Michael Tsokos im Gespräch über einen 90 Jahre alten Leichnam, der der von Rosa Luxemburg sein könnte

»Wir haben fast jeden Tag unbekannte Leichen«

Michael Tsokos sorgte für Schlagzeilen, als er öffentlich Zweifel daran anmeldete, dass die wahre Rosa Luxemburg jemals begraben wurde. Im Gespräch erzählt der Rechtsmediziner der Charité, warum die bisher nicht identifizierte Leiche im Keller seines Instituts die der prominenten Sozialistin sein könnte

Berlin, 15. Januar 1919, 23 Uhr 40: Rosa Luxemburg, Mitgründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), eine der wichtigsten Figuren der europäischen Arbeiterbewegung und des proletarischen Internationalismus, wird von einem Kommando der Garde-Kavallerie-Schützen-Division (GKSD) durch die Halle zum Hauptausgang des Hotel Eden geführt. Wenige Stunden zuvor hatte man sie und Karl Liebknecht aus ihrer Wohnung in das Stabsquartier der GKSD in dem am Kurfürstendamm gelegenen Nobelhotel verschleppt. Rosa Luxemburg wird beim Verlassen des Hotels von einem dort wartenden Soldaten mit einem Gewehrkolben niedergeschlagen und verliert das Bewusstsein. Der Soldat schlägt ein zwei­tes Mal auf die am Boden Liegende ein. Die bereits Schwerverletzte wird auf den Rücksitz eines Autos geworfen, laut Zeugenaussagen »strömte ihr Blut aus Nase und Mund«. Der offene Wagen Marke »Priamus« fährt in Richtung Cornelius-Brücke/Tiergarten. Auf der Höhe Nürnberger Straße springt ein Soldat – laut Zeugenaussagen zweier Mittäter der Leutnant Hermann Souchon – auf das linke Trittbrett des fahrenden Pkw und tötet das Opfer mit einem aufgesetzten Schuss in die linke Schläfe. Den Leichnam werfen die Täter von der Brücke in der Budapester Straße in den Landwehrkanal.
Einem Streife laufenden Kameraden geben sie frei­mütig Auskunft über ihr Tun. Dieser berichtet seinem Vorgesetzten: »Eben ist die Rosa Luxemburg ins Wasser geworfen worden, man kann sie noch schwim­men sehen.« Es ist 23 Uhr 45. Karl Liebknecht ist zu diesem Zeitpunkt schon etwa eine Stunde tot, ebenfalls von einem »Stoßtrupp« der GKSD ermordet. Monate später, am 31. Mai 1919, wird an einer Schleu­se im Landwehrkanal eine Frauenleiche geborgen, anschließend obduziert und am 13. Juni als Rosa Luxemburg auf dem Friedhof in Berlin-Friedrichsfelde beigesetzt.
Eine bewusst schlampige Untersuchung des Tat­hergangs, durch Verdrehungen und Falschaussagen gekennzeichnete Gerichtsprozesse in den zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre lassen den Mordfall Rosa Luxemburg zu einer Justizposse, einem Justizskandal werden. Und gleichzeitig beginnt einer der spannendsten Kriminalfälle der Geschichte. Mord und Leichenfund sind weit mehr als Szenen aus einer der großen Tragödien des 20. Jahrhunderts, denn noch neunzig Jahre nach dem Geschehen werfen die Ereignisse um den Tod Rosa Luxemburgs neue Fragen auf.
Anfang 2007 entdeckt der Direktor des Berliner Instituts für Rechtsmedizin, Professor Dr. Michael Tso­kos, im »Fundus« seines Instituts die mumifizierte Wasserleiche einer Frau. Seit Jahrzehnten in den Flu­ren des Instituts kursierende Gerüchte zur Identität der Leiche sowie weitere Hinweise lassen den Gerichts­mediziner einen unglaublichen Verdacht äußern: Bei der etwa 90 Jahre alten Wasserleiche könnte es sich um den Körper von Rosa Luxemburg handeln. Doch wessen sterblichen Überreste wurden dann auf dem Friedhof Berlin-Friedrichsfelde beigesetzt? Und war es tatsächlich der Körper der berühmten Sozialistin, den man am letzten Maitag des Jahres 1919 tot im Landwehrkanal fand? Waren Obduktion und Identifizierung der Leiche ein weiteres Verbrechen, Bestandteil der Zusammenarbeit von Reichswehr und Staatsanwaltschaft?

Wie entdeckten Sie die unbekannte Leiche?

Ich habe mich Anfang 2007 intensiv mit den ­Ex­ponaten in unserem Institut beschäftigt, nach­dem ich zuvor eine Ausstellung über Gerichtsmedizin initiiert hatte. In diesem Zusammenhang bin ich dann auf die mumifizierte Wasserleiche gestoßen.

Gehören nicht identifizierte Leichen zu Ihrem Arbeitsalltag? Wie sieht bei Ihnen die tägliche Routine aus?

Wir haben eigentlich fast jeden Tag unbekannte Leichen, seien das Wasserleichen, seien das Verstorbene, die nach längerer Liegezeit in ihrer Wohnung aufgefunden werden, oder Knochen, die im Laufe von Bauarbeiten entdeckt werden. Insofern gehören nicht identifizierte Leichen oder Leichenteile zu meinem Arbeitsalltag. Nach einer morgendlichen Vorbesprechung führen wir ab 8 Uhr so ungefähr zwölf bis bis 15 Obduktionen durch. Die tägliche Routine beinhaltet auch das Studium von Krankenakten bei Verdacht auf Kunstfehler, klinische Rechtsmedizin bei Überlebenden, den Opfern von Straftaten, Kindesmisshandlung, Vergewaltigungen und einen 24 Stunden-Bereitschaftsdienst als Gutachter bei Tötungsdelikten.

Welche Indizien führten zu Ihrer Vermutung, dass es sich bei der Leiche um den Körper von Rosa Luxemburg handeln könnte?

Zunächst war da diese mumifizierte Leiche ohne Aservatennummer oder Zugehörigkeit. Es gab auch immer wieder Gerüchte, es könnte sich bei dieser Leiche um Rosa Luxemburg handeln. Ich habe dann den Eintrag »Rosa L.« in den Archivbüchern gefunden. Tatsächlich wurde die später als Rosa L. beerdigte Leiche nicht nach Zos­sen, sondern in die Charité gebracht. Als nächstes habe ich mir das Obduktionsprotokoll aus dem Militärarchiv Freiburg schicken lassen und bin dort auf zahlreiche Widersprüche und Unge­reimtheiten gestoßen. Das Protokoll vom 3. Ju­ni 1919 sowie der Nachtrag vom 13. Juni werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten.
Im Protokoll vom 3. Juni 1919 konnte die Iden­tität nicht festgestellt werden, Gewalteinwirkung durch Gewehrkolben fand man nicht. Am 13. Juni wird die Leiche dann als Rosa Luxemburg identifiziert und plötzlich finden sich auch Hinweise auf Kolbenschläge. Für mich als Gerichtsmediziner sind solche Widersprüche natürlich nicht akzeptabel. So wandte ich mich wieder der nicht identifizierten Leiche zu, suchte nach Ausschluss­kriterien, also nach Hinweisen, dass es sich dabei nicht um Rosa L. handelt, um die unbekannte Leiche auch bestatten lassen zu können. Bei der weiteren Untersuchung habe ich dann nur Indizien gefunden, dass es sich um Rosa Luxemburg handeln könnte, z.B. durch die Radiocarbon-Methode. Die Untersuchung hat ergeben, dass die Frau zur Zeit von Rosa Luxemburg gelebt hat und gestorben ist. Die computertomografische Untersuchung ergab ein Alter von 40 bis 50 Jahren, ein Hüftleiden wurde eben­falls festgestellt. Der Obduktionsbericht von 1919 erwähnt dieses Hüftleiden jedoch nicht.

In der im Anschluss an die Mordnacht durchgeführten Suche fand ein Taucher meh­rere Leichen, u.a. auch Frauenleichen im Land­wehr­­kanal. Wie zuverlässig sind die im Juni 1919 erstellten Obduktionsberichte?

Es gibt zwei Obduktionsberichte, einer vom 3. Juni 1919 über eine unbekannte Wasserleiche. Dort steht kein einziges Mal, dass es sich um Rosa Luxemburg handelt. Diese Frau wird dann am 13. Juni zur Leichensache Rosa L. Erstaunlich ist auch, dass die Obduktionsberichte kein Blut in der Lunge feststellten, obwohl das Opfer schwer am Kopf geschlagen wurde und so mit Sicherheit in die Atemwege geblutet hat. Dass dies nicht der Fall war, wurde damals von den Gerichtsmedizinern festgestellt und dennoch am Ende des Berichtes mit der Todesursache in Zusammenhang gebracht. Hier wurde das Protokoll offensichtlich passend gemacht.

Was könnte der Grund dafür sein, dass der nun aufgefundenen Toten der Kopf, die Hände und die Füße fehlen?

Bei Wasserleichen fehlen häufig die Hände und Füße, durch Fischfraß oder dadurch, dass Leichen sich verhängen und Körperteile abgerissen werden. Die Leiche lag immerhin ein bis zwei Jahre und nicht nur vier Monate im Wasser.

Welchen Vorsprung hat die Gerichtsmedizin heute im Vergleich zum Jahre 1919? Der Körper befand sich zum Zeitpunkt der Obduktion in stark verwestem Zustand. Mathilde Jacob, die Sekretärin Rosa Luxemburgs, identifizier­te die Leiche aufgrund eines goldenen Anhängers und Stoffresten.

Für mich ist das als Gerichtsmediziner keine ein­deutige Identifizierung. Ich kenne das aus meinen Einsätzen in Thailand. Da gab es Bodybags mit Leichen und Bekleidung. Daraus kann man doch nicht schlussfolgern, dass der Tote in dem Bodybag auch die darin befindliche Kleidung getragen hat.

Wäre es dann denkbar, dass die falsche Leiche identifiziert und beerdigt wurde? Im März 1919 waren erneut bewaffnete Kämpfe ausge­brochen, die von Freikorps blutig niedergeschlagen wurden. Der Reichswehrminister Gustav Noske befürchtete neuerliche Unruhen und hatte deshalb angeordnet, die Identität der Leiche feststellen und sie dann verschwin­den zu lassen. Doch es war offensichtlich die falsche Leiche.

Ja, da bin ich mir sogar absolut sicher, dass das der Fall war.

Wie werden Sie vorgehen, um die Identität end­gültig zu klären?

Ich werde nun eine DNA-Analyse durchführen lassen. Das Ganze gestaltet sich sehr schwierig. Wir konnten zwar von der unbekannten Leiche ein DNA-Profil erstellen, aber es gab kein Ver­gleichsmaterial. Nun hätten wir die Leiche anonym bestatten lassen können, aber da die An­gelegenheit eine historische und politische Dimension hat, sehe ich es als meine Aufgabe als Gerichtsmediziner, der Sache nachzugehen. So ging ich an die Öffentlichkeit, um auf diese Weise Vergleichsmaterial für eine DNA-Analyse zu finden. Mittlerweile habe ich in einem Warschauer Archiv das »Herbarium« von Rosa Luxemburg entdeckt. Ich habe dann mit Wattestäb­chen die einzelnen Seiten abgetupft, in der Hoff­nung, dort Spuren zu finden, aus denen sich ein DNA-Profil erstellen lässt.

Ich erinnere mich an die Leichenpräparate der in Internierungslagern in Deutsch-Südwestafrika gestorbenen Herero und Nama. Haben wir aus dem Keller der Charité noch weitere Funde zu erwarten?

Nein, es sind keine weiteren Überraschungen oder Funde aus unserer Sammlung zu erwarten.

Rosa Luxemburg war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des Sozialismus, hat dieser Aspekt für Sie eine Bedeutung?

Nein, es ist für mich in der täglichen Routine auch ohne Bedeutung, ob das ein reicher oder ein armer Mensch war oder ob er prominent war. Für mich geht es nur um die Erhebung von naturwissenschaftlichen Fakten, um die Identifizierung und die Klärung von Todesursachen.

Hatten Sie schon mit ähnlich spektakulären Fällen zu tun?

Nein, nicht mit ähnlichen Fällen, was die historische Dimension angeht.

Die unbekannte Leiche lag in Ihrem Institut – für jedermann sichtbar – in einer Glasvitrine. Sie haben den Körper aus Respekt vor der Toten in den Keller des Instituts bringen lassen. Was denken Sie, wenn Sie einen Toten se­hen, einen jungen Menschen, ein Kind, Opfer eines Verbrechens?

Natürlich habe ich auch meine private Meinung, gerade bei Todesfällen durch Kindesmisshandlung – weil ich auch Vater von drei Kindern bin. Dennoch spielt die private Meinung bei meiner Arbeit natürlich keine Rolle, da dies mich in meiner Objektivität behindern würde.

Wie viele Fälle haben sie als Rechtsmediziner bereits untersucht?

Ich habe 10000 Obduktionen selbst geleitet, ins­gesamt 40000 – 50000 Leichenschauen gemacht und mehrere hundert überlebende Opfer von Gewalt gesehen.

Wie hoch war dabei die Zahl der Tötungsdelikte?

Das kann ich nicht genau sagen. Wir haben in Ber­lin von etwa 2 000 Obduktionen, die wir im Jahr machen, circa 140 Tötungsdelikte. Ich habe auch schon häufig im Rahmen von Obduk­tionen ent­deckt, dass es sich um Tötungsdelikte handelt.

Tod, Leben nach dem Tod, Glaube an Gott? Hat das für Sie eine Bedeutung?

Nein, das hat für mich keine Bedeutung, im Gegenteil, das Leben im Hier und Jetzt hat für mich eine Bedeutung.