Joel Berg im Gespräch über Armut und Hunger in den USA

»Mit der Krise wächst der Hunger«

Man kann einen Missstand erst beseitigen, wenn man zugibt, dass er existiert. Sagt Joel Berg und schildert in seinem Buch »All you can eat – How hungry is America?«, dass Hunger und Armut in den USA zu einem Massenphänomen geworden sind. Im Interview erläutert er die Gründe und schildert Strategien zur Überwindung des Problems

Seit 1999 ist die Zahl der in Armut und in so genannter Nahrungsmittelunsicherheit lebenden Amerikaner gewaltig gestiegen. Was sind die Gründe dafür?

Das liegt an zwei grundlegenden Dingen: an ökonomischen Ursachen und der Regierungspolitik. Zum einen gibt es nicht genug Arbeit, und die Löhne sind zu niedrig. Zum anderen liegt es an bundesweiten Kürzungen innerhalb des Sozialsystems.

Mit diesen Kürzungen wollte man die »Abhängigkeit von Sozialleistungen durch die Würde von Arbeit ersetzen«, wie es New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg im Jahr 2004 ausdrückte.

Wie Sie wissen, habe ich für Bill Clinton gearbeitet. Ich unterstütze daher die Reform des Sozi­alsystems. Ich denke, dass jeder, der arbeiten kann, auch arbeiten sollte. Doch ab dem Jahr 2000 wurden vielen Bedürftigen einfach soziale Leistungen gestrichen, ohne dass sie Arbeit hatten. Das ist das Problem.

Wie sieht Armut und »Nahrungsmittelunsicherheit« genau aus in den USA?

Armut ist relativ. Die Wahrheit ist, dass die meisten Armen in den USA in Entwicklungsländern zur Mittelklasse zählen würden. Es ist also nicht so schlimm wie in Somalia. Auf der anderen Seite gibt es dieses große Ausmaß von Armut, das wir in den USA haben, nicht in Westeuropa – von einigen der dort lebenden Migranten einmal abgesehen. Konkret bedeutet Armut hier also, dass Menschen zwischen Nahrungsmitteln und Miete wählen, dass sie Essen rationieren und dass Eltern sich oft mangelhaft ernähren, damit wenigstens ihre Kinder satt werden.

Aber hungern Amerikaner wirklich? Dem Klischee nach haben Amerikaner eher ein Problem mit Übergewicht.

In der Tat haben wir hier an den Orten, wo die größte Armut herrscht, auch die höchste Rate an Übergewichtigen. In meinem Buch habe ich ein ganzes Kapitel über dieses Problem geschrieben und aufgezeigt, dass Armut mit Übergewicht korreliert. Erstens sind frische und nahrhafte Nahrungsmittel für finanziell Benachteiligte nicht erschwinglich, und zweitens wird die Ernährung schon durch ein logistisches Problem verschlechtert: In den Supermärk­ten der ärmeren Viertel werden wichtige frische Nahrungsmittel nicht einmal geführt.

Welche Auswirkungen hat die derzeitige Wirtschaftskrise?

Natürlich verschlimmert die Wirtschaftskrise die Situation noch. Es gab ja bereits Armut und Hunger, als die ökonomische Situation gut war. Aber mit der Wirtschaftskrise haben wir noch mehr Menschen, die arbeitslos sind, und zwangsläufig mehr Menschen, die hungern. Da­zu kommt, dass die Hilfsorganisationen, die in Notfällen Menschen mit Nahrungsmitteln versorgen, nicht mehr genug Ressourcen haben. Einerseits explodiert die Zahl der Bedürftigen, und andererseits gehen die privaten Spenden zurück. Es ist also ein furchtbarer Teufelskreis.

Gibt es unter Barack Obama wenigstens ­positive Gegenreaktionen?

Ja, er will bis zum Jahr 2015 die Zahl der Kinder, die in den USA Hunger leiden, auf null reduzieren. Und sein erstes großes Projekt, das amerikanische Konjunkturprogramm, beinhaltet zwanzig Milliarden Dollar für Essensmarken. Es ist zwar nicht so viel, wie wir wirklich brauchen. Dennoch ist es eine riesige Summe. Meines Erachtens ist Obama hier auf dem richtigen Weg. Er ist übrigens der erste Präsident, der aus einer Familie kommt, die eine Zeit lang von Essensmarken leben musste.

Also haben wir mit Obama bald den Himmel auf Erden?

Nein, es gibt natürlich sehr konservative Elemente in der amerikanischen Politik. Einer der größten Kämpfe in diesem Jahr wird die Auseinandersetzung um die Gesundheitsreform werden. Dieser Komplex ist in zweifacher Weise ein weiterer Verursacher von Armut: Viele Menschen mit hohen Arztrechnungen haben kein Geld mehr für Essen oder Miete; und Menschen, die sich keine medizinische Behandlung leisten können, haben unbehandelte Krankheiten, die es für sie schwieriger machen, einen Job zu finden, um aus der Armut herauszukommen. Es besteht also kein Zweifel, dass das Gesundheitssystem ein Schlüsselfaktor ist. Übrigens ist es interessant zu wissen, dass selbst die konservativsten europäischen Politiker mit ihren Ansichten zu diesem Thema in den USA immer noch als verhältnismäßig liberal gelten.

Wo sehen Sie ideologische Unterschiede zwischen den USA und Europa im Umgang mit Armut und sozialen Ungleichheiten?

Da sehe ich große Unterschiede: Sieht ein Europäer einen großen Mercedes vorbeifahren, wünscht er sich, dem Auto mit seinem Schlüssel eine dicke Schramme beizubringen. Der Amerikaner hingegen würde alles dafür tun, selbst so ein Auto zu besitzen. Hier noch ein anderes Beispiel: Vor zwei Jahren sah ich einen Mann, der vor meiner Wohnung bettelte. Ich machte ihm Mut, Essensmarken zu beantragen. Doch er antwortete mir, dass er das nicht könne, da sich seine Familie sonst für ihn schämen würde. In Europa würde man viel eher zu einer Regierungsinstitution gehen, um dort um Hilfe zu bitten, als zu seinen Nachbarn oder zu kirchlichen Einrichtungen. In den USA ist es genau umgekehrt.

Spielt bei den Unterschieden auch die stärkere Religiosität und kulturelle Diversität der USA eine Rolle?

Im Vergleich zu dem eher säkularen Europa ist Religion in den USA wesentlich wichtiger. Und dies spielt insofern eine Rolle, als einige Amerikaner gewisse religiöse Botschaften falsch interpretieren: Armut und Hunger werden mit religiösem Bezug zuweilen als akzeptabel und unvermeidlich angesehen. Das Thema der kulturellen Diversität ist etwas heikel. Meines Erachtens ist einer der Gründe, warum die USA so ein schwaches soziales Netz haben, der, dass die meisten Amerikaner glauben, dass fast alle Empfänger staatlicher Unterstützung nicht weiß sind. Es ist übrigens genau das Gegenteil der Fall: Die meisten Empfänger von Hilfsleistungen sind weiß. Ich denke auch, dass die geringe kulturelle Diversität in den skandinavischen Ländern einer der Gründe ist, warum sich dort überhaupt so ein gutes soziales Netz ent­wickelt hat. Die Bereitschaft, seine eigenen Leute zu unterstützen, ist leider größer. Es scheint mir daher auch kein Zufall zu sein, dass die europäischen Länder anfingen, ihre Sozialleistungen zu kürzen, als sie sich ethnisch stärker durchmischten.

Inwieweit fördern Republikaner und konservative Think Tanks diese rassistischen Untertöne innerhalb des Armutsdiskurses?

Nun, es ist eine Weile her, und ich will sehr vorsichtig sein. Nicht jeder Konservative ist ein Ras­sist. Dennoch gab es in den fünfziger und sechziger Jahren viele Republikaner, die Be­für­wor­ter der Rassentrennung waren und eine große Rolle in Anti-Schwarzen-Bewegungen spielten. Aus diesen Bewegungen entwickelte sich dann der moderne Konservatismus. Zum Beispiel war Wil­liam F. Buckley, einer der intellektuellen Väter des modernen Konservatismus, gegen die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die Rassentrennung aufzuheben. Er war faktisch der Meinung, die weiße Rasse sei der schwarzen über­legen. Ob Konservative nun Rassisten sind oder nicht: Fest steht, dass es immer eine Strategie der Konservativen war, rassistische Ressentiments für eigene Ziele zu nutzen. Doch es ist klar, dass sie damit auf der Verliererseite der Geschichte stehen. Wenn Sie einen Beweis brauchen, schauen Sie sich die Wahl von Barack Obama an.

In Ihrem Buch wenden Sie sich strikt da­gegen, dass das Armutsproblem von den in den USA oft favorisierten Wohltätigkeits­organi­sationen gelöst werden kann. Weshalb?

Zunächst muss gesagt werden, dass Wohltätigkeitsorganisationen eine vitale Rolle spielen. Als beispielsweise Alexis de Tocqueville in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts durch Amerika reiste, betonte er in seinen Aufzeichnungen die wichtigen Funktionen, die von diesen Organisationen übernommen werden. Sie können Lücken schließen und regierungsunterstützend innovative Lösungsvorschläge liefern. Wogegen ich mich aber wende, ist die Behauptung, dass sie der Schlüssel zur Lösung des Problems sind. Es gibt 36,2 Millionen Ame­rikaner, die sich nicht genug zu essen kaufen können. Das Hungerproblem allein mit der Hilfe von Wohltätigkeitsorganisationen zu lösen, wäre es so, als wolle man den Grand Ca­nyon mit einem Teelöffel füllen.

Einige Kritiker behaupten sogar, dass diese wohltätigen Organisationen das Problem verschlimmern.

Ja, es gibt Kritiker, die behaupten, dass Wohltätigkeitsorganisationen die Regierung aus der Verantwortung nehmen. Doch wenn diese Organisationen nicht existierten, wären die Verhältnisse noch schlechter. Es ist jedoch problematisch, wenn man der Öffentlichkeit vorgaukelt, das Problem zu lösen, indem man beispielsweise meiner Organisation (New York City Coalition Against Hunger; d.Red.) einen Scheck sendet, anstatt den wohlhabenden Teil unserer Bevölkerung angemessen zu besteuern. Zuweilen vermitteln Wohltätigkeitsorganisationen selbst diesen Eindruck.

Auf der Webseite Ihrer Organisation werben Sie für Essensmarken. Diese gibt es zwar mitt­lerweile in Chipkartenform, die sich optisch kaum von anderen Karten, wie zum Beispiel Kreditkarten, unterscheiden. Doch werden sie längst nicht in allen Supermärk­ten akzeptiert. Warum setzt sich Ihre Organisation nicht für weniger stigmatisierende Maßnahmen ein? Für direkte Geldtransfers zum Beispiel.

Weil ich ein politischer Realist bin. Sie wissen, die USA sind ein sehr konservatives Land. Wir bewerben das Essensmarkensystem erstens, da wir so Hilfe von Landwirten bekommen, und zweitens, da Amerikaner ärmeren Bevölkerungsschichten in der Regel nicht so weit vertrauen, als sie ihnen Geld geben würden. In Deutschland, Frankreich und Großbritannien gibt es keine Essensmarken, da die Sozialhilfe zumindest hoch genug ist, um sich Nahrungsmittel zu kaufen. In den USA haben wir ein anderes politisches Klima. Interessant ist, dass hier die Forderung, den Armen direkt Geld zu geben, eher von Konservativen erhoben wird. Doch wenn man sich anschaut, wie viel Geld sie im Endeffekt zur Verfügung stellen würden, merkt man, dass es bei weitem weniger wäre, als der typische Empfänger von Essensmarken umgerechnet zur Verfügung hat. Es ist also nichts als eine betrügerische Forderung, die das Ziel hat, das Programm zu sabotieren.

Glauben Sie, dass die negativen Entwicklungen der vergangenen Jahre umkehrbar sind und sich eine sozial gerechtere Gesellschaft in den USA überhaupt verwirklichen lässt?

Amerika wird nicht wie Skandinavien sein. Diesem Modell widersprechen einige zentrale Punkte der amerikanischen Wirtschaftstradi­tion. Dennoch hatten selbst extrem rechtslastige Amerikaner, wie Henry Ford, erkannt, dass sie ihren Arbeitern einen ausreichenden Lohn zahlen müssen, damit diese sich Autos kaufen können. Wir müssen zurück zu der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als wir eine breite Mittelschicht aufgebaut haben. Und ich denke, dass das möglich ist.