Der »Union Summer« der Gewerkschaften

Wo ist denn hier der Ausgang?

Organisieren ist out, Organizing ist in. Beim »Union Summer« diskutierten deutsche Gewerkschaften über Strategien, die sie aus der Krise führen sollen.
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Widersprüchlicher hätte die Szenerie kaum sein können: Die Waschbeton-Fassade des Konferenzzentrums der IG Metall vermittelte ein typisches Ambiente der siebziger Jahre, doch gerade mit der gewerkschaftlichen Arbeit dieser Zeit wollten die gut 300 Teilnehmer nichts zu tun haben, die am vergangenen Wochenende zum »Union Summer« in die Nähe von Wuppertal gekommen waren. »Erneuerung« war das zentrale Thema des Kongresses, zu dem IG Metall, Verdi und IG Bau zum ersten Mal gemeinsam geladen hatten.
Und eine Erneuerung ist auch dringend notwendig, denn die Zeiten, als die Beschäftigten das Formular zum Beitritt zu ihrer Gewerkschaft gleich zusammen mit ihrem Arbeitsvertrag unterzeichneten, sind lange vorbei. Heutzutage ist die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft in vielen Betrieben und Branchen zur Ausnahme geworden. Und angesichts einer wachsenden Anzahl von Unternehmen ohne Mitbestimmungsstrukturen und Millionen von befristet Angestellten, Leiharbeitern, Minijobbern, Scheinselbständigen und sonstigen Prekarisierten wirkten die schwerfälligen Gewerkschaftsapparate über viele Jahre ein wenig ratlos. Geradezu passend erschien da die Frage einer Teilnehmerin, die in dem riesigen Konferenzgebäude herumirrte: »Verdammt, wo ist denn hier der Ausgang?«

Bei der Suche nach neuen Ansätzen scheinen Gewerkschaften nun aber fündig geworden zu sein. »Organizing« heißt eine Strategie systematischer Kampagnenführung, mit der es US-Gewerkschaften unter ungleich schwierigeren Bedingungen gelungen ist, Mitglieder und Durchsetzungskraft zurückzugewinnen. Weg von Sozialpartnerschaft, Stellvertreterpolitik und endlosen Gremiensitzungen lautet die Devise, hin zu einer klaren »Konfliktorientierung« und einer direkten Beteiligung der Beschäftigten, deren Themen in den Mittelpunkt gestellt werden. Einzelne praktische Erfahrungen mit der neuen Strategie konnten die deutschen Gewerkschaften bereits sammeln, so zum Beispiel Verdi im Hamburger Wachschutzgewerbe oder die IG Metall mit ihrer Leiharbeitskampagne, mit der es gelang, etwa 11 000 Leiharbeiter gewerkschaftlich zu organisieren.
Die proklamierte Rückkehr zur früheren Basisnähe und Kampfbereitschaft kommt an, besonders bei den jüngeren Mitgliedern. Während manch andere Gewerkschaftsveranstaltung leicht mit einem Seniorentreffen verwechselt werden könnte, waren beim »Union Summer« die unter 30jährigen klar in der Überzahl, davon nicht wenige aus der Schweiz, Österreich, Großbritannien und den USA.
Wie groß das Bedürfnis nach einer neuen, viel versprechenden Strategie in den Gewerkschaften ist, machte auch das Workshop-Angebot deutlich. Theorie und politische Analyse kamen bis auf wenige Ausnahmen, etwa in einem Workshop zum Finanzmarktkapitalismus, praktisch nicht vor. Stattdessen gab es vor allem aktuelle Kampagnenbeispiele und Einführungen in die Methoden des Organizings. Ein kleines bisschen eigene praktische Erfahrung konnten die Teilnehmer dann am Samstag sammeln, wahlweise bei einer Innenstadtaktion der IG Metall in Wuppertal oder bei Veranstaltungen von Verdi im Rahmen einer aktuellen Organizing-Kampagne an den Universitätskliniken in Hannover und Göttingen.

Interessant ist auch ein Blick auf den Büchertisch am Rand der Veranstaltung: Publikationen zum Thema Organizing haben sich in den vergangenen Jahren rasant vermehrt und reichen inzwischen von wissenschaftlichen Analysen, wie beispielsweise dem vom Veranstaltungsreferenten Klaus Dörre mitverfassten »Strategic Unionism«, über Aufsatzsammlungen mit zahlreichen praktischen Beispielen, wie dem vom Hamburger Organizingpionier Peter Bremme herausgegebenen »Never work alone«, bis hin zu einführenden Handbüchern, wie »Organizing – Strategie und Praxis« vom Autorenteam Kornberger, Ruber und Kolb. Auch wenn deren Beraterdeutsch sicherlich nicht nach jedermanns Geschmack sein dürfte, so bietet das Buch doch einen guten Überblick über Grundlagen, Prinzipien und Ablauf von Organizing-Kampagnen und macht vor allem eines ganz deutlich: Erfolgreiches Organizing setzt den unbedingten Willen zu tief greifenden Veränderungen bei den deutschen Gewerkschaften voraus.
Theoretisch scheint das angekommen zu sein. Immerhin bezeichnete der Zweite Vorsitzende der IG Metall, Detlef Wetzel, den Kongress als »die wichtigste Veranstaltung in diesem Jahr«. Die angereisten Organizer aus dem angelsächsischen Raum taten das ihre, um die deutschen Kollegen von der Dringlichkeit eines Wandels zu überzeugen: Ohne ein Wiedererstarken der europäischen Gewerkschaften würden auch die gewerkschaftlichen Kämpfe in anderen Teilen der Welt scheitern, sagte Tom Woodruff, stellvertretender Vorsitzender der US-Dienstleistungsgewerkschaft SEIU. Und Michael Crosby vom Europa-Büro des US-Gewerkschaftsdachverbands »Change to Win« ging in seinem abschließenden Statement sogar noch weiter: »In Europa sind nicht die Niederlande, Frankreich oder die Schweiz der Schlüssel … Das Schicksal der globalen Gewerkschaftsbewegung wird sich in Deutschland entscheiden!« Da mussten dann doch alle mal kräftig schlucken.