Wahlen in Afghanistan

Auf der Suche nach den verlorenen Eseln

Bei den Wahlen in Afghanistan wurden zahlreiche Manipulationen festgestellt. Sowohl der amtierende Präsident Karzai als auch sein Herausforderer Abdullah beanspruchen den Sieg.

Wo kommt der Esel her? Diese Frage werden sich Wahlbeobachter in Afghanistan derzeit häufig stellen müssen. Die Urnen für die Präsidentschafts­wahlen wurden auf den Rücken von mehr als 3 000 Eseln in abgelegene Landesteile transportiert, nun kehren sie gefüllt zurück. Doch waren die Esel wirklich dort, wo sie hätten sein sollen? Haben sie ungewöhnlich lange für die Rückkehr gebraucht, weil sie womöglich vor dem Anwesen eines Warlords ein wenig Stroh gefressen haben, während dessen Helfer die Stimmzettel austauschten?
Das ballot stuffing ist nur eine der möglichen Manipulationsmethoden. Wie bei den vorigen Wah­len war auch diesmal die Farbe, mit der die Finger der Wähler markiert wurden, entgegen den offiziellen Angaben abwaschbar. Bereits bei der Wählerregistrierung hatte es Unregelmäßigkeiten gegeben, Minderjährige und nicht existierende »Geisterwähler« wurden in die Listen eingeschrieben. Kaum nachzuweisen ist die Manipulation durch Einschüchterung. Für Warlords, Milizkommandanten und Clanführer ist anhand der Wahlergebnisse unschwer erkennbar, ob die Einwohner eines Dorfes wie gewünscht abgestimmt haben. Viele Wähler wurden vor der Abstimmung gewarnt.

»Ich wurde von einem lokalen Kommandanten nahmens Samadi bedroht«, berichtete ein Dorfältester den Journalisten des Institute for War & Peace Reporting. »Er sagte, es hätte unangenehme Konsequenzen für mich, wenn die Dorfbewohner nicht für Karzai stimmen würden. Ich tue, was er gesagt hat.« Auch Städter werden eingeschüchtert. Ein Autohändler gibt an, er habe sogar gegen seinen Willen für Karzai in den Wahlkampf ziehen müssen. »Ich las eine Rede vor, die für mich geschrieben worden war. Mächtige Leute haben mich gezwungen, das zu tun. Ich wur­de bedroht.«
Alltäglicher noch ist die Einschüchterung der Frauen. »Männer in Laghman, Paktia, Paktika, Ghor und Balkh haben anstelle der Frauen Stimmen abgegeben«, sagte Nader Nadery, Vorsitzender der Free and Fair Election Foundation, die mehr als 7 000 Beobachter entsandt hat. Diese Form des Wahlbetrugs wird offenbar weithin geduldet, da es als akzeptabel gilt, wenn Frauen nur mit Genehmigung der Männer das Haus verlassen dürfen. Auch die Mehrzahl der »Geister« dürfte weiblich sein. Da in vielen Gebieten Frauen nicht fotografiert werden dürfen, häufig keine persönlichen Identifikationspapiere besitzen und es undenkbar wäre, die im Gehöft lebenden Frauen zu zählen, können sie leichter auf eine Liste gesetzt werden. Bis zum Montag waren bei der Electoral Complaints Commission (EEC) bereits 400 Beschwerden eingegangen. 40 davon sind nach An­sicht des EEC-Vorsitzenden Grant Kippen so gravierend, dass sie das Ergebnis in Frage stellen könnten. Angesichts dessen bezweifeln Kippen und andere Experten, dass das amtliche Endergeb­nis wie geplant am 17. September bekannt gegeben werden kann.
Über die Wahlbeteiligung wird noch spekuliert. Die Taliban hatten allen Wählern mit Verstümme­lung gedroht, sich allerdings nicht einigen können, ob sie Nase und Ohren oder den in Farbe getauchten Finger abschneiden sollten. Am Wahltag blieb es in den meisten Landesteilen relativ ru­hig, das afghanische Innenministerium zählte 73 Zwi­schen­fälle. Doch hatte die vorangegangene Offensive mit ihrer Vielzahl von Anschlägen, auch in der Haupstadt Kabul, sicher viele Wähler eingeschüchtert. Manche Schätzungen gehen davon aus, dass die Wahlbeteiligung in besonders umkämpften Gebieten des Südens kaum über zehn Prozent lag. Allerdings dürften auch die Enttäuschung über die Politik Karzais und die vor dem Wahltag erkennbaren Manipulationen dazu beige­tragen haben, dass die Beteiligung offenbar weit unter den 70 Prozent blieb, die nach den Präsident­schaftswahlen 2004 gemeldet worden waren.
Da erscheint es nicht ganz passend, die Wahlen als »Erfolg« (US-Präsident Barack Obama) oder »guten Tag für Afghanistan« (der UN-Sondergesandte Kai Eide) zu bezeichnen. Das Ausmaß der Manipulationen scheint eher größer gewesen zu sein als bei den letzten Präsidentschaftswahlen, auch wenn dies vor allem daran liegen mag, dass der damals noch populärere Hamid Karzai 2004 weniger Betrug nötig hatte. Den Taliban ist es weitaus besser gelungen, die Wahlen zu stören. Vor allem aber hat sich an den extrem autoritären und patriarchalen Machtverhältnissen nichts geändert, sodass von einer freien politischen Meinungsbildung nicht die Rede sein kann.

Der einzige erkennbare Fortschritt ist das bei vielen Afghanen gewachsene demokatische Bewusstsein. Denn die Betrugsvorwürfe haben ja auch eine erfreuliche Seite. Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen der Jahre 2004 und 2005 wurden ebenfalls manipuliert, doch war das Interesse der afghanischen wie auch der internationalen Öffent­lichkeit damals gering. Wenn nun pro­testiert wird, bedeutet dies, dass große Teile der Bevölkerung die Wahl ernst nehmen, dafür kämp­fen, sie ehrlich zu gestalten, und die Hoffnung hegen, sie könnten Erfolg haben.
Wahlbetrug ist auch nur dann nötig, wenn es ernstzunehmende Konkurrenz gibt. Vorläufig allerdings beschränkt sich diese Konkurrenz auf die Ebene der Machtpolitik. Der einflussreichste Gegenkandidat Karzais ist Abdullah Abdullah, der Karriere unter dem Warlord Ahmed Shah Mas­soud machte. Abdullah diente Karzai bis 2006 als Außenminister, im Wahlkampf betonte der stu­dierte Mediziner gerne seinen Doktortitel und versprach change. Seine Kritik gilt jedoch vornehm­lich dem Machtmissbrauch und der Korruption. Für soziale Reformen oder eigenständige Entwick­lungsprogramme fehlen ihm ohnehin die Mittel, wie Karzai wäre er darauf angewiesen, mit wechselnden Koalitionen von Warlords zu regieren.
Abdullah kann von der Unzufriedenheit profitieren, überdies hat er gute Verbindungen zu den Nachfolgegruppen der Nordallianz Massouds, der im September 2001 ermordet wurde. Da Karzai sich zeitweise mit wichtigen Warlords der Nordallianz überworfen hatte, konnte Abdullah auf einen Wahlsieg hoffen. Allerdings konnte Kar­zai einige dieser Warlords kurz vor den Wahlen wieder für sich gewinnen, er verfügt über die einflussreicheren Bündnispartner. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass der amtierende Präsident tatsächlich die meisten der formal korrekt ausgefüllten Stimmzettel für sich verbuchen kann, und er dürfte auch bei den Manipulationen die Nase vorn haben.
Dennoch hat Abdullah sich, wie Karzai es tat, am Wochenende zum Sieger erklärt, obwohl keine Ergebnisse vorlagen. Auch der Kandidat Mir­wais Yassini glaubt, er hätte die Wahlen gewonnen, »wenn es keinen Betrug gegeben hätte«. Doch als ernsthafter Konkurrent gilt allein Abdullah, er und Karzai lassen nun in Kabul und den Provinzhauptstädten ihre Anhänger aufmarschie­ren. Bereits am Tag nach der Wahl hatte der US-Sondergesandte sie gemahnt, keine Gewalt anzuwenden. »Sie sagten, sie würden das nicht tun«, berichtete er danach.
Angesichts der wachsenden Bedrohung durch die Taliban ist es unwahrscheinlich, dass der Konflikt eskaliert. Der unterlegene Kandidat dürfte eher darauf drängen, bei der Verteilung von Macht und Pfründen angemessen berücksichtigt zu werden. Der Präsident ist ohnehin kein Herrscher, sondern ein powerbroker, ein Vermittler, der einerseits mit den Warlords zurechtkommen muss, die über die Provinzen herrschen, und andererseits von den westlichen Interventionsmächten abhängig ist, die ihn schützen und finanzieren.

Auch in Afghanistan wird nun die Frage gestellt: »Where is my vote?« Für eine demokratische Massenbewegung sind die gesellschaftlichen Voraussetzungen jedoch sehr ungünstig. Etwa 70 Pro­zent der Afghanen sind Analphabeten, für sie ist Politik zwangsläufig eine personalisierte Angelegenheit. Nicht soziale Interessen, persönliche Bedürfnisse und politische Vorlieben sind entscheidend, sondern Abhängigkeitsverhältnisse. Das gilt nicht nur für die Bauern, die der Herrschaft eines Warlords unterstehen, sondern auch für den modernen Sektor, für NGO, Bauunternehmen und andere Branchen, die auf westliche Hilfszahlungen und den Schutz der Nato angewiesen sind.
In die Innen- und Gesellschaftspolitik mischen sich Interventionsmächte nur ein, wenn allzu dreiste islamistische Maßnahmen in der westlichen Öffentlichkeit Empörung hervorrufen. Man mag darüber streiten, ob eine Förderung der gesellschaftlichen Demokratisierung durch die Interventionsmächte möglich und sinnvoll ist. Doch den Warlords wurde ein politisches System maßgeschneidert, das einen gemäßigten Islamismus zur Grundlage der Neuordnung machte. Das hat die Demokratisierung behindert. Überdies wurden zahlreiche autoritäre Dekrete Kar­zais geduldet, unter anderem das Verbot von Parteilisten bei den Parlamentswahlen.
Weder die Bündnispolitik des Präsidenten, der ungeachtet seines milden Lächelns Warlords mit gewalttätigen Methoden Stimmen für sich sammeln ließ, noch dubiose Maßnahmen wie die Ernennung eines Beraters Karzais zum Vorsitzenden der Wahlkommission wurden beanstandet. Immerhin scheint die »internationale Gemeinschaft« der Versuchung zu widerstehen, Betrügereien zu ignorieren, obwohl die bei einer halbwegs korrekten Auszählung vermutlich notwendige Stichwahl erneute Militäreinsätze gegen die Taliban erfordern wird. Repräsentanten der EU, der USA und der Uno kündigten eine Überprüfung aller Vorwürfe an.