war der 2. Juni trotz aller emotionaler Aufwallung dann doch nur eines unter vielen Ereignissen. Auch folgten noch zahlreiche Tote auf Seiten der Bewegung, die als Märtyrer taugten. Und bis zum Deutschen Herbst 1977 mit der Todes­nacht von Stammheim vergingen noch einmal zehn Jahre. Dennoch: Die Dramaturgie der Dinge wäre mit Sicherheit eine andere gewesen.
Hätte sich die Stadtguerilla »Bewegung 2. Juni« beispielsweise überhaupt diesen Namen gegeben? Norbert »Knofo« Kröcher, einer ihrer Gründer, sagt ja: »Natürlich. Denn da ist zum ersten Mal in unserer jüngeren Geschichte einer von uns von einem durchgegangenen Zivilbullen mit Mordabsicht erschossen worden.« Und in der Tat: Kurras mag ein Agent der DDR und SED-Mitglied gewesen sein. Er war zuerst Polizist, und zwar mit Leib und Seele, ein autoritärer Ordnungsfanatiker und Waffennarr – und vor allem: ein Polizist des westdeutschen Staates, der wiederum an jenem Tag eine Polizeitaktik (Operation »Füchse jagen«) ausgegeben hatte, die voll und ganz auf Eskalation ausgerichtet war. Organisiert von einem Polizeiführer, der »im Zweiten Weltkrieg bei der ›Partisanenbekämpfung‹ in der Ukraine seinen Beitrag zum Holocaust geleistet hatte« (Der Spiegel). Die Demonstration wollte man in einer »Leberwursttaktik« auseinandertreiben, die Geheimdienst-Mitarbeiter des Schahs ließ man ungestört mit Holzlatten um sich schlagen, die Polizei knüppelte, was das Zeug hielt. Bei der Obduktion Ohne­sorgs wurden 13 große Blutergüsse festgestellt, sein Rücken war voller Striemen. Nicht nur der Tod Ohnesorgs, sondern der gesamte Polizeieinsatz an diesem Tag war ein politischer Skandal.
Daran würde sich nicht einmal dann etwas ändern, wenn nun auch noch bekannt werden würde, dass Kurras von der Stasi zu diesem Todesschuss animiert worden wäre, als eine Art agent provocateur, wie es Stefan Aust in der FAZ nahelegte. Das ist im Moment eine reine Verschwörungstheorie, für die es keinerlei Indizien gibt – es spricht sogar das meiste dagegen, allerdings: unvorstellbar ist es nicht mehr, schon gar nicht, seitdem man weiß, dass die Stasi Kurras sogar Waffen beschaffte.
Für spätere Guerilleros wie »Knofo« Kröcher hätte ziemlich sicher auch dies nichts verändert. Er gehörte wie viele damals zu jenem anarchisch antiautoritären Teil der Bewegung, dem der DDR-Staat nicht einen Zentimeter näher stand als der BRD-Staat. Der Jungle World sagte Kröcher: »Ich möchte nicht wissen, wie viele der Polizisten, denen ich damals die Fresse poliert habe, oder die mir die Fresse poliert haben, für die Stasi gespitzelt haben. Ganz zu schweigen von den Leuten auf meiner Seite der Barrikade, die für die Firma angeschafft haben. Das MfS war nun mal ein tüchtiger deutscher Arbeitgeber.« Ein großer Teil der Achtundsechziger war viel mehr von einer radikalen Ablehnung aller Autorität bzw. von Flower-Power, Love and Peace und Haschrebellentum geprägt als von Marx und Mao. Für den Sozialismus der DDR war jener Teil nicht empfänglich. Doch es gab auch – gerade in Führungspositionen der Bewegung – viele, die den autoritären, den parteikommunistischen Weg einschlugen – und sich im SDS durchsetzten. »Wenn die Stasi-Verwicklungen von Kurras gleich bekannt geworden wären, hätte sich höchstens der Anarchoflügel innerhalb der radikalen Linken durchgesetzt«, gab Michael »Bommi« Baumann am Montag in der taz zu Protokoll. Aber was heißt hier »höchstens«? Durchaus möglich, dass genau dies einen großen Unterschied gemacht hätte.

Wären zum Beispiel die Kontakte der »Bewegung 2. Juni« und später der RAF zur Stasi überhaupt zustande gekommen? »Das muss man die notorischen Stasisten, wie Inge Viett, Till Meyer, Bommi Baumann und wie sie alle heißen, fragen«, verweist Kröcher auf seine ehemaligen Genossen. Und ergänzt: »Wir, das heißt mein Umfeld und ich, haben solche Kontakte gemieden wie die Pest.« Die angesprochene Inge Viett nicht. Im Gegenteil. Sie war es, die Ende der Siebziger die ersten Kontakte der »Bewegung 2. Juni« mit dem MfS herstellte und diese, nachdem sie 1980 zur RAF gewechselt war, dorthin mitnahm. Bereits 1978 konnten Mitglieder der »Bewegung 2. Juni« nach der Befreiung Till Meyers aus dem Gefängnis in Berlin-Moabit durch die DDR fliehen. Dabei kam es zu ersten »offiziellen« Gesprächen zwischen den West-Guerilleros und dem MfS. Die RAF-Stasi-Connection hatte später nicht nur das DDR-Exil von zehn ehemaligen RAF-Mitgliedern zur Folge, sondern es gab auch organisatorische Unterstützung aus dem Osten. Wichtig war die Verbindung auch für die internationalen Kontakte, vor allem zu den Palästinensern.
Nachdem Inge Viett selbst 1982 in die DDR emigriert war, wurde sie zu einer regierungstreuen DDR-Bürgerin. Stefan Aust polemisierte nun: »Als sie selbst unter neuem Namen in der DDR lebte, spitzelte sie nebenbei als IM für das MfS. So schloss sich der Kreis. Es wäre interessant zu erfahren, welche Entschuldigung sie heute für den Stasi-Kollegen Kurras finden würde, dessen Tat sie vor 42 Jahren mit auf den Weg in den Untergrund gebracht hat.« In diesem Sinne »ehemalige Kollegen« von Kurras waren übrigens auch Bommi Baumann, Till Meyer und weitere aus der »Bewegung 2. Juni« und der RAF, die auf die ein oder andere Wesie als Stasi-Zuträger wirkten.
Aber auch schon vor dem Juni 1967 gab es DDR-Spione in der radikalen Linken im Westen. Das reizt zu einem gar nicht mehr abwegigen Gedankenspiel: Ohnesorg war vermutlich ein zufälliges Opfer, es hätte auch einen x-beliebigen anderen Demonstranten treffen können – womöglich einen Stasi-Agenten. Und man stelle sich vor, das wäre bekannt geworden: Stasi killt Stasi. Was für eine Geschichte hätte sich daraus entwickelt? Dies zeigt, wie viel Zufall in der Politik zuweilen mitspielt.

Der Fall Kurras hat jedoch auch ernster zu nehmende Fragen aufgeworfen. Der Grünen-Politiker und ehemalige RAF-Anwalt Hans-Christian Ströbele etwa fragte, ob womöglich die Stasi bei den beiden Prozessen gegen Kurras, in denen er freigesprochen wurde, die Hände im Spiel hatte. Die Verfahren damals waren eine Farce, Beweismittel waren plötzlich verschwunden – sogar jenes Stück von Ohnesorgs Schädeldecke, in dem sich das Einschussloch befand. Neu fragen könnte man auch, weshalb die Polizeigewerkschaft dem Angeklagten mit satten 60 000 DM Prozesskostenhilfe unter die Arme griff, nachdem Kurras, wie man jetzt weiß, zuvor bei der Stasi um Geld für seine Anwaltskosten nachgefragt hatte. Bisher war nur vom »faschistischen Corpgeist« der Berliner Polizei als Erklärung die Rede. Den gab es sicherlich, doch könnten nicht bei der Polizeigewerkschaft ebenfalls DDR-Agenten zumindest partiell Einfluss gehabt haben?
Der Historiker Gerd Koenen warf eine weitere Frage auf, nämlich ob nicht auch der Täter, der auf Rudi Dutschke schoss, mit der Stasi zu tun gehabt haben könnte. Dutschke selbst habe über diese Möglichkeit nachgedacht, schließlich sei der Schütze, obwohl er DDR-Flüchtling war, »in den sechziger Jahren auffällig oft in der DDR gewesen«. Auch Dutschkes Sohn Marek fordert nun, in den MfS-Akten gezielt nach entsprechenden Hinweisen zu suchen.
Neben solchen zumindest nachdenkenswerten Spekulationen hat der Aktenfund aber selbstverständlich auch zu dummen und dümmsten öffent­lichem Geschwätz geführt. Das bleibt nicht aus, wenn sich quasi sämtliche noch lebenden Aktivisten jener Zeit zu Wort melden. Nur Horst Mahler (damals Anwalt von Ohnesorgs Witwe) war verhindert – der Nazi sitzt im Knast. Der ehemalige SDS-Aktivist und Dutschke-Gefährte Bernd Rabehl hingegen, der auf der Anti-Schah-Demonstration 1967 selbst Augenzeuge des Ereignisses war und heute bekanntlich auch im rechtsextremen Spektrum unterwegs ist, gab sich in der Jungen Freiheit wilden Verschwörungstheorien über Kurras hin: »Ich gehe davon aus, dass er CIA-Mann war.« Beweise oder auch nur Indizien für diese abenteuerliche These blieb er schuldig.
Zum Umschreiben der Geschichte braucht es aber nicht nur Fakten, wie Bettina Röhl, Tochter von RAF-Ikone Ulrike Meinhof, bewies. Auf Welt-Online schrieb sie: »Günter Grass bei der SS, Karl-Heinz Kurras bei der Stasi. Was braucht die Republik noch, um die altlinken Mythen und die der Neuen Linken zu dekuvrieren?« Die Antwort auf diese rhetorische Frage, nämlich dass der Holocaust von der KPD angeordnet wurde und Hitler ein Agent Stalins war, lieferte Röhl jedoch nicht mit. Und Carl-Wolfgang Holzapfel von der Vereinigung der Opfer des Stalinismus, kam auf die Idee, den heute 81jährigen Kurras wegen Mordes anzuzeigen, jetzt!, er sammelt Zeugenaussagen.
Selbstverständlich wäre es wünschenswert, käme es zu einem neuen Verfahren – gleichzeitig ist dies alles an Zynismus kaum zu übertreffen. Die Bild-Zeitung, die nach dem Tod Ohnesorgs eins zu eins die Darstellung der Ereignisse von Kurras übernahm, empört sich jetzt 42 Jahre später über das »Stasi-Ferkel« Kurras (»Schwein« traute sich Kommentator Hans-Hermann Tiedje offenbar nicht zu schreiben). Dieselben, die Kurras seinerzeit gegen allen politisch-moralischen und juristischen Anstand verteidigten, schimpfen ihn jetzt einen Verbrecher. Bisher hat die CDU in der Berliner Bezirksverordnetenversammlung von Charlottenburg-Wilmersdorf verhindert, dass der Platz an der Deutschen Oper, wo Ohnesorg erschossen wurde, in »Benno-Ohnesorg-Platz« umbenannt wird. Man darf gespannt sein, wann die CDU nun genau einen solchen Antrag stellen wird.
»Bild schoss mit«, lautete damals eine Parole der Anti-Springer-Kampagne, die in vielerlei Hinsicht zu kritisieren ist, schon allein deshalb, weil andere Medien nicht viel anders berichteten als die Zeitungen Springers. Dennoch hat die Bild unbestreitbar die Stimmung gegen die Studenten angestachelt und einer seriösen Aufklärung des Falles entgegengewirkt. Der Politologe Oskar Negt kommentierte: »Letzten Endes – muss man im Nachhinein sagen – waren Springer-Presse und Stasi in gewisser Weise auf einer Linie.«
Inwieweit die Geschichte der 68er umgeschrieben werden muss, oder neu bewertet, darüber sollte in aller Gelassenheit diskutiert werden. Die Konservativen haben jedenfalls allen Anlass, ihr damaliges Handeln und ihre damaligen Standpunkte zu überdenken. Das sollte man jedoch auch von den gar nicht wenigen ehemaligen Stasi-Zuträgern und -Mitarbeitern und ehemaligen Auslandsspionen des MfS, die heute in der radikalen Linken und auch in der Partei »Die Linke« tätig sind, fordern.