Linke Militanz und linke Schwäche

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Die vermeintlich neue linke Militanz gegen Yuppies und ihre Autos ist weder neu, noch zeugt sie von einer neuen Stärke der radikalen Linken. Sie zeugt vielmehr von ihrer Schwäche.
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Im August 1992 brennt in Rostock-Lichtenhagen ein Flüchtlingswohnheim. Mehrere hundert Rassisten und Neonazis bewerfen aus einer Menge von zeitweise 3 000 applaudierenden Schaulustigen heraus das Gebäude, in dem sich 150 verängstigte Vietnamesen aufhalten, mit Molotowcocktails. Die Polizei fordert erst dann Verstärkung an, als schon ausländische Medien von dem andauernden Krawall berichten. Insgesamt vier Tage dauert das Pogrom – nach Hoyerswerda der nächste Höhepunkt jener nationalistischen und rassistischen Welle, die nach der Wiedervereinigung braun und brutal durch Deutschland, vor allem den Osten, schwappt. Zudem eskalieren in Ostberlin die Auseinandersetzungen zwischen Neonazis und der Hausbesetzerbewegung. Im No­vember wird der 27jährige Antifaschist Silvio Meyer in einem U-Bahnhof von Nazis ermordet.
Man kann also wirklich nicht sagen, für Linke hätte es zu jener Zeit nichts zu tun gegeben. Und in der Tat waren das Pogrom von Rostock und der Tod Silvio Meyers für viele in der autonomen und linken Szene ein einschneidendes Erlebnis, vielleicht ein wenig vergleichbar mit dem Datum 2. Ju­ni 1967 für eine andere Generation. Vielen war schlagartig klar geworden, welch barbarisches und mörderisches Potenzial die nationalistische Nach­wendestimmung in sich barg. Jene Ereignisse waren für viele linke Aktivisten der Anlass, sich fort­an der antirassistischen oder antifaschis­tischen Politik zu verschreiben. Aber nicht für alle.

Andere hatten offenbar gewichtigere Probleme: »Bonzenautos« bzw. »Edelkarossen« etwa, die in den Straßen parkten und die in Berlin in jenen Tagen reihenweise angezündet wurden, und »Schicki-Micki-Restaurants« in Kreuzberg. Anfang Oktober, also nur wenige Wochen nach Rostock, kippen Vermummte einen Kübel stinkender Fäkalien in das Restaurant Auerbach. Zwei Wochen später wird eine Rauchbombe im selben Lokal ge­zündet, 1993 wirft die Gruppe »Klasse gegen Klasse« (KgK) eine Handgranate hinterher. Ein paar Ta­ge später begeht dieselbe Gruppe einen Anschlag auf den italienischen Lebensmittelhändler »Alimentari e Vini« und verschickt an Ladenbesitzer Drohbriefe, in denen es heißt: »Der einzige Platz für Mittelklasse-Schmarotzer ist der zwischen Mündungsfeuer und Einschussloch.«
Aber nicht nur die in der autonomen Szene höchst umstrittene und sich mit breitbeinigem proletarischem Gestus drastisch vom Alternativmilieu abgrenzende Gruppe KgK sorgte sich schwer­punktmäßig um »ihren« Stadtteil, sondern auch die »ganz normale«, damals recht große, vor allem Kreuzberger autonome Szene, die eher von Mittelschichtskindern dominiert war. Militante Grüp­pchen veranstalteten eine »Wagensportliga« und versuchten, sich beim nächtlichen Anzünden von Autos quantitativ zu überbieten. Szene-Barde Yok Quetschenpaua erhielt für Verse wie »Wenn der Bonze noch pennt, sein Auto schon brennt« am Lautsprecherwagen Applaus. Ein großer Teil der autonomen Szene war sogar vornehmlich damit beschäftigt, zu versuchen, die Öffnung der Oberbaumbrücke zwischen Kreuzberg (West-) und Friedrichshain (Ostberlin) zu verhindern. Die Kampagne »Wir bleiben in SO 36« war auch eine Reaktion auf den Hauptstadtbeschluss des Bundestages 1991. Seitdem fürchtete man in einem »Berlin der Bonzen« an den Rand gedrängt zu wer­den, an den Stadtrand.
Nicht ganz zu Unrecht, denn die Mietpreise sind tatsächlich drastisch gestiegen seitdem, und in Kreuzberg eine bezahlbare Wohnung zu finden, wird für einkommensschwache Bürger zunehmend schwieriger. Dass daran die Maultaschenpreise des Auerbach (16,50 Mark) schuld gewesen sein sollen, dürfte sich jedoch kaum nachwei­sen lassen, und die Oberbaumbrücke ist heute die – übrigens ausgesprochen schön restaurierte – Lebensader zwischen zwei Szenebezirken. Das Auerbach war zu jenem Zeitpunkt, als es angegriffen wurde (und in der Folge auch dichtmachte), übrigens so ziemlich das einzige Restaurant im Kreuzberger Stadtteil SO 36 rund um das Schlesische Tor, das als »gehoben« gelten konnte. Das teuerste Essen kostete 30 Mark, das sind 15 Euro.

Ursache für die stattfindende Gen­tri­fi­zie­rung, also die so genannte Aufwertung, womit vor allem eine Verteuerung und eine Privatisierung des öffentlichen Raums gemeint ist, war zumindest in jenem Kiez vielmehr ein ganz besonderer, einzigartiger historischer Umstand, der Mauerfall, der aus dem eingemauerten Randbezirk Kreuzberg, plötzlich einen zentral gelegenen Innenstadtbezirk machte. Schließlich war es vor allem die Ansiedlung von Universal Music und MTV an der Spree und in der Folge der Zuzug all jener – tendenziell kulturlinken – jungen Menschen, die »irgendwas mit Medien« machen, der die Mehr­heitsverhältnisse verschob.
Als die lederbejackten Anwohner der Kreuzberger Wrangelstraße in den Achtzigern und auch noch Anfang der Neunziger, »keine Yuppies in unserem Kiez« wollten, da wirkten in den runtergekommenen Straßen, in denen quasi ausnahmslos Türken, Alkis und Autonome wohn­ten, solche Young Urban Professionals wie Eindringlinge. Inzwischen, oder zumindest perspek­tivisch, stellen jedoch die »Musik- und Fernseh­fuzzies« und die ihnen kulturell Verwandten neben bodenständigen, spießigen türkischen Familien die Mehrheit im Kiez. Wenn jemand von »unserem Kiez« reden kann, dann sind wohl sie es, und wenn dort jemand nicht hineinpasst, dann werden es eines Tages die Autonomen und die Alkis sein. »Mein Block«, »wir« und »unser Kiez« – das sind eben keine Argumente, sondern das Vokabular von Res­sentiments, und die wenden sich am Ende auch gegen jene, die sie früher hegten, um »ihren« Anspruch auf bestimmte Straßenzüge klarzumachen.
Inzwischen geht es bei den autonomen Gentrifizierungsgegnern und Autoanzündern vor allem um den Bezirk Friedrichshain. Im März kulminierte der Protest nach einer Demonstration unter dem Motto »United we stay«, bei der überraschenderweise mehr als 4 000 Teilnehmer gezählt wurden, als am Ende des Umzugs drei ganz normale Cocktailbars in der Simon-Dach-Straße mit Buttersäure angegriffen und die Scheiben Dutzender Autos eingeschlagen wurden. In einem Be­kennerschreiben bezeichneten »Autonome Stink­tiere« dies als eine »Aktion gegen die Gentrifizierung und die damit einhergehende Vertreibung aus unseren Wohnungen«, weshalb man »einige Cocktailtrinker und feine Schnösel aus den Bars vertrieben« habe.
Stringent ist diese Argumentation freilich nicht einmal auf den zweiten Blick, denn bei der McDo­nald’s-Filiale im Kiez, die in der Nacht darauf, mit Steinen und Farbbeuteln beschmissen wurde, kann wohl kaum von einem Yuppie-Treff die Rede sein. Es geht eben nicht nur gegen »Bonzen« und »Yuppies«, also gegen Reiche, sondern gegen so ziemlich alles, was als fremdartig gegenüber der eigenen Subkultur betrachtet bzw. in dieser naiven Sicht als »kapita­listisch« ausgemacht wird. Und das sind neben Yuppie-Bars Feinkosthändler und Boutiquen einerseits, andererseits auch McDonald’s, Aldi, Lidl und Subway, wo der Plebs sich trifft. Übrig bleiben nach dieser Logik wohl nur autonome Volksküchen, die aber eher unter die Rubrik ehrenamtliche Sozialarbeit fallen, und Imbissbuden und Spätverkäufe, in denen nicht selten die Familienangehörigen der Besitzer sieben Tage die Woche ohne die geringste Ent­lohnung arbeiten.

Warum reden wir hier eigentlich die ganze Zeit über Berlin? Man hätte auch über Hamburg reden können zum Beispiel, nicht jedoch über ­Moers, Schwerin und Ochsenfurt. Wir reden deshalb nur über die Hochburgen der Autonomen, weil sie den Kampf um den Kiez dort so vehement führen, wo sie selbst sich etablieren konnten. Dort, wo sie die Etablierten sind, und das sind eben nur we­nige Straßenzüge dieser Welt, benehmen sie sich auch wie Etablierte: Sie wollen ihre Sphäre und die von ihnen aufgebaute eigene exklusive Infrastruk­tur schützen.
Jene Gegenden, in denen eine autonome oder sagen wir passender: antikommerzielle Subkultur – meist in der Folge einer vergangenen Hausbesetzungsbewegung – eine gewisse Hegemonie hat, machen den allergeringsten Teil der Landesfläche aus, sogar die Neonazis sind mit ihren »national befreiten« Zonen im Osten wesentlich weiter. Die Mehrheit der Menschen will eben etwas anderes. Die Mehrheit will lieber ein schönes Auto und ein Einkaufszentrum haben als ein Autonomes Zentrum, und das, obwohl es im AZ eine Offene Siebdruckwerkstatt für alle gibt und am Samstag die No Style Fuckers spielen für nur drei Euro! Auf demokratische Legitimation kann sich die Szene nicht berufen, sie kann nur an Gnade, Mitleid oder den Reiz der Exotik appellieren. Tatsächlich sollte die autonome Subkultur, ähnlich wie beispielsweise die Sorben, einen Min­derheitenschutz beanspruchen. Und wenn heute im Politsprech der Szene hauptsächlich vom Erhalt von »Freiräumen« die Rede ist (Jungle World 15/2008), hat man das Gefühl, die Szene nähert sich diesem Minderheitendenken auch von sich aus immer mehr an. Noch sagt sie »Freiräume«, aber schon meint sie »Reservat«.
Das klingt hämisch? Das sollte es nicht. Denn absurd wäre es zu behaupten, dass die Mehrheits­kultur immer die bessere sei, dass die so genannte Aufwertung eines Stadtteils ihn tatsächlich für die Menschen, die dort wohnen wollen oder auch müssen, lebenswerter macht. Vielmehr ist es wohl so: Es gibt irgendwo auf der Zeitleiste zwischen der Besiedlung und Belebung eines kulturell und sozial verlorenen, toten Viertels durch Punks und Autonome und seiner endgültigen sanierten Übernahme durch MTV-Moderatoren und Webdesigner immer ein paar wirklich gute Jahre. Und wenn Stadtplaner etwas von ihrem Fach verstünden und nicht immer nur die unmittelbare kommerzielle Wertschöpfung ihres Arbeitsgegenstands erwägen müssten, dann würden sie ver­suchen, zumindest hier und da, solche lebendigen, bunten, urbanen, sozial völlig durchmischten Gegenden zu erhalten.
Doch am Ende wird der Einfluss von Stadtplanern und Quartiersmanagern überschätzt. Die derzeit so umstrittene Simon-Dach-Straße in Ber­lin-Friedrichshain ist das beste Beispiel: Aus der Hausbesetzerbewegung entstanden die ersten Kiez­kneipen, sie waren der Startschuss einer Entwicklung hin zur bei Touristen so beliebten Ausgehmeile. Und wenn wir heute über teure Edel-Boutiquen in diesem Kiez reden, dann sind das vor allem Klamottenläden mit Skater-Mode, bei denen sicherheitshalber keine Preisschilder im Schau­fenster zu sehen sind und vor denen 20jährige subkulturelle Rollbrettfahrer mit viel zu großen und viel zu teuren Hosen sitzen und sich über die Gentrifizierung beschweren und über die dro­hende Vertreibung aus jenem Kiez, in den sie vor einem Monat gezogen sind.