Gespräch mit Ilan Mor

»Zionist zu sein, bedeutet, in Israel zu leben«

Ilan Mor verlässt Deutschland. Seit August 2004 war der 54jährige Diplomat Israels Gesandter in Deutschland. Nun sitzt er in der Botschaft in Berlin auf gepackten Koffern. Mit Jungle World sprach er über die deutsche Linke, das Sommermärchen, Ausflüge nach Brandenburg, die Politik Obamas und den Kurs Netanjahus
Von

Wieso befindet sich die nach Washington zweitgrößte Botschaft Israels in Berlin?
Weil die deutsch-israelischen Beziehungen einzigartig sind. Seitdem wir diplomatische Beziehungen miteinander unterhalten, haben sich die Beziehungen auf allen Ebenen entwickelt. Deshalb befinden sich in der Botschaft Vertreter verschiedener Staatsorgane Israels, aus den Bereichen Tourismus, Polizei, Militär, Handel und Wirtschaft. Es gibt auch einen Platz für einen Wissenschaftsattaché. Die Besetzung reflektiert die umfangreichen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland.
Weshalb verlassen Sie Berlin?
Bei uns Diplomaten ist es so, dass wir nach vier Jahren ins Heimatland zurückkehren müssen. Es war schon eine Ausnahme, dass ich erst nach fünf Jahren Deutschland verlassen muss. Ich sage »muss«, weil ich kein Privatmann bin, sondern ein Staatsbeamter, und ich muss solche Regeln befolgen.
Was wird Ihre neue Aufgabe sein?
Das steht noch nicht fest. Aber ich werde wahrscheinlich einen guten Job im Außenministerium bekommen, bei dem ich meine Erfahrungen einbringen kann. Ich bin ja schon 25 Jahre im diplomatischen Dienst. Es hat auch etwas Positives, dass ich wieder nach Israel gehe: Ich muss mich wieder einleben, ich werde Israel wieder neu kennen lernen. In den vergangenen Jahren hat sich sowohl das Land als auch die Gesellschaft erheblich verändert, im positiven wie im negativen Sinne. Wenn ich nur daran denke, dass in dieser Zeit zwei Feldzüge gegen Terroristen stattgefunden haben. Deshalb bin ich gespannt und zufrieden, wieder nach Israel zurückzukehren.
Sind Sie Tel Aviver oder Jerusalemer?
Tel Aviv! Tel Aviv! Ich wohne in Tel Aviv, seit eh und je. Wenn ich in Israel bin, pendele ich zum Arbeiten nach Jerusalem, wo das Ministerium ist, aber ich fahre immer abends nach Tel Aviv zurück. Tel Aviv ist wie Berlin eine Metropole, eine sehr pulsierende, energetische Stadt, es ist dort alles vorhanden, man muss nur zugreifen: Kultur, Theater, Musik, Sport, Literatur – alles. Jerusalem ist die Hauptstadt Israels, das Zentrum der Politik.
Was hat Sie, als Sie nach Berlin kamen, am meisten überrascht?
Wie umfangreich und vielfältig das kulturelle Angebot in Berlin ist – quantitativ wie qualitativ. Und das war für meine Frau und mich natürlich ein Anreiz, die Stadt gut kennen zu lernen. Wir haben uns, was Ausstellungen, Theater und Musik anbelangt, alles angeschaut, von hochmodern bis zu traditionell-konservativ. Wir haben die Stadt sehr genossen.
Als Sie im November 2006 der Redaktion der Jungle World einen Besuch abgestattet haben, kamen zuerst zwei LKA-Beamte zum Sicherheitscheck, und dann wichen Ihre Leibwächter kaum von Ihrer Seite. Wie kann man denn unter solchen Umständen eine Stadt kennen lernen?
Jetzt kann ich es ja sagen: Ich konnte mich auch privat, also inkognito in der Stadt bewegen. Und diese Möglichkeit habe ich fast zu 100 Prozent ausgenutzt. Jedes Wochenende war ich, mit meiner Frau oder alleine, mit Mütze und Sonnenbrille unterwegs – in Berlin und auch außerhalb Berlins. Mittlerweile kennen wir auch das Land Brandenburg sehr, sehr gut. Fast alle größeren und mittleren Städte haben wir dort besucht. Überall phantastische Landschaften und phantastische Leute, auch das Essen: Beelitzer Spargel! Also, ich konnte das richtige Verhältnis von Sicherheit und Freiheit für mich sehr gut organisieren.
Ich kenne Menschen, die trauen sich nicht nach Brandenburg, weil sie eine dunkle Hautfarbe haben.
Auch während ich privat unterwegs war, ist mir nie etwas passiert. Obwohl wir uns auch ganz bewusst Städte angeschaut haben, die als Neonazi-Hochburgen bekannt sind. Ich wollte einfach sehen, wie sieht so ein Ort aus, in dem es einen solchen braunen Sumpf gibt. Zu meinem Erstaunen sah ich ganz normale Leute, die dort leben, und die Nazis waren nicht an jeder Ecke sichtbar. Aber ich bin kein Indikator für die Existenz dieser Rechtsradikalen. Wir wissen ja, dass es die gibt. Nicht nur in Brandenburg, auch in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und überall in Deutschland, leider. Seit den letzten Kommunalwahlen sitzen zum Beispiel zu meiner Überraschung zwei NPD-Vertreter im Stadtrat von Leipzig. In Leipzig! Meine Güte! Offiziell war ich zum Beispiel mehrfach in Pasewalk, weil es als Hochburg von Nazis und Rechtsradikalen gilt, um bewusst dort Präsenz zu zeigen.
Was denken Sie über den Antisemitismus in Deutschland?
Es gibt überall in der Welt Antisemitismus, und man braucht keine Juden, um Antisemiten zu haben. Polen ist ein Paradebeispiel. Ich selbst bin halb Pole, mein Vater ist dort geboren. Es gibt kaum noch Juden in Polen, aber es gibt leider sehr viele Antisemiten. Aber in Deutschland hat es diesen Versuch gegeben, das Judentum zu vernichten. Nur aufgrund dessen bekommt der Antisemitismus in Deutschland einen besonderen Stellenwert. Als ich vor 16 Jahren in Bonn gearbeitet habe, haben die Politiker und Medien von 20 Prozent latent antisemitischer Bevölkerung gesprochen. Als ich 2004 nach Deutschland zurückkam, nach Berlin, hat man mir wieder diese Zahl genannt: 20 Prozent. Nun kann man einerseits froh darüber sein, dass die Zahl unverändert geblieben ist. Andererseits ist es schrecklich, dass immer noch 20 Prozent der Menschen so denken.
Während Ihrer Zeit in Deutschland hat sich das Verhältnis zur Nation in der Mehrheitsgesellschaft stark verändert. Spätestens seit der Fußball-WM 2006 ist von einem »unbeschwerten Umgang« mit der deutschen Geschichte die Rede. Beunruhigt Sie das?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass man die Shoah vergessen will, also in diesem Sinn einen Schlussstrich zieht. Allein wenn man sich die Fernsehprogramme ansieht, gut, das ist oft spät nachts, dennoch wird das Thema in den Medien immer wieder bearbeitet. Aber es ist nicht zu leugnen, dass Deutschland erwachsen geworden ist, selbstbewusster.
Finden Sie das gut oder schlecht?
Es gab schon Ende der neunziger Jahre die Rede von Martin Walser in der Paulskirche, und eine wachsende Stimmung, die sagte: »Warum sollen wir immer noch für die Shoah büßen?« Es gibt den Versuch einer schleichenden Enttabuisierung, den Versuch, die Grenze immer mehr zu verschieben. Auch der Film »Der Untergang« gehörte dazu. Dennoch mache ich mir insgesamt keine Sorgen. Deutschland ist demokratisch genug, und auch die Partner und Nachbarn, die Deutschland immer noch mit acht Augen verfolgen, werden es nicht zulassen, dass so etwas wie zwischen 1933 und 1945 noch mal passiert.
Die meisten Israelis sind Juden, aber die Mehrheit der Juden keine Israelis. Wie war Ihr Verhältnis zur jüdischen Gemeinde in Deutschland?
Ich möchte korrigieren: Die größte jüdische Gemeinde lebt heute in Israel. In der Tat vertreten wir hier in der Botschaft den Staat Israel, nicht das Judentum. Die Frage: Was bin ich zuerst, Jude oder Israeli, ist ein ständiges Thema für uns in Israel. Jedoch bringe ich diese Debatte nicht mit ins Ausland. Selbstverständlich ist das Verhältnis zwischen Israel und den jüdischen Gemeinden überall in der Welt lebendig, das ist bekannt. Es gibt einen regen Austausch und Dialog. Und zu meinen Aufgaben gehörte es daher auch, wenn ich unterwegs war in Deutschland, die jüdischen Gemeinden vor Ort zu besuchen. Um unsere Solidarität zu zeigen und auch, um zu sehen, wie dort das Thema Israel bearbeitet wird. Ich kann zu meiner Zufriedenheit feststellen, dass fast alle jüdischen Gemeinden sich mit Israel und dem Zionismus beschäftigen und identifizieren.
Ist das wichtig?
Ich meine: Zionist zu sein, bedeutet, in Israel zu leben. Aber okay, wir verstehen, dass nicht alle Juden nach Israel einwandern, wir akzeptieren das, aber das ist nicht selbstverständlich. In der Vergangenheit haben wir mit der deutschen Regierung einen Konflikt gehabt. Wir haben gesagt: Das ist ja wunderbar, die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion hier in Empfang zu nehmen, aber erst mal sollten sie nach Israel kommen, wenn sie einen Zufluchtsort vor Antisemitismus finden wollen. Wenn es ihnen nicht gelingt, sich dort einzuleben, wenn sie wieder wegziehen wollen, dann können sie ja woandershin gehen. Aber diese Zeiten sind vorbei. 200 000 oder 300 000 Juden leben in Deutschland, teilweise organisiert in den Gemeinden, teilweise nicht, aber sie sind unsere Partner. Wir arbeiten viel zusammen, aber die jüdischen Gemeinden in Deutschland sind nicht der verlängerte Arm Israels in Deutschland. Das muss klipp und klar gesagt werden.
Sind Sie selbst religiös?
Ich bin nicht streng religiös und habe meinen eigenen Dialog mit Gott, auf Vier-Augen-Ebene bei Bedarf. Ich gehe zu Jom Kippur und Rosh Hashanah in die Synagoge, und offiziell esse ich nur kosher. In meinem Amt muss ich das tun, aber was ich privat mache, ist eine Sache zwischen mir und Gott.
Sie haben ein besonderes Interesse an der deutschen Linken gezeigt. Wie kam es dazu?
Es ist nicht zu leugnen, dass das Verhältnis zwischen der Linken und dem Staat Israel sehr kompliziert ist. Zunächst war Israel 1967 für die Linken noch ein »David«, unmittelbar danach, 1968, gab es die Studentenbewegung und Israel war nach dem Sechs-Tage-Krieg zu einem »Goliath« geworden. Für mich ausschlaggebend war vor ein paar Jahren das Positionspapier von Katja Kipping aus der Linkspartei. Als ich das gelesen habe, habe ich gesagt: Ich bin mit fast allem hundertprozentig einverstanden, was sie geschrieben hat. Zum ersten Mal las ich von jemandem aus der Linkspartei, das Existenzrecht Israels sei nicht diskutierbar. Mit Menschen, die so denken, kann ich einen Dialog führen. Sofort habe ich einen Termin mit Frau Kipping vereinbart, und der Rest ist schon Geschichte. Die neue Generation in der Partei »Die Linke« – Jan Korte, Bodo Ramelow, aber auch Gregor Gysi –, deren Herangehen ist nur zu begrüßen. Deswegen habe ich die Aufgabe, den Kontakt mit diesen Leuten zu halten, persönlich übernommen.
Sie haben als einer von wenigen Diplomaten in Deutschland auch das Phänomen Anti­deutsche kennen gelernt.
Ja. Noch bevor ich mit Katja Kipping Kontakt hatte, traf ich Sebastian Voigt in Leipzig. Ich war wirklich überrascht. Er hat mich zu einer Veranstaltung eingeladen. Wir Israelis können es uns nicht leisten, auch nur eine Gelegenheit zu versäumen, den Kreis von Freunden zu vergrößern. Natürlich ist die Vergangenheit der Linkspartei oder PDS und auch der westdeutschen Linken für uns Israelis belastet. Die DDR hat Israel nie anerkannt und stattdessen unsere Erzfeinde, die PLO-Terroristen, unterstützt. Aber ich sage immer, übrigens auch Palästinensern: Lassen wir die Geschichte, allerdings ohne sie zu vergessen, beiseite. Wenn es Leute gibt, die den kleinsten gemeinsamen Nenner teilen, nicht für die Auslöschung des Staates Israel zu sein, dann lass uns zusammen reden. Ich meine nicht, kritiklos. Man kann die Politik Israels kritisieren, aber wenn jemand das Recht der Juden, als Kollektiv leben zu können, in Frage stellt, dann hat er mit mir einen grundsätzlichen Konflikt.
Stellt die neue israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu einen größeren Politikwechsel dar als andere Regierungswechsel in der Vergangenheit?
Zunächst sah es so aus. Aber die Rede von Netanjahu zwei Wochen nach der von Obama in Kairo war ein Zeichen dafür, dass wieder ein Konsens besteht in Israel. Seine Rede basierte auf der Mitte der Gesellschaft, sie war ein Wegweiser. Ich bitte alle, die sich mit Israel beschäftigen, sich diese Rede vor Augen zu halten. Die Mehrheit der israelischen Gesellschaft steht hinter deren Prinzipien: zunächst einmal die Zwei-Staaten-Lösung. Netanjahu hat sie – buchstäblich – zum Ausdruck gebracht, und das war nicht einfach für ihn. Er hat den palästinensischen Staat auch qualifiziert: Er muss entmilitarisiert sein. Wir sprechen schon länger über eine »Trennung« von den Palästinensern, über ein Ende der Besatzung. Wir wollen nicht länger als Besatzer mit den Palästinensern umgehen. Das passt über­haupt nicht zu uns als Demokraten. Zwangs­läufig aber müssen wir diese Rolle einnehmen, denn die Sicherheitslage ist im Moment nicht so, dass wir ohne Wenn und Aber die Gebiete zurückgeben können. Netanjahu hat von einem regionalen Friedensprozess gesprochen, über eine Normalisierung der Beziehungen Israels zu anderen arabischen Staaten. Lauter Dinge, die man schon zig Mal in der Vergangenheit gehört hat, fand man auch in dieser Rede. Das ist also nach wie vor das Konzept der israelischen Außenpolitik.
Glauben Sie, dass die neue US-Regierung ihre Politik im Nahen Osten ändert?
Ich glaube, dass es auf der Welt viele dringende Probleme gibt. Sich schwerpunktmäßig auf den Ausbau israelischer Siedlungen zu konzentrieren, ist unangemessen. Sicher ist die Siedlungspolitik Israels problematisch, umstritten sowieso. Aber das ist doch nicht das entscheidende Problem. Wir haben uns verpflichtet, in dieser Sache etwas zu tun: Ehud Olmert hatte versprochen, dass es keine neuen Siedlungen gibt, und in der Tat, so ist es. Wir haben uns verpflichtet, die illegalen Außenposten abzuräumen, das werden wir tun. Jetzt besteht ein Gespräch zwischen uns und den USA darüber, wie man mit dem Ausbau von bestehenden Siedlungen verfährt, wir werden eine Vereinbarung finden. Aber dieser Punkt ist nicht das Problem. Das wirkliche Problem ist: Die arabische Welt muss Israel anerkennen. Sie muss akzeptieren, dass Israel Bestandteil des Nahen Ostens ist und dass die Israelis nicht vorhaben, woanders hinzugehen. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer: Wenn es diese offizielle Anerkennung de jure gibt, dann wird die Welt sehr überrascht sein, wie umfangreich die Zugeständnisse Israels sein werden, im Rahmen eines gegenseitigen Kompromisses.
Haben Sie sich während Ihrer Zeit in Berlin manchmal gewünscht, selbst Einfluss auf die Politik in Israel nehmen zu können?
Klar. Es ist ja bekannt, dass jeder Israeli ein Politiker ist. Wir haben auch nicht einen Ministerpräsidenten, sondern 7,3 Millionen. Alle wissen es immer besser, alle könnten immer alles besser machen. Aber wenn ich persönlich Kritik habe, dann äußere ich sie alle vier Jahre an der Wahlurne. Ich vertrete als Diplomat den Staat Israel, und ich werde das weiterhin tun, solange es einen Konsens in der Gesellschaft gibt, wie vorhin beschrieben. Aber ja, manchmal denke auch ich, was machen die dort? Ich könnte das besser machen. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Ich wollte nie Diplomat werden, ich wollte selber in die Politik. Als Student an der Tel Aviv Universität war ich politisch äußerst aktiv. Ich war auf dem Weg, eines Tages ein Knesset-Abgeordneter zu werden. Aber dann habe ich mich für das Außenministerium beworben und bin schließlich dort gelandet.
Da Sie schon einmal Deutschland verlassen haben und wiedergekehrt sind, könnte es sein, dass Sie eines Tages als Botschafter wiederkommen? Würden Sie sich das wünschen?
Jeder junge Diplomat hat das Ziel, einmal Botschafter zu werden. Ich könnte schon längst Botschafter in Südamerika oder Zentralasien oder in einem Generalkonsulat in den USA sein. Aber kein Job kann ein Ersatz für den Job des Botschafters in Berlin sein. Okay, Washington schon, vielleicht London, Paris oder Peking. Ich war auch schon Gesandter in Peking, aber ich habe keinen Drang, Botschafter in Peking zu werden. Ich habe auch viele Freundschaften hier geschlossen. Allein um meine persönliche Geschichte mit Deutschland zu vervollständigen, wünsche ich mir, eines Tages hier Botschafter zu sein.