Deutschland und die Flüchtlingspolitik der EU

Danke, Europa!

Über die deutsche Rolle bei der Flüchtlingsabwehr der EU sprechen die Verantwort­lichen nicht so gern. Tatsächlich ist die Bundespolizei mit Personal, Hubschraubern und Nachtsichtgeräten an den Mittelmeerküsten dabei.

Irgendwo vor der maltesischen Küste war am 18. Juni ein Hubschrauber der deutschen Bundespolizei im Einsatz. Über Funk wurde der Besatzung des Hubschraubers von einem anderen Luftfahrzeug mitgeteilt, dass etwa 110 Meilen weiter südlich ein Flüchtlingsboot entdeckt worden sei. Pflichtbewusst gaben die deutschen Beamten diese Informationen an Malta weiter. Kurze Zeit später wurde nach Angaben der maltesischen Tageszeitung Malta Today die italienische Küstenwache informiert, die das Boot aufgriff und an ein libysches Patrouillenboot übergab.
Die mehr als 30 Flüchtlinge erwarten in Libyen desaströse Lebensbedingungen. An ein Asylverfahren ist nicht zu denken – Libyen hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet.

»Nautilus IV« nennt sich der Einsatz, der gegenwärtig unter der Ägide der europäischen »Grenzschutzagentur« Frontex und mit Beteiligung mehrerer europäischer Staaten stattfindet, um die Fluchtrouten von Migranten nach Malta zu blockieren. Dass die Migranten dem libyschen Staat überlassen werden, ist nicht die unglück­liche Ausnahme, sondern das Ziel der Operation. Denn die »illegale Migration« nach Malta geht vor allem von Libyen aus. Zwar ist Italien selbst nicht unmittelbar an der Frontex-Operation beteiligt. Aber im Notfall wird gern auf die Hilfe des italienischen Staats zurückgegriffen. Denn jeder weiß um die Einsatzfreude der dortigen Küstenwache, wenn es um Flüchtlingsboote geht. Dass Italien regelmäßig mit Libyen kooperiert, ist ebenfalls kein Geheimnis.
Die deutsche Regierung ist sich indes keiner Schuld bewusst. Richtig sei zwar, dass jener Hubschrauber der Bundespolizei die Information über ein Flüchtlingsboot »zuständigkeitshalber weitergegeben« habe, schrieb Anfang Juli der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Peter Altmaier (CDU), auf Anfrage des grünen Bundestagsabgeordneten Josef Winkler. Was mit den Informationen passiert, scheint den Beamten allerdings gleichgültig zu sein. Generell möchte die Bundesregierung die Einsätze zum »Schutz der EU-Außengrenzen« nicht kommentieren. Auf Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion Anfang Juni wurde wiederholt darauf verwiesen, dass Frontex gegenüber den Mitgliedsstaaten nicht in einer Informationspflicht stehe. Details über abgedrängte Flüchtlingsboote und Migranten, die an den Grenzen der EU-Staaten zurückgewiesen werden, sind in Berlin nicht der Rede wert. Dabei hat Deutschland vor allem während seiner EU-Ratspräsidentschaft 2007 die Verschärfung der europäischen Migrationspo­litik wesentlich vorangetrieben. Effektiv war das allemal: Mit gut 22 000 stagniert die Zahl der Erstanträge auf Asyl in Deutschland weiterhin auf einem niedrigen Niveau.
Frontex koordiniert derzeit, neben »Nautilus«, eine bereits seit Jahren andauernde Operation namens »Hera«, um die Migration auf die Kanarischen Inseln zu verhindern. Die daran beteiligten Sicherheitskräfte sind nicht mehr nur vor der spanischen Küste, sondern auch vor der Küste und auf dem Festland des Senegal und Mauretaniens aktiv, um bereits die Abfahrt der Flüchtlingsboote zu verhindern. »Hera« ist damit ein Musterbeispiel gegenwärtiger europäischer Migrationspolitik: Demnach soll möglichst früh­zeitig und in Zusammenarbeit mit den Transitstaaten der Weg der Flüchtlinge nach Europa unterbunden werden.

Diese Vorverlagerung des Grenzschutzes ist aus der Sicht von Frontex besonders erfolgreich. Im April und Mai dieses Jahres erreichte nicht ein einziges Boot die Kanarischen Inseln. Die Folgen für die Betroffenen sind auch hier zweitrangig: Nach Berichten von Amnesty International aus dem vergangenen Jahr wurden die nach den Frontex-Operationen »Zurückeskortierten« in Mauretanien zu Tausenden festgenommen, misshandelt und massenhaft in die Nachbarländer abgeschoben oder ohne Verpflegung an der Grenze ausgesetzt.
Die Einsätze an den Seegrenzen Europas führen indes nicht dazu, dass keine Fluchtversuche mehr stattfinden, viele nehmen allerdings noch gefährlichere Wege auf sich. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres sind dem Blog »Fortress Europe« zufolge 434 Menschen allein auf dem Weg über das Mittelmeer ums Leben gekommen. Die Dunkelziffer dürfte noch um einiges höher liegen.
Neben weiteren Operationen an den Seegrenzen organisiert Frontex zahlreiche Einsätze an den Landgrenzen sowie an den Großflughäfen Europas. Dabei geht es zumeist um die Aufdeckung von geheimer Fluchthilfe (»Menschenschmuggel«) sowie um die Identifikation gefälschter Reisedokumente.
Frontex gründet die Einsätze auf so genannte Risikoanalysen. Dabei werden Datenbestände nationaler und europäischer Sicherheitsbehörden gesammelt, um die besonders häufig frequentierten Wege der Migranten aufzuspüren. An den Einsätzen selbst ist Frontex nicht direkt beteiligt, die Arbeit an Ort und Stelle erledigen noch die Staaten selbst. Auch der deutsche Staat beteiligt sich, wie jüngst in Malta, mit Personal und Materialien wie Hubschraubern und Nachtsichtgeräten an der Flüchtlingsabwehr. Diese Zusammenarbeit von Beamten unterschiedlicher Staaten und europäischen Behörden lädt besonders dazu ein, die rechtliche und politische Verantwortlichkeit von sich zu weisen. Die deutsche Regierung ist hier wie gesehen besonders geschickt.

Gemeinsame Flüchtlingsabwehr wird auch gegenüber den Menschen betrieben, die den europäischen Kontinent erreicht haben. Frontex hat bereits mehrere Sammelabschiebungen organisiert. Die für Flüchtlinge aus mehreren Staaten vorgesehenen Charterflüge haben den Vorteil, dass andere Reisende davon nichts mitbekommen und entsprechend keinen Widerstand leisten können. Abseits der Öffentlichkeit werden die Flüchtlinge in ihr vermeintliches Herkunftsland zurückgezwungen.
Nach der Dublin-II-Verordnung kann jeder Flüchtling außerdem nur in dem Staat einen Asylantrag stellen, den er zuerst betreten hat. Da Deutschland von EU-Staaten umgeben ist, können sich die deutschen Behörden der Flüchtlinge entledigen, die auf dem Landweg zwangsläufig einen anderen Staat betreten haben. Dies führt eine nicht unbeträchtliche Zahl von ihnen zurück nach Griechenland, obwohl seit langem, spätestens aber nach schockierenden Berichten von Pro Asyl aus dem Jahr 2007, auch in Deutschland hinlänglich bekannt ist, dass der griechische Staat kein funktionierendes Asylsystem hat, Abschiebungen unter Missachtung des Völkerrechts vornimmt und nicht ansatzweise eine humane Unterbringung für Flüchtlinge bietet.
Erst seit Beginn dieses Jahres hat die Bundesregierung einzelne Abschiebungen nach Griechenland gestoppt, in anderen Fällen haben einige deutsche Gerichte eine Abschiebung vorläufig untersagt. An der grundsätzlichen Verteilung der Asylsuchenden auf die europäischen Staaten will die deutsche Regierung jedoch nichts ändern, und das rechnet sich: In Malta etwa werden, gemessen an der Einwohnerzahl, fast zwanzigmal so viele Asylanträge behandelt wie in Deutschland.

Mit dem Stockholm-Programm, das im Dezember endgültig verabschiedet werden soll, wollen die europäischen Staaten unterdessen die Leit­linien für die europäische Innen- und Sicherheitspolitik der nächsten fünf Jahre festlegen. Neben einer weiteren Stärkung von Frontex geht es dabei vor allem um den Ausbau und die Zentralisierung von Datenbanken über Einwanderer sowie um den Aufbau eines satellitengestützten Überwachungssystems an den europäischen Außengrenzen. Deutschland könnte auch ökonomisch von dieser Entwicklung profitieren: In Bremen wird derzeit von EADS Astrium, einem Tochterunternehmen des europäischen Luft- und Raumfahrtkonzerns EADS, ein Überwachungssystem entwickelt, mit dem aus dem All Migranten aufgespürt werden können. Frontex soll einer der Hauptkunden sein.