Über das Buch »So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein« von Christoph Schlingensief

Krankheit als soziale Plastik

Christoph Schlingensief ist todkrank und hat ein Buch darüber geschrieben.

Begegnungen mit dem Tod unterscheiden sich immer voneinander und sind sich doch ähnlich. Alle Menschen müssen sterben und jeder geht dabei seinen ganz eigenen Weg. Tödliche Unfälle, plötzliche Herzinfarkte oder Suizide versetzen die Hinterbliebenen in einen Schockzustand. Das Raum-Zeit-Kontinuum löst sich für einen Moment auf, man erlebt Phasen der Derealisierung und irgendwann bewegt man sich mit seinem Wissen um die Leerstelle, die da auf einen wartet, vorsichtig zurück in die fragile Normalität.
Bei potenziell tödlichen Krankheiten verhält sich die Sache anders, hier begeben sich der Kranke, seine Familie und Freunde ab dem Zeitpunkt der Diagnose in einen Kampf ums Überleben, der auch ein langer Abschied werden könn­te. Unsere Gesellschaft separiert die Kranken und Gesunden, das langsame Sterben wird diskret in Institutionen wie Krankenhäusern, Altenheimen und Hospizen verwaltet. Krankheiten erinnern an die eigene Verletzlichkeit und Sterblichkeit. Christoph Schlingensief beschreibt in »So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein« das quälende Warten auf medizinische Untersuchungsergebnisse mit den Worten: »Die Angst ist gelandet.« Sein Tagebuch einer Krebserkrankung ist eine Chronologie der Angst. Sie ist die Konstante, die sich nicht verscheuchen oder verdrängen lässt in der Zeit der Diagnosen, Operationen und Chemotherapien, und sie bleibt auch nach dem Ende der Behandlungen. Das Unheimliche am Krebs ist die Unberechenbarkeit, er kann jederzeit unbemerkt zurückkehren.
Schlingensief trifft die Krankheit mit voller Wucht in einer intensiven, glücklichen Lebensphase. Er ist gerade mit seiner Freundin Aino zusammengezogen und arbeitet mit der ihm ei­genen Form von Enthusiasmus und Energie an einer Braunfels-Operninszenierung, und dann wird er übergangslos aus seinen Umlaufbahnen geschossen. Nach einer kurzen und doch unendlich langen Zeit des Hoffens auf Entwarnung lautet die Diagnose: Lungenkrebs.
Im Januar 2008 beginnt Schlingensief, noch mitten in der medizinischen Warteschleife, damit, seine Eindrücke und aufkommenden Ängs­te in einem permanent wechselnden Tremolo aus Panik, Selbstberuhigungsversuchen und wachsender Verzweiflung in ein Diktaphon zu sprechen und dann in ein Tagebuch zu übertragen. So entsteht ein fast physisch spürbarer Eindruck von Unmittelbarkeit, die Angst greift an.
Man erinnert sich an die wunderbaren Gesprä­che über Opern und Dramen zwischen Alexander Kluge und Schlingensief und hat beinahe das Gefühl, als würden die Sprechrollen getauscht. In Momenten großer Verzweiflung und Erschöpfung kann Schlingensief so eigentümlich leise und schleppend flüstern wie Kluge. Zu Beginn der Aufzeichnungen sieht man noch den Dramatiker Schlingensief, der pathetische Worte und Bilder für sein inneres Chaos findet und Zwiegespräche mit seinen drei »Schutzheiligen« Maria, Jesus und Gott führt. In den Schoß der Kirche wird er nicht zurückfinden, aber am Grab seines Vaters schwört er, dass er ein Opernhaus in Afrika bauen wird, »wenn die Sache gut ausgeht«. Das Afrika-Projekt, bald erweitert um eine Schule, eine Kirche und ein Krankenhaus, entwickelt sich im weiteren Verlauf der Krankheit zu einem Sehnsuchtsort, wo er sich sterbend oder auch lebend sehen wird.
In den Anfangsstadien der Krankheit reagiert Schlingensief, der sich rückblickend selbstironisch als »Skandal- und Kitschnudel« des Kunst­betriebs bezeichnet, mit Versuchen der Entschleunigung. Keine leichte Aufgabe für jemanden, dessen Rastlosigkeit und Schnelligkeit immer das künstlerische Schaffen angetrieben haben. Er muss neu anfangen, seinen Lebenshaushalt verändern, langsam gehen und vor allem ruhig atmen lernen. Schlingensief, der Kunst und Leben nie getrennt hat, möchte raus aus dem öffentlichen »Ramba­zamba«. Er braucht einen Schutzpanzer, die Intensivstation wird zum Sicherheitsraum, in dem er sich nur sehr begrenzt mit dem Mitleid und der Anteilnahme seiner Freunde auseinandersetzen muss. Seine Denkstrukturen verschieben sich, das vorherige Prinzip des Entweder-Oder wird abgelöst von ei­ner Sehnsucht nach dem Alles-Zusammen. Der Wunsch nach Alleinsein wechselt im Sekundentakt mit der Angst vor Einsamkeit. Schlingensiefs Sorge um sich wechselt mit seinen Bemühungen um Optimismus: »Ich will nach vorne schauen. Ich will nach vorne denken.«
Rückblickend hat er seine Grenze bei der Parsifal-Inszenierung in Bayreuth überschritten.Seine Zukunftspläne, der Abschied von Wagners »Todesmusik« und den Strukturen der Opernwelt und eine Neupositionierung als bildender Künstler, werden jäh unterbrochen. Mit der bedrohlichen Perspektive einer Durchtrennung des Stimmnervs und der Möglichkeit einer Metastasenbildung im Gehirn setzen lähmende Müdigkeit und Verzweiflung ein. Selbstmordbilder entstehen, in Gedanken bastelt er Wohnzim­mer-Guillotinen, vergiftet sich in Afrika, stürzt von Hochhaustürmen. Das Horror-Szenario bleibt aus, trotzdem fehlt ein Lungenflügel und Teile des Zwerchfells wurden mit Goretex ersetzt.
Die Selbstmordgedanken kehren immer wieder zurück und zu den Schutzheiligen gesellt sich Joseph Beuys. Mit dieser Figur entwickelt Schlingensief das Konzept seines Tagebuchs, einer Kampfschrift »für die Autonomie des Kran­ken und gegen die Sprachlosigkeit des Sterbens«. Es geht um den Versuch, Krankheit als »soziale Plastik« zu verstehen und den Krankenbegriff zu erweitern. Schlingensief sucht nach einer Sprache, mit der das Leiden verhandelt werden kann, er will die »Währung Leid« in die gesundheits- und schönheitsfixierte Gesellschaft zurückführen. Seine Vorstellungen über Freiheit und Autonomie des Kranken setzen weit vor dem Eintritt in die Maschinerie des Gesundheits­systems ein, wo er als Patient auf eine Strahlentherapie mit den Worten vorbereitet wird: »Tja, jetzt surfen Sie nicht mehr, jetzt werden Sie gesurft. Eins kann ich Ihnen sagen: Sie werden es hassen! Diese fünf Monate werden hart, Sie werden keine Eigenständigkeit mehr haben. Das müssen Sie ertragen lernen.«
Schlingensief schreibt und spricht gegen den »Selbstüberwachungsstaat« an, der die eigene Verletzbarkeit ausblendet und Krankheit so sehr als Abweichung von der Normalität definiert, dass nur noch Sprachlosigkeit herrscht, wenn es um das Sterben geht. Das Verbindungselement ist hier der Dämon der Angst, der nicht nur über dem Arzt- und Patientenkosmos kreist, sondern immer und überall anwesend ist. Schlin­gensief bewegt sich auf diesem Terrain so vorsichtig und tastend wie das autistische Kind, das er während seines Krankenhausaufenthalts kennen lernt. Weit weg vom gesellschaftlichen »Rummelplatzbetrieb« und seinen Ausschlussmechanismen sucht er nach einem Ort, an dem ein Zusammenspiel zwischen den Gesunden und Kranken und ein Sprechen über das Leiden möglich ist.

Christoph Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein. Kiwi, Köln 2009, 254 Seiten, 18,95 Euro