Dietmar Bartsch im Gespräch über die Europa-Wahlen, die Krise und die parteiinternen Streitereien

»Unfehlbar ist Lafontaine nicht«

Dietmar Bartsch ist seit 2007 Bundesgeschäftsführer der Partei »Die Linke«. Das Amt bekleidete er bereits zwischen 1997 und 2002 in der PDS. Davor war er sechs Jahre lang Bundesschatzmeister. Der heute 51jährige gilt als enger Vertrauter des Parteivorsitzenden Lothar Bisky und wird den sogenannten Reformern zugerechnet.
Von

Das Ergebnis der Europa-Wahl war für Ihre Partei enttäuschend. Haben Sie die Gründe schon analysiert?

Das Ziel »10 Prozent plus X« war ernst gemeint, und es war auch realistisch. Wir sind dabei zu analysieren, weshalb wir es nicht geschafft haben. Aber 7,5 Prozent bleiben ein Zuwachs. Alles in allem war der 7. Juni kein Misserfolg. Wir hatten heftigen Gegenwind vor der Wahl. Die Parteiaustritte der drei Abgeordneten haben zu einer großen Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit geführt.

Aber auch abgesehen von diesem speziellen Wahltag kann man nicht behaupten, dass die »Linke« von der Krise des Kapitalismus profitiert.

Selbst wenn man SPD und »Die Linke« zusammen­zählt, was ich nur didaktisch mache, ergibt das nur 28 Prozent bei der Europa-Wahl. Das muss uns nachdenklich stimmen. Meines Erachtens ist klar, dass in den folgenden Wahlkämpfen die Neoliberalen in CDU/CSU und FDP unsere Hauptgegner sind. Herr zu Guttenberg gibt vor, was die Politik nach den Bundestagswahlen im September ausmachen könnte. Wir müssen bei den Menschen sein mit den Themen: Überwindung von Hartz IV, gegen die Rente erst ab 67, gesetzlichen Mindestlohn durchsetzen, Abzug aus Afgha­nistan, solidarische Gesundheitsversorgung. Wenn wir das schaffen können, bin ich zuversichtlich, dass wir schon am 30. August, wenn drei Landtagswahlen und eine Kommunalwahl anstehen, einen Wahlerfolg auswerten werden.

Sie haben die parteiinternen Streitereien mit verantwortlich gemacht für das Ergebnis. Hört man jetzt bis zur Bundestagswahl nur noch Appelle an die Geschlossenheit?

Ich bin für Auseinandersetzung in der Sache. Ei­ne junge Partei wie die »Linke« muss bei konkreten Fragen um den richtigen politischen Weg ringen. Ich finde auch, dass wir das öffentlich tun können. Aber natürlich stellt man in Wahlkämpfen das Gemeinsame voran. In der »Linken« gibt es bei über 90 Prozent der Inhalte überhaupt keinen Dissens. Und dann gibt es eben Punkte, wo wir streiten. Was angesichts der rasanten gesellschaftlichen Entwicklung und der Krise normal ist. Wir sollten bei allem Streit nur nie vergessen, dass die Partei nur Mittel zum Zweck der Gesellschaftsveränderung ist. Wenn es der einen oder dem anderen allerdings nur um den eigenen Arsch geht, dann wird Streit kontraproduktiv.

Wie sähe denn ein produktiver Streit etwa in Sachen Wirtschaftspolitik aus?

Was ist unser Konzept, wenn große Konzerne pleite zu gehen drohen? Muss dann der Staat immer helfen? Ist Belegschaftsbeteiligung der Weg? Oder kann es sogar eine linke Position sein, in der Überproduktion im Kapitalismus ein Unternehmen schlicht krachen zu lassen? Ich bin zwar dafür, dass zuerst an die Beschäftigten gedacht wird, gerade wenn das Management versagt hat. Aber sollen immer andere für das Versagen des Managements bezahlen? Das sind doch wichtige Fragen, die man grundsätzlich und nicht nur am konkreten Fall beantworten muss. Ich denke, dass Belegschaftsbeteiligung ein wichtiger Punkt ist, dass öffentliches Eigentum ein wichtiger Punkt ist, aber wichtig sind nicht nur Eigentumsfragen, sondern sehr wohl auch die soziale und ökologische Effizienz eines Unternehmens. Solche Debatten haben wir in der Partei vergleichsweise wenig geführt. Wir mussten die Partei zügig bilden. Deshalb haben wir in der Tat einige offene Baustellen.

In manchen Punkten, etwa in der Außenpolitik, könnte man auch meinen, es gäbe zwei Parteien.

Wir sind die einzige Partei, die nie Auslandseinsätzen der Bundeswehr und völkerrechtswidrigen Kriegen zugestimmt hat. Wir sagen deutlich, dass die Richtung der deutschen Außenpolitik, die auch bedeutet, dass wir mit 7 000 Soldaten in elf Ländern stehen, für uns völlig inakzeptabel ist. Das ist der Kern. Da sind wir uns auch alle einig. Bei bestimmten Punkten müssen wir streiten, klar. Ist es sinnvoll, die Truppen in Darfur ab­zuziehen und zu sagen: Das war’s? Oder: Sind Uno-mandatierte Einsätze wie in Zypern sinnvoll, ja oder nein? Auch auf diesem Feld sollten wir Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellen. Zu­mal wir nicht so schnell den Außenminister stellen werden und jede Detailfrage beantworten müssen. Die Grundrichtung, und die heißt Friedenspolitik, allerdings, die muss deutlich werden und wird es meiner Meinung nach im Wahlprogramm auch.

Ein Kulminationspunkt des Streits ist die Person Oskar Lafontaine. Viele beklagen, so wie es auch André Brie kürzlich im Spiegel getan hat, dass die Partei nach außen immer mehr von Lafontaine allein repräsentiert wird.

Ohne Oskar Lafontaine hätten wir bei der Europa-Wahl im Westen und bei den Kommunalwahlen in Baden-Württemberg, Rheinland Pfalz und an der Saar wieder tapfer um die ein Prozent gekämpft. Es ist vor allem sein Verdienst, dass das anders ist und dass wir die Chance haben, eine gesamtdeutsche »Linke« zu bilden. Wir können nur dankbar sein, dass es für die Bundestagswahl das Spitzenduo Lafontaine/Gysi geben wird.

Ja, zuweilen staunt man als Außenstehender, wie weit diese Dankbarkeit geht …

Ich sage ganz klar: Oskar Lafontaine ist kein Allein­herrscher und er will auch keiner sein. Selbstverständlich ist es möglich, ihn in jeder Gremiensitzung, in jeder Fraktionssitzung zu kritisieren.

Er ist aber mehr in den Medien anwesend, als er es, wie man hört, in den Parteigremien sein soll.

Wir können zufrieden sein, dass wir neben Gysi jetzt jemanden haben, den die Medien, auch weil sie Quote machen wollen, häufiger einladen und somit die Positionen der »Linken« mehr in die Öffentlichkeit kommen. Dass das alles nicht unproblematisch ist, verstehe ich. Dass jemand wie Oskar, der Kanzlerkandidat und Ministerpräsident war, einen anderen Führungsstil hat, und dass jemandem, der die Erneuerung von der SED zur PDS mitgemacht hat und gewissermaßen eine antithetische Position zur SED eingenommen hat, jetzt vielleicht sagt, dieser Stil gefällt mir nicht, das kann ich verstehen. Aber Lafon­taines Stil ist vor allem zielorientiert, auf Erfolg orientiert – und er hat auch den Erfolg gebracht.

Nicht nur Lafontaines Führungsstil wird kritisiert, sondern auch, dass er mit seinem populistischen Verbalradikalismus die Partei auf Fundamentalopposition trimme. Und dem in der Partei ohnehin virulenten Nationalbolsche­wismus öffnet er Tür und Tor.

Zu dem ersten Vorwurf: Lafontaine tritt als Ministerpräsidentenkandidat im Saarland an, und das ist ernst gemeint. Ministerpräsident wird man nicht mit verbalradikalen Sprüchen, sondern mit Kompetenz. Er hat bewiesen, dass er diese Kompetenz hat. Und zu dem anderen Punkt: Er hat vor langer, langer Zeit einmal von »Fremdarbeitern« gesprochen, das hat er nie wiederholt. Das zeigt, dass es auch bei ihm Veränderungen und eine Sensibilisierung gibt. Unfehlbar ist er nicht, aber das ist kein Politiker. Und dass sich die Medien auf ihn kaprizieren, und jetzt meine ich nicht die Jungle World mit ihrer Kritik, sondern viele andere Medien, hat natürlich auch mit seinem Erfolg zu tun.

Der Einfluss nicht nur Lafontaines, sondern insgesamt der ehemaligen Wasg, also der Wessis in der Partei, ist überproportional groß. Auf Parteitagen stellen die Westverbände die Hälfte der Delegierten. Gleichzeitig verlieren die Ostverbände immer mehr Mitglieder – meist durch das Erreichen ihres natürlichen Lebensendes.

Im Moment haben die Landesverbände in den neu­en Ländern deutlich mehr Mitglieder als die in den alten. Wir wollen, dass die Partei wirklich gesamtdeutsch wird und sich die Zahlen der Mitglieder pro Kopf der Bevölkerung in Ost und West annähern. Dies ist real bislang nur im Saarland geschehen. Mit der Parteigründung der »Linken« sind aber auch im Osten Mitglieder dazugekommen, und wir konnten in einigen Ostländern den Stand fast halten. Das ist schon ein Erfolg für uns. Aber Hauptaufgabe muss natürlich sein, den Trend des Verlustes von Mitgliedern auch im Osten umzukehren. Unser Ziel ist es, das, was wir in den neuen Ländern und an der Saar sind, näm­lich sozialistische Volkspartei, auch in anderen Ländern schaffen.

Das hängt ja auch von der politischen Ausrichtung ab. Im Westen gibt es viele Leute, die aus dubiosen dogmatischen Sekten kommen.

Gregor Gysi hat gesagt, zehn Prozent in der Partei seien Irre, das teile ich ausdrücklich nicht. Denn zehn Prozent wären ja 7 500, und das ist nun wirklich Quatsch. Aber bereits ein Prozent, also 750, kann belastend sein. Gerade die, die sich in der Partei geirrt haben, erreichen hin und wieder ein großes Maß an Öffentlichkeit, wie wir das vor der Landtagswahl in Hessen sehen konnten. Das ist in Parteien nun mal so.

Es sind aber zuletzt eher andere Leute gegangen, nämlich zumindest mit Sylvia-Yvonne Kaufmann eine gestandene Politikerin vom Realo-Flügel. Lässt Sie das kalt?

Ich kann nur für mich sagen, dass ich es bedauere, wenn Leute, mit denen ich so lange zusammengearbeitet habe, die Partei verlassen. Ich neh­me das auch sehr ernst. Und ich werde weiterhin in der Partei dafür kämpfen, dass Positionen, wie sie etwa Sylvia-Yvonne Kaufmann zum Lissabon-Vertrag vertritt, in unserer pluralen Partei ihren Platz haben. Aber auf der anderen Seite sage ich auch, es ist unglaubwürdig, wenn man drei Wochen vor dem Austritt noch für die Europa-Liste kandidiert hat.

In der nächsten Bundestagsfraktion könnte dieser Pluralismus noch größer werden als in der bisherigen. Wenn zum Beispiel Christiane Buchholz von der Trotzkistentruppe Marx 21 und Stefan Liebich, der Vorsitzende des Reformer-Netzwerkes, nebeneinander sitzen müs­sen. Und sogar Sahra Wagenknecht und André Brie könnten es beide in den Bundestag schaffen.

Ja, das wäre in der Tat sehr spannend.

Ist es nicht so, dass jetzt alle wahlkampftaktisch den Mund halten und nach der Bundestagswahl dieses Pulverfass explodiert?

Nein. Dass das Fass explodiert, ist uns schon vor 2005 prognostiziert worden. Da ist der Wunsch der Vater des Gedankens. Ich streite nicht ab, dass wir bestimmte Klärungsprozesse brauchen. Meine Position ist bekannt: Ich will in Deutschland strategisch ein Mitte-Links-Projekt. Da müssen auch wir noch einiges leisten. Und ich rede hier nicht primär vom Regieren. Ein solches Bündnis kann nur aus der Gesellschaft wachsen, oder es wird es nicht geben.