Shaheen Dill-Riaz im Interview über seinen Film »Korankinder« und das Leben in Koranschulen in Bangladesh

»Eine Todsünde ist Filmen nicht«

Shaheen Dill-Riaz wurde 1969 in Dhaka, Bangladesch, geboren. Er war Mitorganisa­tor des International Short Film Festival Dhaka und arbeitete als Filmjournalist. Nach einem Studium der Kunstgeschichte an der FU Berlin begann er 1995 ein Kame­ra­­studium an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg. Bekannt wurde er mit dem Do­kumentarfilm »Eisenfresser« über Arbeiter auf einer Werft in Chittagong. Für seinen neuen Film »Korankinder« drehte er in den Schulen, in denen die 6 234 Verse des Koran auswendig gelernt werden, den Madrassas. Sie gelten teils als Kaderschmie­den des islamistischen Terrors. »Korankinder« startet am 4. Juni in den deutschen Kinos.

Ihr Film zeigt das Innenleben von Madrassas, Koranschulen, in Bangladesch. Was passiert in einer solchen Schule, was ist ihr Zweck?

Die Schulen existierten bereits vor der Kolonialzeit. Sie waren für eine Grundausbildung gedacht, Religion spielte dabei immer schon eine Rolle. Das entwickelte sich aber in die Richtung, dass den Schülern weltliche Bildung angeboten wurde oder auch eine Berufsausbildung. Man kann sich das wie in einer christlichen Missionsschule vorstellen. Aber nach der Kolonialzeit gab es auch den Trend, dass sich die Schulen isolierten, sie praktizierten eine orthodoxe Strenge. Das ist eine Form der »Bildung«, die in den letzten 50 Jahren einen starken Zuwachs in der gesamten Region Indien, Pakistan, Bangladesch erlebte. Deren Mission ist: Der Islam ist ein Kulturgut, das mit unseren Kindern wachsen soll.

Worin besteht der Vorteil, wenn man den Koran auswendig kennt?

Das ist eine Tradition, die sehr alt ist. Mündliche Überlieferung geht auf die vorislamische Zeit, die beduinische Kultur zurück. Verse wie auch ihre Rezitation sind sehr wichtig im Islam. Der Prophet Mohammed konnte weder lesen noch schreiben. Als Mohammed die Gottesoffenbarung erlebte, hatte er das Bedürfnis, das aufzubewahren. Rezitation ist eine Kulturtradition, die auch eine individuelle Interpretation zulässt. Man muss sich das vorstellen wie bei einem Opernsän­ger – man kann improvisieren wie man möchte. Darin liegt eine Faszination. Außerdem, so der Glaube, wird man nach dem Tod dafür belohnt. Aber: Wenn du den Koran einmal gelernt hast, darfst du ihn nie wieder vergessen. Eine beängstigende Vorstellung!

Der ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld formulierte 2003 folgende Frage: »Können wir jeden Tag mehr Terroristen festnehmen und töten oder von ihren Taten abhalten, als die Madrassas und die radikalen Geist­lichen rekrutieren, ausbilden und auf uns loslassen?« Sind Madrassas die berüchtigten Terrorfabriken?

Ich sage nicht, dass das stimmt, ich sage nicht, dass das nicht stimmt. Ich beobachte die Schulen, die in Bangladesch existieren, und versuche, im Kontext der Gesellschaft darauf zu blicken. Es kann sein, dass in Pakistan oder sonst wo Verbindungen zwischen den Schulen und dem organisierten Terrorismus bestehen. Wenn man allerdings die Berichte und Analysen von Leuten verfolgt, die die Terroraktivitäten untersuchen, kommt man zu dem Schluss: Die Koranschulen sind ziemlich unge­eignet für so etwas; weil sie sehr arm sind. Andere Bildungseinrichtungen wie z. B. Universitäten haben da »bessere Karten«. Man macht es sich sehr einfach, wenn man sagt: Die Koranschulen sind an allem schuld, wir bombardieren die jetzt ein bisschen, und das Problem »Islam« ist gelöst. Man konnte in den letzten Jahren sehen, wohin das führt. Überlegen Sie mal: Woher kommen die ganzen Waffen?

Sie behaupten, zumindest in einem Fall sei ein Finanzier des Terrors aufgeflogen, dessen Wohnsitz in England lag.

Es gab einen Fall im Februar. Da wurden in einer Koranschule in Bangladesch Waffen und Munition gefunden. Allerdings hatte diese Schule kaum Schüler. Die Eltern wollten nicht, dass ihre Kinder dorthin gehen. Die Schule hatte mit den sons­tigen Koranschulen nicht viel zu tun. Ein Mann wurde verhaftet, unter dem Vorwurf, er habe diese Schule gegründet. Er ist englischer Staatsbürger, ja.

England ist ein wichtiges Thema Ihres Films. Experten aus Bangladesch weisen die Schuld für die gegenwärtige Situation des Bildungswesens in Bangladesch meist der einstigen englischen Besatzung zu. Aber in der gesamten islamischen Welt spielen die Madrassas eine immer wichtigere Rolle. In Bangladesch sind von den etwa 90 000 Schulen, die es gibt, etwa 10 000 Madrassas. Aber auch in Ägypten ist die Zahl der Lehrinstitutionen, die an die is­lamische al-Azhar-Universität angebunden sind, zwischen 1986 und 1996 von 1 855 auf 4 314 gestiegen. In Tansania fördert Saudi-Arabien den Bau neuer Madrassas mit einer Million Dollar pro Jahr. Und in Mali besucht inzwischen jedes vierte Kind im Grundschulalter eine dieser Koranschulen.

Mit dieser Schuldzuweisung macht es sich vor allem der Mittelstand sehr leicht. Dann können seine Vertreter ihre Doppelmoral besser ausleben: Auf der einen Seite kritisieren sie die Madras­sas, wo sie nur können. Auf der anderen Seite schicken sie ihre Kinder dorthin, damit die Familie im Jenseits gut ankommt! Oder sie heuern die Absolventen der Schulen an für religiöse Anlässe, die sie gern der Öffentlichkeit halber feiern. Es stimmt schon, dass ein großer Teil der Be­völkerung Sympathien für sie hat, weil sie in gewisser Weise Sozialeinrichtungen geworden sind, für Kinder, die sonst auf der Straße landen. Man müsste sie daher aber dringend staatlich kontrollieren, wenn nötig korrigieren und die Qua­lität sichern. Nichts dergleichen geschieht.

Im Islam existiert ein Bilderverbot – demnach wäre ein Film besonders frevelhaft. Die von Ihnen gefilmten Männer geben sich aber weitgehend locker – bis auf den Torwächter einer Schule, der mit dem Stuhl auf Sie losgeht. Dann aber erhalten Sie Hilfe. Wie haben Sie Zugang zu den Madrassas bekommen?

Unser Vorhaben wurde gut aufgenommen. Der Vor­fall mit dem Stuhl – das ist wohl eine normale Reaktion auf die Kamera. Die Leute fürchten, ihnen werde die Seele gestohlen. Danach hatte ich ein zweistündiges Gespräch mit dem Madrassa-Leiter. Der hat uns zum Essen eingeladen und war sehr interessiert. Dann habe ich gesagt: Ohne Kamera kann ich nichts machen. Da meinte er: Ich kann nichts mit Kamera machen. Es gibt eben das Bilderverbot. In manchen Islam­strömungen wird das rigide gehandhabt, denn Mohammed hat gesagt: Du sollst Lebewesen nicht abbilden, weil du ihnen das Leben nicht geben kannst. Aber eine Todsünde ist es auch wieder nicht. Woanders wird das nicht so streng gesehen – und es hat doch noch geklappt mit dem Filmen.

Zu Beginn des Films lernen wir etwas über das Anwachsen der Beliebtheit von Pilgerorten in Bangladesch. Aber auch in Deutschland ist man wieder vermehrt auf dem Pilgerpfad unterwegs, etwa auf dem Jakobsweg. Religion scheint weltweit populärer zu werden.

Ich glaube, das Leben der Menschen hat sich in den letzten Jahrzehnten drastisch verändert – das Tempo in den Städten hat enorm zugenommen. Ruhe, die man sonst im Leben hatte, gibt’s nicht mehr. Oder die Möglichkeit des traditionellen Freitagsgebets: Stellen Sie sich mal vor, Sie haben eine Arbeit und möchten gern fünfmal am Tag beten – wie schaffen Sie das? Religiosität ist eine Reaktion auf das hohe Tempo. Für einen Bauern auf dem Feld stellt sich die Frage mit dem fünfmal Beten gar nicht. Der macht eine kurze Pause, das ist kein Problem. Da ist kein Chef, der das kontrolliert. In der Stadt ist das anders. Das Bedürfnis nach Spiritualität ist aber trotzdem da. Also wird die religiöse Praxis überbewertet. Seine eigenen Kinder in eine Koranschule zu ­schicken, ist sozusagen der Ausgleich dafür, dass man selbst im Alltag nicht mehr religiös sein kann. Das ist eine Reaktion auf den Druck der Markt­wirtschaft, in diesen Ländern ist Religion die einzige Gegenkraft, die man spürt. Zum Teil mit schlimmen Folgen. Früher gab es das Frei­tags­gebet, so wichtig wurde das aber nicht genom­men – es ging darum, dass man sagen konnte: Arbeit am Freitag, das ist doch wohl das Allerletzte!

Ihr Film zeigt auch die bedrohlichen Elemente der Religion. Sie sagen, man müsse nicht unbedingt Waffen haben. Da wo ein Kind in Psyche und Gedankenwelt eingeschränkt wird, bestehe eine viel größere Gefahr für die Gesellschaft.

Man läuft immer Gefahr, dass bestimmte Leute die Neigung zur Spiritualität ausnutzen. Wenn man das Bedürfnis nach Religion schlecht ausleben kann, geht man dahin, wo es Angebote gibt, z.B zu radikalen Sekten. Religion ist mit Vorsicht zu genießen. Aber dass man sie ins Leben integrieren will, finde ich nicht verwerflich. Man kann ja auch sagen: Ich bin religiös und liberal. Diese Bereitschaft müssen religiöse Menschen haben. Die Gesellschaft muss hier eine Balance finden.