Der Roman »Etwas Kleines gut versiegeln« von Svealena Kutschke

Stoppeln unterm Make-up

Im Roman von Svealena Kutschke wird Tango queer getanzt.

Wir sollten uns alle ausziehen und nackt auf die Straße laufen.« Dieser dem Buch vor­an­gestellte Satz ist Programm und Warnung zugleich. Um sich auf alles Folgende einlas­sen zu können, muss der Leser erst einmal seine an der deutschen Gegenwartsliteratur der vergangenen Jahre geschulten Lesegewohnheiten ablegen.
Dabei ist die Geschichte, die Svealena Kutschke erzählt, nicht unbedingt neu oder besonders originell: Lisa, 26, bricht ihr Fotografiestudium ab und kehrt Deutschland den Rücken. Ihr Kopf ist angefüllt mit schmerzlichen Erinnerungen, ihr Reisegepäck mit unentwickelten Fotos von Ben »im zerknautschten Kleid über den haarigen Beinen und mit Lippenstift auf den schiefen Zähnen«. Um möglichst weit weg zu kommen von ihrem Liebeskummer, reist sie nach Sidney, wo sie von Marc, dem Ex-Freund ihres Bruders, aufgenommen wird.
Über weite Strecken hängen die beiden zu Hause herum oder gehen auf Parties, rauchen eine Menge Joints und trinken Wodka mit Cranberry- oder Grapefruitsaft. So weit ließe sich die Handlung relativ reibungslos in die Befindlichkeitsprosa derzeit schreibender Twentysomethings einreihen.
In »Etwas Kleines gut versiegeln« jedoch zählt das Wie mehr als das Was. Der Autorin gelingt eine einzigartige Übersetzung von sinnlicher Er­fahrung in Sprache, in der Fühlen und Um-die-Ecke-Denken keine Widersprüche sein müssen. Dem Schreibschulen-Dogma der kurzen, schlich­ten Sätze und gefühlsarmen Erzählweise setzt sie einen überbordenden, poetischen und bildgewaltigen Schreibstil entgegen. »Es war, als wollte der Asphalt mühsam etwas verbergen, als müsste er gleich aufbrechen und all seine Geheimnisse preisgeben.«
Bis ins kleinste Detail folgt die Sprachlogik der Erfahrungs- und Erlebniswelt der überempfäng­lichen Ich-Erzählerin. Dass dabei kein makelloses, solides Handwerk herauskommen kann, bei dem der Leser jede Metapher zufrieden abnickt, ist klar. Einige Bilder bleiben auch beim zweiten Lesen schief. Viele Kombinationen, auch die kulinarischen, sind gewöhnungsbedürftig: Steaks und Pfirsiche, Kekse und viel zu weiche Pflaumen, Schokoladeneis mit Kokosraspeln. Manchmal kann man sich nicht recht entscheiden zwischen lecker und eklig, exakt passend und haarscharf daneben. Maiskolben mit Butter jedenfalls werden vornehmlich nach durchzechten Nächten serviert, denn sie helfen gegen »eine unhaltbare und meist völlig unbegründete Melancholie«. Die hat Lisa wieder voll erwischt, denn sie verliebt sich in den nerdigen Künstler Nick, dessen Lachen klingt »wie das Ge­räusch, das Katzen machen, wenn sie über Dielen laufen«.
Leider hängt Nick noch an seiner Ex. Lisa begibt sich in Wartestellung und führt unterdessen mit Ben – der übrigens auch schon mit Marc geschlafen hat – einen erotisch aufgeladenen Balztanz auf, zu dem unweigerlich Peaches’ »Fuck the Pain Away« als imaginärer Soundtrack im Kopf entsteht. Obwohl es durchaus viel und explizit um Sex geht – Sehnsucht und Begehren gehören schließlich zu den Hauptthemen des Buches –, verzichtet Kutschke dankenswerterweise darauf, mit »Schwänzen« und »Fotzen« um sich zu werfen, wie es bei jungen schreibenden Frauen zurzeit inflationär Mode ist. Bei ihr wird vielmehr die Liebe in all ihren Facetten ans Licht gezerrt: lustvoll, grausam, wunderbar, schmerz­haft, schön. Ein Kunstwerk, das durch und durch geht. Sex wird indes zum Akt der Verzweiflung, denn »all meine Türen schlugen im Wind, und wenn Ben sie jetzt nicht sofort schloss, würde ein Sturm hineinfegen und alles in Trümmer reißen«.
Lisa bekommt weder Ben noch Nick aus dem Kopf. Schließlich reist sie mit Marc und Mora ins australische Outback, wie man das eben so macht zum Zweck der Katharsis. Der Wüstensand färbt Moras weißes Kleid nach und nach rot, und ab dem dritten Tag brechen ihre Bartstoppeln durchs Make-up.
Dass Queerness zwar Teil der Realität, aber noch längst nicht »normal« ist, zeigt wie neben­bei die Szene, in der Moras Tätowierladen demoliert und auf die Wände »Fuck off you fu­cking fag« geschrieben wird.
Ob das Buch zur neuen »queeren Bibel« werden wird, wie es das Berliner Stadtmagazin Siegessäule postuliert, bleibt abzuwarten. Klar ist jedenfalls, dass Kutschke ihre Charaktere nicht zu (sexuell) eindimensionalen Identitäten verkümmern lässt. Die Figuren bestimmen sich durch ihr Tun, ohne sich damit auf ein Sein fest­zulegen. An einer Stelle küsst Lisa Marc (Moment, war der nicht schwul?), und an einer anderen Stelle tritt ihr Nick im rosafarbenen Nacht­hemd ihrer Oma entgegen. Nicht jeder kommt bei so viel Geschlechterverwirrung mit. »Der Dozent war nicht so begeistert von meinen Nym­phenwesen. Sie sahen noch nicht echt genug aus. Aber daran war mir gar nicht gelegen.« Dem Leser ist bis dahin hoffentlich klar geworden, dass es Kutschke nicht um die Konstruktion un­gebrochener, vermeintlich »authentischer« Identitäten geht. »Sie war furchtbar schön«, sagt Lisa über Mora. »Die Brüche, die durch ihre Erscheinung liefen, erinnerten mich an die rissige Erde eines Flussbettes.« Transsexualität ist hier ein weiterer möglicher Fetisch in Ergänzung zum Fetisch »Geschlecht«, der gemeinhin unser Leben und Lieben bestimmt. Eine interessante Idee.
»Sind die Ränder der Wirklichkeit diffus?« zitiert Lisa das Künstlerduo Peter Fischli und Da­vid Weiss, deren Buch »Findet mich das Glück?« sie immer mit sich trägt. Lisa findet Fotos, auf denen sie an Orten in Sidney zu sehen ist, an denen sie nie war. Eine fremde Frau spricht sie mit »Lucy« an. Irgendwann erhält Lisa einen Anruf von dieser »Lucy«, und zwar von ihrem Han­dy aus, das sie vor Wochen in eine Mülltonne geworfen hatte. Das ist definitiv etwas für David-Lynch-Fans. Wobei es hier, so viel sei vorweggenommen, weitaus humorvoller und weniger blutrünstig zugeht als in »Lost Highway«.
»Scheitern die Illusionen an der Härte der Welt?« fragen Fischli/Weiss. Vielleicht. Zum Schluss jedenfalls, als Lisa nach Deutschland zu­rückkehrt, weicht der Sternenhimmel über Nicks Bett der schnöden Zimmerdecke. All dieje­nigen, die von einem guten Buch in erster Linie eine klar strukturierte Handlung, perfekt aufgelöste Erzählstränge und ein Happy End erwarten, werden von »Etwas Kleines gut versiegeln« wahrscheinlich enttäuscht sein. Gleiches gilt für diejenigen, die von einem guten Leben ein Reihenhaus, einen gut bezahlten Job und eine Beziehung mit ein- bis zweimal Sex pro Wo­che erwarten.

Svealena Kutschke: Etwas Kleines gut versiegeln. Wallstein-Verlag, Göttingen 2009, 294 S., 19,90 Euro