Auf Sardinien treffen sich Luxus, Armut und die internationale NGO-Szene

Depression auf der Party-Insel

Auf Sardinien befindet sich eine der ärmsten Regionen Italiens. Während der italienische Jetset in den zahlreichen Villen und Luxus-Ferienressorts im Norden der Insel die Sommermonate verbringt, stirbt die Region Sulcis aus. Italienische und internationale NGO trafen sich dort, um mögliche Wege aus der Wirtschafts- und Umweltkrise zu diskutieren.

Es ist ein heißer Tag. Riccardo Salgas von der Metallarbeitergewerkschaft Fioma steht vor dem ehemaligen Schlachthof, dem mattatoio, wischt sich den Schweiß von der Stirn und versucht zu erklären, wie die Dinge auf seiner Insel funktionieren. »In Sardinien leben wir von den Abfällen der italienischen Wirtschaft, wir betreiben eine Art Tauschhandel«, sagt er. »Wir haben hier Sonne, Meer und fruchtbare Erde. Wenn Indus­trielle aus Norditalien oder dem Ausland hier Chemiefabriken hinsetzen, Ölraffinerien und Zementfabriken, dann geben sie uns Arbeit.« So funktioniert der Tauschhandel: »Ich gebe dir Arbeit, und dafür gibst du mir Land. Untereinander sind die Menschen hier ein wenig korporativ, aber wenn jemand aus Norditalien kommt, dann wird der rote Teppich ausgelegt.«

Ursprünglich sollte der G8-Gipfel im Norden Sardiniens, auf der sardischen Insel La Maddalena, stattfinden, um die Wirtschaft der Region zu beleben. Doch Ministerpräsident Silvio Berlusconi beschloss, den Gipfel als »Zeichen der Solidarität« mit der Erdbebenregion nach L’Aquila zu verlegen, wo sich die Katastrophe im April ereignet hatte. Der wirkliche Grund aber war, dass in der Erdbebenregion keine großen Proteste zu erwarten waren. Und tatsächlich gab es wenig Protest, was auch daran liegt, dass von der großen globalisierungskritischen Bewegung von Genua nur noch Reste übrig sind.
Der eigentliche »alternative Gipfel« zum offiziellen Treffen in L’Aquila fand im Örtchen Iglesias im Süden Sardiniens statt, und wurde »G-Sotto« genannt – das Wort sotto bedeutet auf Deutsch »unten«. Den Veranstaltern war es wichtig zu betonen, dass es sich dabei nicht um einen »Gegengipfel« handele, sondern um ein Treffen »lokaler, nationaler und internationaler Subjekte, die nach neuen, konkreten Strategien suchen, um Wege aus der Wirtschafts-, Energie- und sozialen Krise zu finden«. Veranstaltet wurde das Treffen von der italienischen Organisation Arche, die in der Arbeiterbildung und Kultur tätig ist, gemeinsam mit italienischen NGO. Die Wirtschafts- und Energiekrise sowie die Ausbeutung der Gegend zur Gewinnung von Rohstoffen zulasten der lokalen Bevölkerung waren die Schwerpunkte der zahlreichen Konferenzen und Debatten des G-Sotto. Für das Treffen wurde die Krisenregion Sulcis-­Iglesiente im Südwesten Sardiniens bewusst ausgesucht.
Die Region liefert ein anschauliches Beispiel für eine kurzfristige Ausschöpfung von Ressourcen, die sich langfristig negativ auf die Lebens­bedingungen der Bevölkerung und der Umwelt auswirkt. Die Wirtschaftskrise beschleunigte in den vergangenen Monaten die Schließung zahlreicher Aluminiumfabriken in der Region.
»Als wir das erste Mal nach Iglesias gekommen sind, um den G-Sotto zu organisieren, waren gerade 1 300 Arbeiter entlassen worden, weil die Fabrik des Unternehmens Euroalumina geschlossen wurde, eine der größten Fabriken in der Region. Zwei Wochen später fanden wir dieselbe Situation vor. Es wurden erneut 1 500 Personen entlassen«, erzählt die Vorsitzende von Arche, Silvia Bertelli. »Das ist die Geschichte einer Region, die kolonisiert wurde. Italien hat immer von dieser Region profitiert. Man hat die natürlichen Ressourcen ausgeschöpft. Als aber nichts mehr zu holen war, wurden die Fabriken und die Minen geschlossen, und die Menschen verloren ihren Arbeitsplatz.«
Wie die gesamte italienische Insel ist die Region Sulcis-Iglesiente sehr trocken. Karge Weiden wechseln sich mit Olivenplantagen ab. An den bergigen Küsten wachsen Weinreben. Die Kohle-, Zink- und Bleiminen, die während des Faschismus in den dreißiger Jahren errichtet wurden, sind heute Museumskulissen. Mit der Schließung der Minen in den achtziger Jahren verloren die dort tätigen Arbeiter und die in der Metallverarbeitungsindustrie Beschäftigten ihren Arbeitsplatz. Viele Metallverarbeitungsunternehmen fingen an, Aluminium zu produzieren. Angesichts der relativ hohen Kosten zogen auch die russischen Inhaber des Konzerns Euroaluminia es vor, die Produktion an andere Orte zu verlagern. Andere Unternehmen in der Region stellten die Aluminiumproduktion ganz ein. Denn es ist inzwischen billiger, Aluminium zu recyceln, als es neu zu produzieren.

Die Organisatoren des G-Sotto bemühten sich sehr um internationale Teilnehmer. Erklärtes Ziel war dabei eine Begegnung zwischen den »zivilgesellschaftlichen Netzwerken aus der ganzen Welt, um den acht Großen zu erklären, wie sie ihre Politik ändern und wie sie die Probleme lösen können, die sie in den vergangenen Jahren durch ihre Entscheidungen verursacht haben«, wie Raffaella Bolini von der Organisation Arci in einer Presse­rklärung formulierte.
»Wir wollen die Debatte über mögliche Auswege aus der Krise nicht nur aus italienischer und europäischer Sicht analysieren. Auf der Suche nach Energie werden immer mehr Umwelt und Natur vernichtet, das ist ein globales Problem«, meint auch Conny Reuter, Generalsekretär des europäischen Verbands Solidar, einer Dachorganisation europäischer Verbände in Brüssel. »Auf der einen Seite stehen immer die Interessen der lokalen Bevölkerungsgruppen, auf der anderen Seite steht der Energiebedarf, der sich auch stetig entwickelt.« Solidar arbeitet in Europa in den Bereichen Wohlfahrt, Sozialpolitik, internationale Zusammenarbeit, humanitäre Hilfe und Bildung. In Deutschland gehören Organisationen wie die Arbeiterwohlfahrt und der Arbeitersamariterbund zum Dachverband, in Italien ist Arche Mitglied des Netzwerks.
Vor allem über die weltweite Energie- und Umweltkrise wurde auf dem G-Sotto diskutiert. Der offizielle Gipfel biete überhaupt keine oder nur vage Lösungen zu diesen Problemen. Bei dem Forum der NGO mangelte es dagegen nicht an konkreten Lösungsansätzen, natürlich solchen von unten. Am Beispiel des Fotovoltaikprojekts einer Berufsschule in Guspini, wo sich Montevecchio befindet – die älteste Mine der Region – wurden zum Beispiel Möglichkeiten für ein alternatives Energieversorgungsmodell diskutiert. Der Ingenieur und Lehrer der Berufsschule, Salvatore Marras, der bereits Fotovoltaikkurse für seine Berufsschüler anbietet, schlug ein Fotovoltaikprogramm für die gesamte Region vor. Seinen Schülern vermittelt er die notwendigen technischen Kenntnisse und Informationen über die Gesetzgebung im Hinblick auf die Einspeisung von Solarenergie in das öffentliche Netz und die Subventionierung von Fotovoltaikanlagen. »Solche Alternativen müssen politisch gefördert werden, sowohl auf lokaler als auch auf regionaler und nationaler Ebene. Wenn viele kleine Produzenten Energie in das Netz einspeisen, wird gleichzeitig die wirtschaftliche Macht im Energiebereich dezentralisiert«, davon ist er überzeugt.
Doch das ist genau das, was große Energieversorgungsunternehmen mit Monopolstellung, unterstützt von der Politik, bisher erfolgreich verhindern konnten. Der italienische Energiekonzern Enel ist das drittgrößte Energieversorgungsunternehmen der Welt. Ein engmaschiges Leitungsnetz stellt die Verteilung der Energie sicher. Nach der Wiederwahl Silvio Berlusconis als Premierminister begann der Konzern, den politischen Umschwung zu nutzen, um den Bau von Atomkraftwerken in Italien zu planen, die bisher verboten waren. Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 hatte sich die Bevölkerung in Italien in einem Volksbegehren gegen die Atomenergie entschieden. 1990 wurde das letzte von ehemals vier Atomkraftwerken abgeschaltet.
Enels Vorstandschef Fulvio Conti kann jetzt auf Unterstützung von Berlusconi zählen. »Atomenergie ist die Zukunft, da die Erdölreserven bald zu Ende gehen werden«, sagte Berlusconi im Wahlkampf Anfang April. Die Regierung ist mit direkt und indirekt gehaltenen Anteilen von rund 30 Prozent der größte Aktionär von Enel.
Marras schlug außerdem die Schaffung eines Solidaritätssolarfonds vor, von dem die Regionen profitieren sollen, in denen die Sonneneinstrahlung geringer ist. Eine gute Idee, nur ist ihre politische Durchsetzbarkeit unter der Regierung Berlusconi gleich Null.
»Die italienische Regierung begünstigt nur die Großunternehmer«, sagt Riccardo Salgas dazu, »ihre Politik verhindert, dass sich die Menschen organisieren.« Dies führe dazu, dass die Arbeiterschaft zersplittert werde, gefördert werde nur die Großindustrie. »Global spricht man von multinationalen Unternehmen, in Italien sprechen wir von Confindustria«, sagt Salgas. »Das bedeutet, dass wenige Personen über den gesamten Reichtum verfügen.« Confindustria ist die italienische Arbeitgebervertretung, die auch auf internationalen Konferenzen wie etwa der der International Labour Organisation stark vertreten ist.
Als in den neunziger Jahren die christdemokratische Partei Democrazia Cristiana infolge eines Korruptionsskandals gigantischen Ausmaßes verschwand, gab es kein politisches Zentrum mehr, dafür aber viele rechte Parteien und Gruppen. In die von der Democrazia Cristiana hinterlassene Leerstelle sprang Berlusconi, der sich vom Unternehmer zum Politiker wandelte. Die Democrazia Cristiana war die wichtigste Partei im Italien der Nachkriegzeit. Von 1948 bis 1992 gab es keine Regierung ohne sie. Sie wurde auch »der Walfisch« genannt, weil sie in der Lage war, alle Widersprüche Italiens zu schlucken und zu verdauen.

Sulcis Iglesiente ist eine der ärmsten Regionen Italiens. In zehn der 24 Gemeinden der Region ist ein Drittel der Bevölkerung arbeitslos. Aber Sardinien ist auch eine Insel der Gegensätze. Ex­treme Armut und Luxus treffen hier aufeinander, und wenn die Medien über die Insel berichten, dann ist es oft im Sommer, wenn der italienische Jetset – Politiker, Fußball- und Fernsehstars – hier in den pompösen Villen der Costa Smeralda Urlaub macht.
Hier befindet sich übrigens auch die berüchtigte Villa Certosa, die Ferienresidenz von Silvio Ber­lusconi, in der die Partys mit minderjährigen Mädchen stattgefunden haben sollen.
Auf der Insel ist die einzige wirtschaftliche Einnahmequelle der Tourismus, der sich aber auf die Nord- und die Südostküste konzentriert. Dort locken die azurblauen Archipele in den Sommermonaten nicht nur VIPs an, sondern auch junge Leute, die Strandgänge mit Partytourismus verbinden wollen, sowie Familien, vor allem solche aus den reichen Regionen Norditaliens um Turin und Mailand, die sich in Apartments und Bungalows in Luxusgegenden zurückziehen.

Etwa drei Stunden Busfahrt von dem beliebten Ferienort Villasimius entfernt liegt die Westküste. Hier bleiben die Strände auch im Sommer fast unberührt. Nur die Bewohner der umliegenden Städte und Gemeinden besuchen sie gelegentlich. Die Straße von der Küste nach Iglesias führt an der Ruine der Mine Monteponi vorbei, heute eine Sehenswürdigkeit. Die Europäische Union stiftete 45 Millionen Euro für das Centro Italiano della Cultura del Carbone in Serbariu, welches zum »mineralogischen Kulturpark« gehört. Doch nur wenige Touristen besuchen die Region und besichtigen die Minen.
»Die Mine ist hier die Mutter des Wohlstands gewesen. Es sind sogar französische und englische Ingenieure hierhin gekommen. Mit der Schließung der Unternehmen ist die einzige Einkommensquelle in der Region verschwunden. Dies bedeutet ein Drama für uns, nicht nur in wirtschaftlichem Sinne, sondern auch im Hinblick auf die soziale Reproduktion. Ich meine soziale Depression, Drogen und Alkoholismus«, sagt der Vorsitzende der Provinz Guspini auf einer Veranstaltung im Gebäude der Mine in Montevecchio. Sie ist die älteste Mine der Region und entstand bereits 1876 in der Gegend Piccalinna. Obwohl sie nicht so tief ist wie die Minen, die später entstanden, ist sie architektonisch gesehen die eindrucksvollste. Die Gebäude über der Mine wurden im Liberty-Stil gebaut. Sie dienten in dem Film »Son of Bakunin« von Gianfranco Cabidu als Kulisse. Um die Mine herum befinden sich die Wohnhäuser der Arbeiter, die in Form einer Pyramide angeordnet sind. Die Architektur versinnbildlicht die Hierarchie zwischen Arbeitern und Arbeit­gebern: Das höchste Haus war das des Managers. Die Mine in Montevecchio war eine der letzten, die geschlossen wurden. Bis 1993 wurden hier Zink und Blei abgebaut.
Obwohl bereits seit dem 19. Jahrhundert Mineralien in der Region abgebaut wurden, leitete erst Mussolini die so genannte industrielle Revolution in Sardinien ein. Angesichts der außen­politischen Isolierung des faschistischen Italien verfolgte er mit der Schaffung zahlreicher Kohle-, Zink- und Bleiminen das Ziel, Italien energiepolitisch autark zu machen: Wir müssen in allen Bereichen unabhängig vom Ausland werden, lautete seine Devise. 1933 gründete er die Societá Carbonifera Sarda, die an mehreren Orten der Region Kohleminen baute. Zwei Jahre später wurde in Rom die Azienda Carboni Italiani (A.Ca.l.) geschaffen, um die Minen zu überwachen. Wenig später wurde die riesige Kohlereserve in Sirai-Serbariu entdeckt und ausgeschöpft. Nach der Gründung der Stadt Carbonia 1938 kamen 12 000 Arbeiter aus Italien in die Region, um in den Minen zu arbeiten, vor allem Menschen aus den damals armen Regionen, wie etwa den Abruzzen, dem Veneto, der Toscana und Sizilien. Einige von ihnen waren politische Gefangene, die zwangsverbannt worden waren. In den Minen ereigneten sich viele Unfälle, und die Anzahl derer, die dabei umkamen, war hoch.
Das Schwierigste für die Region ist heute die Schaffung von Arbeitsplätzen, die weder auf unmenschlichen Arbeitsbedingungen noch auf zerstörerischen und umweltverschmutzenden Produktionsmethoden beruhen. »Unsere Tätigkeit hier ist darauf gerichtet, eine neue, selbstbestimmte Form von Entwicklung anzustoßen, die auf lokalem Wissen aufbaut«, sagt Ruggero Ruggeri von der Umweltorganisation Legambiente, der gemeinsam mit anderen Naturwissenschaftlern Kurse in Umweltbildung für Schülergruppen in Guspini anbietet.