Antiziganismus in Ungarn

Gefährliche Toleranz

In Ungarn wurden die mutmaßlichen Verantwortlichen für eine Serie von antiziganistisch motivierten Morden und Übergriffen verhaftet. Doch selbst wenn die rassistische Gewalt in einigen Fällen juristisch verfolgt wird, bleibt der Antiziganismus in der ungarischen Gesellschaft tief verankert.

Am 21. August 2009 wurden vier mutmaßliche Mörder in in einer Diskothek Debreczen verhaftet, die beschuldigt werden, sechs Angehörige der cigány-Minderheit ermordet zu haben (cigány steht für »Zigeuner«, dieser Begriff ist in Ungarn von der Minderheit akzeptiert und wird weitgehend benutzt). Bei Hausdurchsuchungen fand die Po­lizei mehrere Gewehre und stellte einen Geländewagen sowie detaillierte Landkarten sicher, auf denen die Orte der Anschläge markiert waren.
Die Verdächtigen werden derzeit mit insgesamt neun Verbrechen in Verbindung gebracht, ihnen werden Mord, Mordversuch, Körperverletzung und Brandstiftung vorgeworfen.
Die Verhaftungen erfolgten im Rahmen von Ermittlungen in 63 Fällen von Gewalt gegen die cigány-Minderheit, die in den vergangenen 18 Monaten sechs Tote und über 50 Verletzte forderten. Damit beschäftigt sich derzeit eine 120köp­fige Sondereinheit der Polizei. Der jüngste Fall ereignete sich Anfang August im nordostungarischen Kisléta. Dort wurde eine 45jährige alleinerziehende Mutter in ihrem Haus ermordet, die Tochter überlebte schwer verletzt.
Ungarische Medien enthüllten zudem Details aus dem Leben der Tatverdächtigen. Einer der Männer soll demnach früher als Kfor-Soldat im Kosovo gedient haben. Außerdem sei sein Schwager Polizist und habe die Tatwaffen beschafft. Zwei der Verhafteten sind ehemalige Skinheads mit eindeutiger Vergangenheit.

Einer von ihnen ist István K., der 1995 mit Komplizen in der Synagoge von Debreczen den Toraschrank anzündete, woraufhin die sich dort befindliche Torarolle verbrannte. István K. war damals Vorsitzender des Verbands der Kameraden der östlichen Front (KABSZ) in Debreczen. So hieß auch die Organisation des nach dem Krieg hingerichteten Kriegsverbrechers Béla Imrédy. Mit der Brandstiftung in der Synagoge begann die Organisation am 6. Januar 1995 (dem Geburtstag von Ferenc Szálasi, dem Anführer der Pfeilkreuzler) ihre Aktivitäten.
Trotz eines Programms, in dem ausdrücklich verkündet wurde, angestrebtes Ziel des Vereins sei »die Schaffung eines von Parasiten befreiten Ungarns«, wurde der KABSZ vom ungarischen Gericht damals genehmigt.
Dem damaligen Leiter der zuständigen Staatsanwaltschaft zufolge ist das Programm der Organisation weder rassistisch noch antisemitisch gewesen, denn es sei nicht spezifiziert, wer als »Parasit« bezeichnet werde.
Hätte an dieser Stelle »Zigeuner« und »Juden« gestanden, dann wäre »selbst das Gericht in den Verdacht des Antisemitismus und Rassismus« geraten. Das Gericht sei nicht verpflichtet, den Wortgebrauch der Klassiker des Nazismus zu kennen, lautete die Erklärung.
Nach der Schändung der Synagoge ordnete die Staatsanwaltschaft eine Untersuchung an. Doch aufgrund einer Entscheidung des Verfassungsgerichts war die Staatsanwaltschaft nicht berechtigt, die Legitimierung der gerichtlichen Eintragung zu überprüfen. Sie konnte nur untersuchen, ob die Organisation nach ihrem Statut handelte. Im Fall des KABSZ hätte man problemlos feststellen können, dass das Anzünden der Tora nicht dem gerichtlich eingetragenen Ziel des Vereins widersprach.
Die Staatsanwaltschaft überprüfte, ob István K. als Privatperson oder als Vorsitzender des KABSZ das Feuerzeug benutzt hatte, um den Toraschrank anzuzünden. Der KABSZ wurde erst einige Jahre später verboten. Obwohl selbst die Synagogenschänder nach ihrer Verhaftung sofort gestanden hatte, dass ihre Tat antisemitisch motiviert war, beschloss die Polizeidirektion des Komitats Hajdu-Bihar, dass »die Jungen lediglich getrunken hatten und ihr Treiben in der Synagoge für einen guten Spaß« hielten. Anklage wurde lediglich wegen »Sachbeschädigung« erhoben und das Verfahren wegen Mangels an Beweisen eingestellt.

Die Diskriminierung von Zigeunern hat in Ungarn auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aufgehört, und die sonst nicht so toleranten Machthaber haben die antiziganistische Hetze sehr wohl toleriert.
Bereits 1989 war offensichtlich, dass an der cigány-Minderheit die politischen Entwicklungen der Nachkriegszeit spurlos vorübergegangen waren. Nur ein Bruchteil dieser Minderheit gehört der konsolidierten Gesellschaft an, der überwiegende Teil leidet unter struktureller Armut und der Diskriminierung durch die ungarische Gesellschaft. Eine 1989 veröffentlichte Meinungsumfrage unter Mitgliedern der ungarischen KP im Komitat Borsod ergab, dass zehn Prozent der Parteimitglieder eine »Endlösung der Zigeunerfrage« für wünschenswert hielten, das heißt Sterilisation oder physische Vernichtung.
1988 erschien in der Tageszeitung der von westlichen Medien als »liberal« angesehenen patriotischen Volksfront ein Vorabdruck des Buchs »Das Leben ist Verbrechen«. Das Werk, verfasst vom bekannten Schriftsteller György Moldova, enthält Dutzende Stellen, in denen antiziganistische Vorurteile verbreitet werden. Auf den Protestbrief eines jungen Pädagogen, der an den damaligen ungarischen Ministerpräsidenten Karoly Grosz adressiert war, antwortete dieser: »Langsam bilden Zigeuner keine Minderheit mehr, denn ihre Zahl wächst stark, gleichzeitig weist die Zahl der Verbrechen immer mehr in ihre Richtung hin. Unserer Meinung nach verstehen es die Zigeuner nicht, jene Möglichkeiten zu ergreifen, die dazu geeignet wären, die berechtigten Vorur­teile der Bevölkerung auszuräumen.«
Als Anfang der neunziger Jahre Skinheads verstärkt Zigeuner und Ausländer angriffen, versuchten die konservativen Medien zu erklären, dass diese Scheußlichkeiten, die auch Todesop­fer forderten, nichts mit Politik und Rassismus zu tun hätten. Auch heute versuchen rechte Medien in Ungarn, Morde und Übergriffe als eine Fehde innerhalb der Minderheit zu verharmlosen, zu Auseinandersetzungen innerhalb der »Zigeuner-Mafia« zu erklären oder gar fremde Nachrichtendienste zu beschuldigen.
Für die Verharmlosung der rassistischen Gewalt sind nicht nur rechte Medien, Justiz und Polizei verantwortlich. In der gesamten ungarischen Gesellschaft sind antiziganistische Vorurteile tief verankert.
Kardinal Péter Erdö verurteilte am 20. August eindeutig den Hass und die Ausgrenzung, fügte aber hinzu, es sei eine schreckliche Sünde, nach einem Verbrechen auch dann »Rassismus« zu schreien, wenn man nicht wissen könne, ob das der Fall sei.
Vielleicht wollte der Kardinal jenen Rassisten unter den Gläubigen entgegenkommen, die es nicht gerne haben, als solche bezeichnet zu werden. Denn Antiziganismus und rassistische Hetze, oft auch mit Berufung auf »christliche Werte«, sind in Ungarn weit verbreitet. Als die Opfer der Morde zu Grabe getragen wurden, vermisste man den konservativen Staatspräsidenten László Solyom und die hohen Würdenträger der Kirchen. Da spielt vielleicht politisches Kalkül mit, denn die Mehrheit der Ungarn hat nichts übrig für Zigeuner. Die ungarische Gesellschaft toleriert seit zwei Jahrzehnten die offene Hetze gegen Juden, Zigeuner und andere mit dem Hinweis auf »Meinungsfreiheit«. Für die Folgen dieser Toleranz ist sie mitverantwortlich.