Studieren geht über reinkarnieren

Wenn ein Lama stirbt, begibt er sich umgehend auf die Suche nach einem Säugling oder Kleinkind, in dem er reinkarnieren kann. Mönche legen dem Kind Gegenstände aus dem Besitz des Lama und ähnlich aussehende, neue Gerätschaften vor. Wählt es die alten Gegenstände aus, gilt es als der neue Lama. Dass ein Auserwählter sich der Reinkarnation verweigert, ist nicht vorgesehen. Doch der 24jährige Osel Hita Torres möchte nicht der Lama Tenzin Osel Rinpoche sein, nur weil er im zarten Alter von 14 Monaten nach bestimmten Gegenständen gegrabscht hat und der Dalai Lama in ihm die Reinkarnation erkannte. Zwar hat das Leben als Lama seine Vorzüge, man wird bedient und angebetet. Doch wird erwartet, dass man auf Sex und andere weltliche Vergnügungen verzichtet. Torres zieht ein Studium in Madrid vor. »Ich lebte in einer Lüge«, sagte er. »Sie haben mich von meiner Familie fortgebracht und mich in mittelalterlichen Verhältnissen festgehalten, wo ich sehr gelitten habe.« Die Foundation to Preserve the Mahayana Tradition, deren Lama er sein sollte, hat nun ein Problem, dessen Lösung wohl eifriges Meditieren erfordern wird. Vorerst wurden alle Torres betreffenden Informationen von der Webseite der Foundation entfernt.
Das seit Jahrhunderten praktizierte Verfahren der Suche nach Reinkarnierten verhindert die Entstehung von klerikalen Dynastien. Die Auswahl obliegt dem Zufall oder den Manipulationen der Mönche, in manchen Fällen auch den Wünschen weltlicher Machthaber. Für gewöhnlich reinkarnieren tibetische Lamas nicht außerhalb der Grenzen Tibets. Da die chinesische Regierung mit Hilfe regimetreuer Geistlicher bereits einen ihr passenden Panchen Lama gefunden hat, befürchtet der Dalai Lama wohl ähnliche Manipulationen nach seinem Tod. Eine Globalisierung der Reinkarnation ist daher unerlässlich, um die Unabhängigkeit der Geistlichkeit zu wahren. Pech nur, dass der offenbar als Präzedenzfall auserkorene Torres andere Pläne hat.