Die Agonie ostdeutscher Landstriche

Vom Aussterben bedroht

Im Osten gibt es Landstriche, die im Wachkoma liegen und denen selbst lebenserhaltende Subventionen nicht mehr helfen können. Das ist das Fazit einer neuen Studie über Ostdeutschland. Eine Reportage über die letzten Atemzüge einer aussterbenden Provinz.

Die zwei älteren Herren in blauen Karohemden lassen es sich schmecken. Es gibt Kroketten mit Erbsenbeilage und ein undefinierbares Stück Fleisch mit Champignons aus der Konserve. Essgeräusche übertönen ein knisterndes Radio. Ab und an schaut einer der beiden Männer auf und mustert die wenigen Autos, die an dem Restaurant »Checkpoint Harry« in Mecklenburg-Vorpommern vorbeifahren. Sie schweigen. Das Pärchen einen Tisch weiter hat einen ähnlich hohen Redebedarf. Wie gefesselt von der neugeteerten Straße, die vor ihnen in der Sonne flimmert, nippen sie an ihren Biergläsern. Es würde keinen Außenstehenden wundern, wenn hier jemand, wie im Western, Kautabak in einen Napf spucken würde.
»Willkommen in Mecklenburg-Vorpommern«, verkündete wenige Kilometer vorher ein Schild. Von Westen kommend war noch vor 20 Jahren die Gaststätte »Checkpoint Harry«, auf dessen Terasse die vier nun ihre Mahlzeiten genießen, der erste Grenzkontrollpunkt. Hier wurde kontrolliert, wer rüber wollte. Ein kleiner Parkplatz mit einem alten Aussichtsturm und ein paar Schildern mit Informationen über die deutsche Teilung erinnert heute daran. Damit Touristen, die eventuell irgendwann einmal kommen mögen, sofort die historische Tragweite erkennen, steht ein massives Schild mit der Aufschrift »Museum« davor.
Heute wird nicht mehr kontrolliert, nur noch gemustert: Ein Fremder könnte immerhin noch Anlass zur Konversation geben. Und endlich, als ein hagerer Mann beim Nordic Walking vorbeikommt, bricht es aus den beiden Männern heraus. »Guck ma, der da geht auf der falschen Straßenseite.« »Jo.« »Wenn der überfahren wird, dann bezahlt die Versicherung aber nix«. »Jo.« Im Gegensatz dazu verharrt das junge Pärchen im Schweigen. Nachdem beide ausgetrunken haben, geht er, als hätte er Rasierklingen unter den Armen, in die Gaststätte. Sie stellt die beiden leeren Gläser akkurat nebeneinander, zieht sich die Drei-Viertel-Jeans zurecht, aus der eben noch ein rosafarbener Tanga hervorlugte, und wartet mit der Handtasche am Arm auf ihre Begleitung.
»Mecklenburg-Vorpommern tut gut«, wirbt das Land, aber Wohltuendes sieht in der Regel anders aus. Ist der Osten abseits von Orten wie Leipzig oder Dresden noch zu retten? Einer neuen Studie des »Berlin-Instituts für Entwicklung und Bevölkerung« zufolge eher nicht: Die Bevölkerung stirbt aus, die Gebildeteren – darunter vor allem die jungen Frauen – verlassen die Region, zurück bleiben die kaum gebildeten Frustrierten. In dem 64 Seiten dicken Werk mit dem Titel »Demografischer Wandel: Ein Politikvorschlag unter besonderer Berücksichtigung der Neuen Länder« finden sich Vorschläge wie: »Rückbau bestehender Ver- und Entsorgungssysteme, Personalabbau im öffentlichen Dienst, Schließung von Schulen«. De facto folge aus der Strategie der »Anpassung« an den Bevölkerungsschwund, dass die »Daseinsvorsorge« allmählich heruntergefahren werden müsse, heißt es weiter. Obwohl die Studie vor der Veröffentlichung vom Auftraggeber, dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS), zensiert und gemildert wurde, steht dort deutlich, was die Investitionen der vergangenen Jahre gebracht haben: »Bildlich gesprochen: Solange der Kranke nicht mit dem Rauchen aufhört, nutzt es wenig, dass er gegen seinen Husten Bonbons lutscht.« Das Projekt »Kulturelle Identität stärken«, mit dem das Land Sachsen-Anhalt »Heimatverbundenheit fördern« will, hat den Experten zufolge den »Grund des Problems nicht berührt«. »Heimatverbundenheit« in Landkreisen zu stärken, die von Nazis gerne zu »national befreiten Zonen« deklariert werden, ist schon eine seltsame Idee. Reist man durch Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Brandenburg, Bundesländern, in denen schon jetzt der Anteil der unter 35jährigen weniger als 31 Prozent beträgt, bekommt man einen Eindruck davon, wie sich Leere anfühlt.

Vom »Checkpoint Harry« aus sind es nur wenige Meter bis zu einer Gedenktafel, die an das Außenlager des KZ Neuengamme in Boizenburg erinnert. Auf dem dunkelgrauen Marmorstein finden sich von einem Hammer verursachte Einschlaglöcher, auf der Fassung aus grauen Steinen sind trotz einer Reinigung noch Spuren von gesprühten SS-Runen und Hakenkreuzen zu sehen. Drei Transparente mit der Aufschrift »Boizenburg bleibt bunt«, die am Marktplatz hängen, sollen den Besucher beruhigen. Auf den Bänken rund um die Kirche sitzen überwiegend Leute im Rentenalter, essen Eis und mustern einen Fremden, der ein klappriges Fahrrad über die Pflastersteine schiebt. Von dem Teil der einheimischen Jugend, der vermutlich für die Gedenkstätten-Schändung verantwortlich ist, sieht man nichts.
An einem Parkverbotsschild hängt ein Flyer, der für ein Festival namens »Tinnitus statt Faschismus« wirbt. Am Boizenburger Elbufer endlich Menschen unter 30 Jahren. Es sind fünf. Zwei von ihnen haben sonnenbrandgerötete Glatzen, sie liegen bäuchlings im Gras und murmeln irgendetwas über das Flüchtlingsheim knapp zehn Kilometer vor Boizenburg. Mitten im Niemandsland. Eine triste, graue Bushaltestelle aus Beton, eingesäumt vom dunklen Gelb eines Weizenfeldes und dem dunklen Grün eines angrenzenden Mischwaldes, verheißt irgendwie Freiheit. Sie ist der einzige Verbindungspunkt zwischen Boizenburg und dem Flüchtlingsheim, das eingezäunt von zwei Meter hohem Maschendraht auf der anderen Straßenseite liegt. Eine junge Afrikanerin mit blonden, akkurat geflochtenen Rastalocken sitzt im Schatten der Betonbaracke und wartet mit starrem Blick auf den Bus, der ab 11 Uhr mittags alle drei Stunden fährt.

Am Bahnhof Schwerin-Mitte verkürzen sich drei Jugendliche die Zeit des Wartens auf den Zug um 11.12 Uhr nach Ludwiglust mit Hasseröder Pilsener und selbstgestopften Zigaretten. Als sie im Abteil sitzen, fragt einer mit blonden zerzausten Haaren und schwarzer Trainingsjacke seine Freunde: »Boah, hält die Tingelbahn immer noch im Kaff Rastow?« Als die anderen zwei nicken, fährt er mit einem Lächeln auf dem Gesicht fort: »Kann ja nich’ sein. Ich hab’ gehört, da wohnen drei alte Männer, und davon ist einer schon tot.« Gelächter bricht aus. Einer von ihnen ist so gedrungen, dass er zwei Plätze für sich beansprucht. Aber offenbar müssen sich die drei diese Fahrt zum Ausbildungsplatz nicht mehr lange antun. »Ich hab’ das Geld für den Führerschein schon zusammen. Nächsten Monat geht’s los«, sagt der Dicke freudig. Lust, für die Theorieprüfung zu lernen, habe er keine, sagt er. Denn die schaffe er auch so. »Ey, pass bloß auf! Weißt ja, Tim ist schon zwei Mal durchgefallen«, ermahnt ihn sein Freund. Da aber nach Angaben des Kraftfahrtbundesamts in Mecklenburg-Vorpommern 2008 42 Prozent bei der theoretischen Führerscheinprüfung durchgefallen sind, ist Tim wohl keine Ausnahme. Zum Vergleich: In den alten Bundesländern liegt die Durchfallquote unter 30 Prozent. Bei denen, die hier bleiben, ist die Lernmotivation offenbar nicht sonderlich ausgeprägt.
In Ludwiglust angekommen, setzen sich die drei erst mal in den Park vor das Barockschloss und trinken ihr nächstes Bier. Ludwigslust ist dank der restaurierten Altstadt und dem Schloss für Touristen attraktiv. Busse aus Wuppertal oder Dortmund, in denen Rentner oder Kegelclubs sitzen, fahren durch die Stadt. Nach einem kurzen Aufenthalt für ein Erinnerungsfoto geht es weiter auf der Bundesstraße Richtung Berlin, vorbei an einem leerstehenden, heruntergekommenen Haus, übersät mit Nazi-Graffiti. Etwa: »Deine Heimat ist in Gefahr«. Die Straße führt durch Dörfer, in denen bis auf das Geräusch eines Rasenmähers nichts zu hören ist und nur Hühner oder Hunde zu sehen sind.

Auf der Strecke liegt auch die 12 000-Seelen-Stadt Perleberg in Brandenburg. Der inoffizielle Mittelpunkt der kleinen Stadt ist der Parkplatz vor Lidl, Schlecker und dem Getränkemarkt. Auf der Fensterbank vor Schlecker sitzen Ingo und Wolfgang und genießen den sonnigen und ersten richtig heißen Nachmittag in diesem Jahr mit Korn und Bier. Wolfgang ist 70 und hat früher in einer LPG gearbeitet. Er ist froh, Rentner zu sein, und lebt gerne in Perleberg. »Och, hier kennt jeder jeden. Man hilft sich untereinander«, sagt er, während er gerade eine leere Flasche Bier austropfen lässt und sie in eine Sporttasche packt. Ingo, ein Schlachter mit Schnauzer und Händen mächtig wie Schaufeln, erzählt, wie sich die beiden kennen gelernt haben: »Dit war Weihnachten oder so, da hat Wolfgang bei uns eenen uff Weihnachtsmann jemacht.« Wenn jemand vorbeikommt, den sie kennen, unterbrechen sie kurz ihre Reden über früher. Bier und Schnaps fließen unterdessen weiter. Ein junger Mann hält mit seinem silbernen VW-Polo vor dem Schlecker. Er trägt Springerstiefel, eine schwarze Armee-Kappe und jede Menge Buttons auf dem Revers seines karierten Hemds. »Nationale Sozialisten« ist auf einem zu lesen, einen anderen ziert der Deutschland-Adler.
»Na, Michael, wie stehen die Aktien?« fragt Ingo den wohl 25jährigen Nazi. »Et muss, et muss«, entgegnet der sichtlich genervt. »Wat machst’n grad?« fragt Wolfgang interessiert. »Bin gelernter Landwirt«, sagt er. »Un? Ejenen Hof?« will Ingo noch wissen. »Ne, angestellt. Scheißsystem. Da muss ma wat machen«, antwortet der Rechte entschlossen. Dann ist die Unterhaltung plötzlich vorbei. Vielleicht hat der 45jährige Ingo, der seit 30 Jahren im Schichtdienst in einer Schlachterei arbeitet, keine Lust, sich die Klagen über das Arbeitsleben anderer anzuhören. Als Michael aus dem Getränkeladen zurückkommt, hält er eine Flasche Korn in der Hand. »Dit is immer ’ne gute Wahl«, sagt Wolfgang.
Heino trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift »Abschleppdienst kostenlos« und hat sein Bier vorsorglich schon dabei. Auf einem mindestens zwei Meter langen Chopper-Fahrrad fährt er gemütlich Richtung Schlecker. »Dein Fahrrad kannst du dir sonstwohinschieben«, sagt Wolfgang zu Heino, der eigentlich Johannes heißt, nach ein paar anderen verbalen Attacken. Dann verlässt er mit Ingo den Parkplatz. Heino ist ein gemütlicher Typ mit einem Lächeln auf den Lippen. Aber bei Kritik an seinem Fahrrad und bei Nazis versteht er keinen Spaß. »Wir haben hier alle Faschos rausgehauen. Die waren hier mal präsent, aber jetzt traut sich keiner mehr nach Perleberg, um Scheiß zu machen«, sagt er mit stolzem Grinsen. Er erzählt von seinem Freund, der zehn Monate wegen wiederholter Körperverletzung im Gefängnis saß, weil er wieder mal einen »Fascho« geschlagen habe. Heino hat so lange auf die zwei Hunde seines Freundes aufgepasst. »Hunde sind die Besten. Sie halten mehr zu dir, als Menschen das können«, erzählt er. Vor kurzem hat er seinen Job in einer Firma für Pulverisierungs- und Lasertechnik verloren. »Die Krise halt. Geh ich wieder auf den Bau. Da fällt immer was ab«, sagt er. Außerdem habe er noch einen Garten, in dem Tomaten, Kartoffeln und Rüben wachsen: »Alles alte Sorten. Damit komm ich schon über den Winter.« Ob er sich nicht vorstellen könnte wegzugehen, dahin, wo bessere Arbeit zu finden ist? »Nee, ich hab’ doch hier alles, was ich brauche, Freunde, meinen Garten.«

38 Kilometer weiter beginnt Sachsen-Anhalt. Werbetexter kreierten für das Bundesland den Spruch: »Sachsen-Anhalt. Wir stehen früher auf«. Von Perleberg nach Havelberg führt eine verschlafene Landstraße durch einen dichten Wald. Aufgrund der Hitze und des feuchten Bodens des Waldes wabert eine dicke Dunstwolke über die Straße, es riecht nach Moos und Harz. In einem kleinen Kurort nahe Havelberg gibt es in einer Tankstelle einen »Räucherraum« für die rauchende Kundschaft. In dem spartanisch eingerichteten Räumchen sitzt ein Mann Mitte vierzig mit grauem Schnurrbart, brauner Lederjacke und Jogginghose, vor sich eine Dose F6-Tabak und eine Hand voll Zwei-Euro-Münzen. Er daddelt an einem Glücksspielautomaten und verbringt damit die unausgefüllte Zeit des Vormittags. Hier werden die Jobs immer rarer, die Ortschaften immer leerer.
»Verlorene Räume« nennt die Studie des Berlin-Instituts solche Landstriche. Räume, denen nicht mehr zu helfen ist, da es durch den Wegzug der jungen Qualifizierten keinen mehr gibt, der mittels Engagement für eine Besserung der Verhältnisse sorgen könnte. »Für diese Regionen bedeutet eine Förderung verlorenen Aufwand und sollte nicht erfolgen«, schreiben die Verfasser ungewöhnlich offen. Weiter heißt es dort: »Das hilft einerseits, eine passive, abwartende Anspruchshaltung unter der Bevölkerung abzubauen. Zum anderen vermag ein solches Label ge­radezu Menschen anzuziehen, die Einsamkeit und Abgelegenheit suchen.« Ob der Nazi Michael eines Tages seine passive Anspruchshaltung verliert, und ob der Herr am Spielautomaten in seiner Einsamkeit glücklicher wird?
In Havelberg wird immerhin noch gebaut. Die Bundeswehr erneuert und vergrößert gerade die Elb-Havel-Kaserne. Sie gibt wenigstens ein paar Havelbergern Chancen auf Ausbildung und Arbeit, auch solchen in Zivil. »Der größte Arbeitgeber hier ist neben der Bundeswehr Hartz IV, der Rest ist Rente«, sagt eine Frau, die mit zwei Freundinnen neben einem Fotostudio in der Altstadt Havelbergs sitzt. Hier stehen viele Geschäfte leer. Die Fotostudio-Besitzerin, eine Fotografin mit blonder Wolfgang-Petry-Frisur, nimmt es mit Humor, dass keine Kundschaft kommt und auch ansonsten nicht viel los ist: »Wir haben hier nach der Wende die Siesta eingeführt.« Die zwei anderen Frauen lachen. Sie sind beide arbeitslos. Die jüngste von ihnen, eine gelernte Heilerzieherin, kann der Situation auch nur mit Sarkasmus begegnen. Die Kinder der drei vorm Fotostudio sind in ganz Deutschland verteilt: Hannover, Düsseldorf, Berlin, Braunschweig. »Die haben das richtig gemacht. Hier kommt man doch nur auf dumme Gedanken.«