Wie steht die deutsche Linke zum Mauerfall? Der Mauerfall war kein Grund zum Jubel

Die Mauer erfüllte ihren Zweck

Der Mauerfall war nicht nur ein Grund zum Jubel. Das Bauwerk war ebenso wie die Besatzung Deutschlands eine Art Diktatur zur Erziehung der postfaschistischen Gesellschaft.

Die Freundinnen und Freunde der DDR in der Bundesrepublik sind nicht gerade zahlreich gewesen. Dass sie in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 nicht mitgejubelt haben, dürfte nicht weiter aufgefallen sein. Unter den damals so Begeisterten müssten sich aber einige befunden haben, die Anlass zur Dankbarkeit nicht nur für den Fall der Mauer, sondern auch für ihren Bau 1961 hatten. Das waren die Zivilgesellschaftler. Mit etwas Nachsicht kann man darunter diejenigen verstehen, die sich immer eine nach innen und außen friedfertige und sozialstaatlich wohlgeformte Bundesrepublik gewünscht haben, sagen wir mal: wie Skandinavien. 1945 hatten die vier Siegermächte Deutschland ja unter Sicherungsverwahrung genommen, und die USA hatten Reeducation verordnet.
Letztes Jahr schrieb Götz Aly, es sei Konrad Adenauer gewesen, der zusammen mit Hans Globke bereits in den fünfziger Jahren dieses Programm verwirklicht habe. Er irrte. Dieses Verdienst kam erst der Mauer zu. Sie zwang die Bundesrepublik, sich endlich selbst ernst zu nehmen, nachdem ihr der Osten vorerst verbaut worden war. Bis dahin verstand die Bundesrepublik sich als das Deutsche Reich im Wartestand und in den Grenzen von 1937. Diesen Anspruch hat sie sich zwar auch später noch, nämlich 1973, vom Bundesverfassungsgericht bestätigen lassen, aber da wurde das nicht mehr so richtig ernst genommen. Der Grund war die Mauer.

Bevor sie gebaut wurde, hatte die BRD nur wenig Geld für Bildungsinfrastruktur aufgebracht. Warum auch? Abiturient(inn)en, Ärzte, Ingenieure und Facharbeiter kamen kostenlos aus der DDR. Zwei Jahre nach dem 13. August 1961 rief der Philosoph Georg Picht die (west-)»deutsche Bildungs­katastrophe« aus, Schulen und Univer­sitäten wurden hastig ausgebaut. Damit begann der Aufstieg der Intelligenz als Massenschicht und der Weg nach 1968.
Der Mauerbau wurde zwar als große Frechheit beklagt, dass »der Westen« ihn aber nicht hatte verhindern können, löste doch Nachdenken aus, und dies allein ist ja schon eine nützliche Tätigkeit. Man kam zu dem Ergebnis, dass der Sozialismus sich ungestraft einiges leisten konnte, also recht stark war. Um ihn zu beseitigen, musste man intelligentere Mittel ersinnen, zum Beispiel den »Wandel durch Annäherung«. Die BRD ist durch die Mauer also klüger geworden.
Die Integration von Angehörigen der alten Eliten, die das Dritte Reich mitbetrieben hatten, in die Machtstruktur der Bundesrepublik hatte die ersehnte Wiedervereinigung nicht näher gebracht. Im Gegenteil: Kaum jemand auch im westlichen Ausland wünschte wirklich, dass ein Land mit einer solchen Innenarchitektur wieder zur alten Machtfülle gelangen solle. Wer wiedervereinigt werden wollte, musste Reue zeigen. Also begann jetzt, in den sechziger Jahren, allmählich die Auseinandersetzung mit der Zeit zwischen 1933 und 1945: Auschwitzprozess in Frankfurt/Main, Enthüllungen über die Vergangenheit von Professoren, Richtern und hohen Beamten.
Der Weg der Bundesrepublik nach Westen war nach 1949 zunächst als militärpolitische Anbindung sowie in der Rezeption von US-amerikanischen Kulturprodukten und dem Konsum von Genussmitteln erfolgt. Jetzt schaute man sich, da man in der eigenen Nationalstaatlichkeit keinen rechten Halt mehr fand, etwas genauer in der neuen europäischen und atlantischen Heimat um und entdeckte den Vietnam-Krieg. Die BRD-Linke sah sich als Teil einer weltweiten antiimperialistischen Bewegung. Ohne die Mauer im Rücken wäre man mit national Näherliegendem befasst geblieben, zum Beispiel mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen aus der DDR.

Die Sicherungsverwahrung für Deutschland war von der Anti-Hitler-Koalition als gemeinsames Projekt geplant gewesen: als jahrzehntelange Besetzung und Erziehung dessen, was vom alten Reichsgebiet übrig geblieben war. So ist es dann ja auch gekommen, mit dem Beginn des Kalten Krieges allerdings in deutlich veränderter Form: Nicht ein ganzes Deutschland wurde domestiziert, sondern zwei halbe. Die von allen vier ehemaligen Alliierten trotz gegenteiliger Beteuerung vorerst nicht gewünschte deutsche Einheit hätte sich in den sechziger Jahren durch einen Zusammenbruch der DDR wiederhergestellt, wäre 1961 der Bau der Mauer unterblieben. Dann hätte man auch die fortdauernde Erziehungsarbeit an den Deutschen abbrechen müssen.
Als das Bauwerk 1989 fiel, war eine neue Generation herangewachsen, die gelernt hatte, sich besser zu benehmen. Die Mauer war also eine Art heilsamer Erziehungsdiktatur gewesen, die jetzt, da ihr Zweck erfüllt war, überflüssig geworden war. Man sollte ihr in diesem Sinn ein ehrendes Andenken bewahren.