Die Berliner »Action Weeks«

Die Theorie zur Aktion

Workshops während der Berliner »Action Weeks« richteten sich gegen verkürzte Gentrifizierungskritik und das schlichte Feind­bild »Yuppie«. Wie so häufig bei dem Thema gingen radikale Kritik und Refor­mis­mus Hand in Hand.

Brennende Autos, eingeschlagene Fensterscheiben, Farbbeutel- und Stinkbombenanschläge – wer sich wie die Boulevardmedien ausschließlich auf das Skanda­lisierbare stürzt, kann wohl am gesamten Programm der derzeit in Berlin stattfindenden »Action Weeks«, die sich gegen Privatisierung, großflächige Sanierung und Gentrifizierung in der Stadt richten, nichts Unterstützenswertes finden. Aber auch wer solche Veranstaltungen danach be­urteilt, was der »kleine Mann« unmittelbar davon hat, wird Emanzipatorisches vermissen.

Tatsächlich liegt nichts Progressives darin, wenn gegen »Yuppies« gehetzt wird, die angeblich an der Kommerzialisierung des urbanen Raums schuld sind. Genau um jener in einem Teil der Sze­ne üblichen »verkürzten Gentrifizierungskritik« (Andrej Holm) etwas entgegenzusetzen, veranstal­tete die Theorie-AG der Kampagne »Wir bleiben alle« während der Aktionswochen vom 6. bis zum 20. Juni Workshops und Vorträge. Mit der Kritik am Kapitalismus sollte der Widerstand unterfüttert und sollten die verschiedenen Aktivitäten gegen die ökonomisch orientierte Stadtpolitik inw einen Zusammenhang gebracht werden.
Für die Workshops am Samstag konnte die Theorie-AG die einschlägige Prominenz gewinnen, darunter Andrej Holm und David Harvey. Die Einführungsveranstaltung war mit an die 60 Interessierten, vom aufstrebenden Jungakademiker über die punkige Hausprojektbewohnerin bis zum älteren Szenehasen, gut besucht. Diese teilten sich dann auf die im Anschluss stattfindenden Workshops in den Räumen des ehemals besetzten Mehringhofs auf. Dort wurde den Koryphäen auf dem Gebiet des urbanen Raums nicht nur andächtig gelauscht, sondern auch rege nachgefragt und diskutiert. Der Stadtsoziologe Holm referierte über Legitimations­mythen und Rechtfertigungsstrategien im Zusammenhang mit städtischen Aufwertungsprozessen. Es ging ihm darum, den Begriff Gentrifizierung genauer zu fassen und seine Verwendung, die stets eine polit-ökonomische Erklärung einschließen müsse, zu verteidigen. Gentrifizierung finde nie ohne eine politische Regulation der Stadtentwicklung statt. Und in der Stadtpolitik do­minierten, spätestens seit der »neoliberalen Wen­de« in den neunziger Jahren, Strategien der Inten­sivierung der Verwertung des urbanen Raums. Häuser werden eben nicht gebaut, damit Menschen darin wohnen, sondern dienen wie alle Wa­ren im Kapitalismus der Kapitalakkumulation.
Für das richtige Verständnis von Gentrifizierung sei zudem wichtig, dass die Verdrängung bestimmter Bevölkerungsgruppen Kern des Problems sei und nicht ein unerwünschter Nebeneffekt. Die »Aufwertung« eines Stadtteils, etwa des Reuterkiezes in Neukölln, werde meist von ei­ner direkten oder indirekten Verdrängung der Bewohnerinnen und Bewohner begleitet, die sich die gestiegenen Mieten nicht mehr leisten können, bzw. von einer »Verdrängung aus dem Lebens­standard«, was bedeutet, dass ein immer größerer Teil des Einkommens für die Miete aufgebracht werden muss. In Neukölln betrage dieser häufig bereits die Hälfte oder mehr des Einkommens.
Auf die Frage eines Workshopteilnehmers hin, ob es dort bald genau so aussehen werde wie in Mitte, entgegnete Holm jedoch, dass Gentrifizierung in Neukölln zwar stattfinde, das Ergebnis aber wohl anders aussehen werde als in den für Aufwertung und Vertreibung berüchtigten Vorzeigebezirken. So werde der Prozess womöglich auf einem anderen Niveau bleiben.
Ziel der Gentrifizierungs­kritik sei es nicht, »ar­me Viertel« um jeden Preis zu erhalten. Kaum jemand hat eine Vorliebe für vermüllte Gehwege, schlecht isolierte Woh­nungen und allgegenwärtiges Elend. Armut ist nicht sexy. Vielmehr gehe es darum, gutes Wohnen für alle zu ermöglichen. Lang­fristig sei, Holm zufolge, die Lösung des Problems nur durch eine »Dekommodifizierung« des Wohnungsmarkts erreichbar, der Herauslösung des Wohnraums aus der Warenform. Womit wir wieder bei der Abschaffung des Kapitalismus wären.

Das Einleitungsreferat zu den Workshops hielt Da­vid Harvey. Der marxistische Geograf, Stadtwissenschaftler und Krisentheoretiker eröffnet mit seinen Begriffen der »raum-zeitlichen Fixierung« (spatio-temporal fix) und der »Akkumulation durch Enteignung« (accumulation by dispossession) eine Möglichkeit, die Gentrifizierung in ihren polit-öko­nomischen Zusammenhängen zu begreifen. Er untersucht den Kapitalismus wesentlich unter dem Aspekt der von ihm beständig aufs Neue pro­duzierten Überakkumulationskrisen, also der Tendenz des Kapitals, sich so erfolgreich zu akku­mulieren, dass gleichzeitig die Möglichkeit einer profitablen Reinvestition der Gewinne untergraben wird. Die erweiterte Reproduktion des Kapitals setzt sich auf diese Weise selbst Schranken.
Eine für die Stadtpolitik wesentliche Dimension von Harveys Begriff der raum-zeitlichen Fixierung liegt in der Tatsache, dass das überakkumulierte Kapital über entsprechende staatliche Anreize in den Bau von Wohnungen und Einrichtungen der Infrastruktur gelenkt wurde. So sei die »Immobilienblase« in den USA entstanden und die Krise für eine Weile aufgeschoben wor­den. Eine Teilnehmerin des Workshops äußerte die Hoffnung, die »Kapitalvernichtung in der gegenwärtigen Krise« könnte den Effekt der »Abschwächung der Aneignung der Stadträume« haben. Doch Harvey widersprach. Obwohl der ge­genwär­tigen Finanzkrise eine Immobilienkrise vor­ausging, seien Investitionen in vermeintlich hartes »Betongold« immer noch attraktiver als Investitionen in Wertpapiere.
Unter »Akkumulation durch Enteignung« versteht Harvey Prozesse, in deren Verlauf sich das Kapital immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens einverleibt – zum Beispiel städtischen Raum –, um sich auf diese Weise relativ sichere Einkommensquellen zu sichern. Gentrifizierung begreift Harvey als ein Moment dieser Ent­wicklung. Von »Enteignung« zu sprechen, wenn vormals staatliche Wohnungen oder Infrastruktureinrichtungen in den Besitz von privaten Investoren übergehen, ist allerdings befremdlich und legt eine nicht unerhebliche Staatsgläubigkeit nahe.

Die politischen Kämpfe der vergangenen 20 Jahre begreift Harvey jedenfalls konsequent als Abwehrkämpfe gegen diese »Enteignungsökonomie«. In der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus, die er als eine Krise begreift, die den Kapitalismus »revolutionieren« werde, müsse es darum gehen, dass die radikale Linke wieder in die Offensive komme. Gelinge dies nicht, so Harvey, werde die Krise nur zur »Konsolidierung der Macht des Finanzkapitals« führen.
Er rief die Anwesenden dazu auf, sich zu überlegen, wie die Gesellschaft organisiert sein sollte, um wieder offensiv für ein besseres Leben und ei­nen brauchbaren Stadtraum kämpfen zu können, und drückte damit gleichzeitig das Hin und Her zwischen radikaler Kritik und alternativem Reformismus aus, das den Workshop prägte und das im »Kampf gegen Gentrifizierung« wohl nicht zu vermeiden ist.
Immerhin wurde in den Diskussionen auch ver­sucht, die eigene Rolle im Gentrifizierungsprozess zu reflektieren. Konsens schien zu sein, dass es nicht nur gemeinsam gegen »Yuppies« gehen dürfe, sondern dass es das Ziel sein müsse, alle Betroffenen einzubeziehen und zu politisieren, um auf verschiedenen Ebenen kämpfen zu können. In diesem Zusammenhang wurden auch vermeintliche »Chaotenaktionen« für sinnvoll er­achtet, wenn sie etwa Investoren von der Verwertung von Grundstücken abschrecken.