Abdruck aus: »Jugendroman«

Laues Lüftchen über Omsk

Wir schreiben das Jahr 1977, Deutscher Herbst. Martin Schlosser ist 15. Mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester Wiebke lebt er in Meppen und führt ein Leben zwischen Fußball-Bundesliga und der großen Politik. Und dann ist da obendrein auch noch Michaela Vogt.

Wolfgang Kleff war endlich wieder fit, doch im Weserstadion büßte Gladbach in den letzten neun Spielminuten durch Dusseligkeit zwei Punkte ein, als Bremen beim Stand von 1:2 den Ausgleichstreffer schoss und dann auch noch den Siegestreffer. Auf dem elften Platz stand Gladbach jetzt und damit bereits im oberen Einzugsbereich der Abstiegszone. Es war eine Schande.

Um den Forderungen der Schleyer-Entführer Nachdruck zu verleihen, hatten palästinensische Terroristen ein Flugzeug voller Touristen gekapert, die Landshut, eine Lufthansa-Boeing, die jetzt irgendwo zwischen Zypern, Beirut und Damaskus herumflog, und dann hieß es, dass die Maschine Kurs auf Bagdad nehme und dann auf Kuwait und dann auf Bahrein und dann auf Dubai.
Dubai fand ich im Diercke-Atlas auf Seite 96 in dem Rechteck G 4, auf einer Landspitze zwischen dem Persischen Golf und dem Golf von Oman.
Was da wohl für Gangster den Ton angaben?

Im DFB-Pokal besiegte Gladbach den Bonner SC mit 3:0, und Bayern München war vom FC Homburg, hahaha, mit 3:1 geschlagen worden.

Papa fuhr am Sonntagvormittag in dichtem Nebel ab, nach Bielefeld, wo Oma Schlossers 78. Geburtstag in kleinem Kreis gefeiert werden sollte.
In den Nachrichten hieß es am Nachmittag, dass der Landshut im Südjemen keine Erlaubnis zur Landung erteilt worden sei. Diese Luftpiraten wussten wohl selbst nicht so genau, wo sie hinwollten. Bedasselter ging’s ja überhaupt nicht mehr. Ein Flugzeug entführen und dann ziellos in der Gegend herumdüsen. Da fragte man sich doch, was die Hijacker sich davon versprachen?
Dann wurde gemeldet, dass die Landshut in Aden gelandet sei, aber wo steckte jetzt der Scheiß-Diercke?

Mama kam mit Wiebke superspät in der Meppener Nebelsuppe an. Man habe ja kaum mal drei Meter weit sehen können, sagte Mama, und jetzt brauche sie einen Sherry.
Papa ließ sogar noch länger auf sich warten.

Von dem Kiosk am Bahnübergang lachte mir morgens die neueste Ausgabe der National-Zeitung entgegen.
›Juden-Verbrennungen‹ erfunden
Die Lügen gegen deutsche Soldaten
Kommt Hitler wieder?
In Meppen war alles beim alten.

In der großen Pause gingen Hermann und ich zu Meyer, wo ich mir den neuen Spiegel kaufte. »Terror«, stand groß auf der Titelseite, und darunter: »Schleyer«, »Flugzeug«, »Atom«.
»Wieso Atom?« fragte Hermann. Das sei eine »Unstimmigkeit«. Diese Unstimmigkeit klärte sich beim Lesen des betreffenden Artikels über mögliche Akte der Sabotage gegen Atomkraftwerke auf. Damit könnten Terroristen ganze Landstriche auf Jahrzehnte hinaus verseuchen.
Im Spiegel stand auch ein Aufsatz über Heinrich von Kleist, der in diesen Tagen 200 Jahre alt geworden wäre, wenn er sich nicht 1811 erschossen hätte, zusammen mit einer Freundin, »deren Seele wie ein junger Adler fliegt«, laut Kleist, der das geschrieben hatte, als es seine »ganze jauchzende Sorge« war, »einen Abgrund tief genug zu finden, um mit ihr hinabzustürzen«.
Bassa Teremtetem! Von Heinrich von Kleist würde ich mir mal was holen bei Gelegenheit, aus der Stadtbücherei.

Die Landshut war in Mogadischu in Somalia gelandet, und da schmissen die Entführer die Leiche des erschossenen Piloten aus dem Flugzeug. Jürgen Schumann. Auf eine Geisel mehr oder weniger schien es denen nicht anzukommen.

Die alte Unterhose wieder anziehen oder sich die Mühe machen, eine frische aus dem Schrank zu holen, das war jeden Morgen die gleiche Herausforderung, aber nicht an diesem Dienstagmorgen. Da war es egal, in was für ’ner Unterhose ich den Tag über rumrennen würde: Eine Spezialeinheit deutscher Polizisten hatte die Landshut gestürmt, alle Geiseln befreit und bei dieser Aktion drei der Entführer erschossen. Eine Komplizin hatte schwerverletzt überlebt.

Hermann meinte, dass die Bullen jetzt bald auch die anderen Ganoven zu fassen kriegten. Das sage ihm sein sechster Sinn. Die hätten irgendwie den Bogen überspannt, und wenn sie vernünftig wären, dann würden sie den Schleyer laufen lassen.

Mittags kam die Nachricht, dass sich drei der vier in Stammheim einsitzenden Terroristen umgebracht hätten: Baader erschossen, Raspe erschossen, Ensslin erhängt. Nur Irmgard Möller sei dem Tod von der Schippe gesprungen, mit schweren Schnittverletzungen. Die Pistolen, mit denen sich Baader und Raspe erschossen hätten, seien in den Knast hineingeschmuggelt worden.
Mord oder Selbstmord, das war die Frage, über die auch bei der nächsten Sitzung der Schülerzeitungsredaktion heiß diskutiert wurde. Andreas Baader habe merkwürdige Sandspuren an den Kreppsohlen seiner Schuhe gehabt …
Er traue dem Führungspersonal der BRD ja so einiges zu, sagte Hermann, aber nicht den Mord an irgendwelchen Hampelmännern. Das seien ja nun nicht irgendwelche Hampelmänner gewesen, die da gekillt worden seien, sondern eindeutig politisch ganz bewusste Vorkämpfer einer besseren Gesellschaftsordnung, auch wenn man über die Methoden dieser Typen natürlich streiten könne, sagte ein vollbärtiges Monstrum aus der Oberstufe, und dann stand auf einmal das Wort Hungerstreik im Raum. Ob wir nicht selbst einen Hungerstreik machen wollten, hier und jetzt, aus Protest gegen die Morde in Stammheim …
Die hätten zu viele Krimis gesehen, sagte Hermann, als wir in der Stadtschänke saßen und einen hoben. Er komme da nicht mit. »Die haben doch ’n Vogel, wenn sie glauben, dass der Baader und seine Kumpane da irgendwie meuchlings exekutiert worden sind. Oder glaubst du vielleicht an diesen Quatsch?«

Ich glaubte an gar nichts, und es erstaunte mich auch nicht, dass die Polizei bald darauf Schleyers Leiche entdeckte, im Kofferraum eines Autos. Der Bundesregierung teilte die RAF dazu mit:
Wir haben nach 43 Tagen Hanns-Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet.
Per Genickschuss. So hatten die sich ihre Geisel vom Halse geschafft.

Den stürmischen Fohlen hielt Roter Stern Belgrad nicht einmal im Heimspiel stand. 0:1 Schäfer, 0:2 Heynckes, 0:3 Simonsen. Hoho! Und wenn die jugoslawischen Vereinsoberen den Trainer entließen, würden sie noch genau so blöde dastehen mit ihrer Holzhackertruppe.

Mama tippte Einladungen zur Feier von Papas Fünfzigstem, die im November stattfinden sollte, an dem Wochenende nach dem Geburtstag, der auf einen Donnerstag fiel. Mit rund dreißig Gästen sei zu rechnen, sagte Mama, und es müsse kein Lokal gemietet werden. Hier zuhause sei die ganze Chose doch gemütlicher und billiger zu haben.

Als ich mich auf den neuen Fotos erblickte, hätte ich fast gekotzt. In Papas altem Schlabberpulli sah ich aus wie ein Doofi, und mit meiner Grünschnabelfresse wäre ich auch sonst kein schöner Anblick gewesen.

Auf dem Bökelberg war Gladbach den Bayern noch immer gewachsen und gewann mit 2:0 durch Tore von Heynckes in der 9. und der 48. Minute. Ob es nun wohl endlich aufwärtsging?

Zur Strafe für die verfehlte Kreisreform war die CDU in Jever bei den Kommunalwahlen von 44 % auf 28,2 % abgeschmiert, während sich die SPD von 44,2 % zu satten 62,9 % emporgeschwungen hatte. In den meisten anderen Bezirken sahen die Ergebnisse ganz ähnlich aus. Da hätten sie aber einen Nackenschlag verpasst gekriegt, die Brüder, sagte Oma, als sie anrief, um ihre Freude mit uns zu teilen.

An dem Abend ging ich mit Mama mit zu einer blöden Komödie, die in der Aula dargeboten wurde, und das beste war, dass Mama hinterher vor unserem Haus selber abermals gegen das Tabu verstieß, auf den Ampelknopf zu drücken, dessen Betätigung die Autofahrer auf der Georg-Wesener-Straße zum Anhalten zwang.

Im Radio sang Gilbert Bécaud.
Elle avait un joli nom, mon guide
Nathalie … 
Der hatte einen runden Geburtstag.
L’important,
c’est la rose,
crois-moi … 
Otto Waalkes hatte dieses Lied mal parodiert: »L’Impotenz dans ma Hose.« Ob Gilbert Bécaud das wusste?

In Englisch beorderte die Gewonk einen gewissen Mr. Finch als Referendar in die vordere ­Gefechtslinie.
Ihr Ehrensklave, der heißt Finch,
den nimmt sie täglich in den Clinch,
das härtet ab fürs frühe Grab,
Gewonk, Gewonk, Gewonk!
Hermann und ich skandierten die neue Strophe auf dem Pausenhof, bis wir merkten, dass die Gewonk die Aufsicht führte. Hoffentlich hatte die nichts von unserer Einlage mitgekriegt.

In Erde ging’s um die drei Klimatypen (tropisch, gemäßigt, polar) und in Sozialkunde um die Manipulation durch Massenkommunikationsmittel, aber ich hatte nur Augen für Michaela Vogt. Von der schädlichen Wirkung der Massenkommunikation hatte ich in diesem Fall noch nichts bemerkt, und in einer tropischen Klimazone hätten Michaela und ich vielleicht schon mal ein Fass zusammen aufgemacht.

Um mich zu bilden, kaufte ich mir ein Taschenbuch mit Essays von Thomas Mann und nahm mir vor, darin bis drei Uhr morgens zu lesen. In einem der Essays berichtete Thomas Mann von einer Schiffsreise nach Amerika. An Bord des Schiffs mussten die Uhren jeden Tag ein Stückchen zurückgestellt werden, wegen der Zeitverschiebung. Die gewonnene Zeit, schrieb Thomas Mann, würde ihm am Zielhafen aber nichts nützen:
Denn Zeitgewinn ist nicht Lebensgewinn, und wenn wir versuchten, dem Kosmos ein Schnippchen zu schlagen, und, drüben angelangt, weder vorwärts noch rückwärts gingen, sondern mit unseren sechs Stunden sitzenblieben und sie hüteten wie Fafner den Hort, so würde damit der uns organisch beschiedenen Lebensfrist nicht eine Sekunde hinzugefügt sein … 
Um nicht einzuschlafen, rieb ich mir das Gesicht zwischendurch mit einem nassen Waschlappen ab. Besonders aufregend war es nicht, was Thomas Mann da zu Papier gebracht hatte. Manchmal fiel mir erst am Ende einer Doppelseite auf, dass ich zwar alles gelesen, aber mir nichts davon gemerkt hatte.
Bis halb drei hielt ich durch; dann fiel mir vor Müdigkeit immerzu das Buch aus der Hand. ­Irgendwann ließ ich es liegen, um es niemals wieder anzufassen, schon aus Ärger nicht, weil mir das ganze Experiment nichts eingetragen hatte außer Langeweile und am nächsten Morgen dann noch schlafmangelbedingten Kopfschmerzen.

Aus Bad Sassendorf erhielt ich einen Brief von Tante Lena, mit einem eingelegten Fünfmarkschein.
Lieber Oliver!
Die verwechselte mich wohl mit einem meiner Vettern oder mit sonstwem, denn sie war ja mittlerweile auch schon über Achtzig und befand sich in einem Senioren-Pflegeheim. Wenn ich es zeitlich einrichten könne, schrieb sie, solle ich mal schreiben, denn ihr Leben sei oft sehr einsam, und sie selbst sei ein sterbensreifes Wrack und habe schon wochenlang keinen Besuch mehr bekommen. Wegen ihrer Gehbehinderung könne sie nichts unternehmen. Für die schlechte Handschrift bat Tante Lena um Entschuldigung: Die Beweglichkeit des rechten Armes und der Hand wollten trotz vieler Massagen und Gymnastik nicht besser werden. Daher habe sie sehr viele Briefschulden, und bald würden ihr alle Verwandten böse sein. Das Altwerden sei oft schwer, doch der treue Gott werde wissen, warum …
Solche Briefe konnten einem Angst einjagen, einerseits vorm Älterwerden und andererseits vor der Möglichkeit, diese Tante jemals besuchen zu sollen, ihr die knochige Hand zu schütteln und sich dann stundenlang das Jammern über die Gicht und die Einsamkeit anhören zu müssen. An der Wand Albrecht Dürers »Betende Hände« als Kunstdruck im Wechselrahmen, auf der Fensterbank ’ne tote Wespe und neben der Nachttischfunzel ein Traktat über die Kunst des Sterbens, so stellte ich mir das Pflegeheimzimmer vor, und da zog es mich nicht hin. Ich kam mir ein bisschen schäbig vor deswegen, zumal Tante Lena sich als Geschenk für mich fünf Mark von ihrer Rente abgeknapst hatte, aber ich hätte wirklich keine Lust dazu gehabt, dieser gebrechlichen Großtante einen Besuch abzustatten.

Mich interessierte mehr die große Politik. »Afrika ist kein Exerzierfeld für pervertierte Vorstellungen von parlamentarischer Demokratie«, hatte Franz-Josef Strauß im Bundestag gesagt, um seine Kumpanei mit afrikanischen Diktatoren zu rechtfertigen. Deutschland hätte der wahrscheinlich auch am liebsten als Diktator regiert, wenn er gedurft hätte.

Johan Cruyff gab seinen Länderspielabschied. Mit dreißig Jahren! Stanley Matthews war noch als 41jähriger Feldspieler zu Europas Fußballer des Jahres ernannt worden, und was hatte man von einer WM zu erwarten, bei der die holländische Mannschaft ohne Cruyff antreten würde?

In Kunst sollten wir ein politisches Plakat zeichnen, egal, mit welcher Aussage. Hermann pinselte einfach eins von Klaus Staeck nach, mit ordensbehangenen Generalen der Bundeswehr:
Wir produzieren Sicherheit (für die Aktionäre der Rüstungsindustrie). Um den Lorber zu ärgern, malte ich eine Bombe mit einem Lorbeerkranz obendrauf und mit einer feuersprühenden Zündschnur an der Seite.
»Thema verfehlt«, sagte Hermann, als er das sah.
Ralle malte ein Protestplakat, auf dem ein überschäumender Humpen Bier zu sehen war. »Alkohol? Ja – aber nur in Maßen!« Diesen Aufruf zur Mäßigung schrieb er obendrüber, aber weil er Großbuchstaben benutzte, stand da:
ALKOHOL? JA – ABER NUR IN MASSEN!

Zum Klavierüben vermochte ich mich immer seltener aufzuraffen, aber von meiner Gage fürs Fensterputzen kaufte ich mir ein Taschenbuch über Beethoven. Als Jüngling hatte der einmal Mozart getroffen und behauptet, auf dem Pianoforte über jedes Thema frei improvisieren zu können.
Verdutzt blickte Mozart in die Runde, klopfte dem jungen Pianisten freundschaftlich auf die Schultern und sagte: »Auf den gebt acht, der wird einmal in der Welt noch von sich reden machen!«
Da hätte ich gern Mäuschen gespielt, bei dieser Begegnung. Oder bei der ersten zwischen Paul McCartney und John Lennon. Oder bei der allerersten zwischen Müller, Maier und Beckenbauer. Da hätte einer mit der Kamera dabeistehen müssen. Was dieser Film wohl wert wäre inzwischen!

Papa baute zwei neue große Kompostsilos, und er wollte höchstpersönlich auch die Polstergarnitur neu beziehen, obwohl Mama gerade mit viel Glück die Nummer eines Polsterers ermittelt hatte.
Von mir aus hätte Mama auch die Nummer eines professionellen Blätterharkers ermitteln können, aber was mich am meisten fertigmachte, war die Hausaufgabe, den Flächeninhalt irgendwelcher Kreise zu berechnen. Wie gut hatten es doch die Neandertaler gehabt – ohne Polstergarnituren, aber auch ohne Mathe!
Dafür war Gladbach wieder in Form: Nach einem Hattrick von Allan Simonsen lag Braunschweig zur Pause mit 0:3 hinten und musste sich am Ende mit 0:6 geschlagen geben. Sauber.
Oma Jever rief an, um uns mitzuteilen, dass sie drei Richtige im Lotto habe, »endlich, endlich«, und dass Tante Gisela mit einem neuen Mann in engerer Verbindung stehe, der offenbar recht wohlhabend sei. Zu Papas Geburtstagsfeier wolle dieser Mensch aber nicht mitkommen. Der gehe nicht so gern aus sich heraus.
»Dann soll er’s eben bleiben lassen«, sagte Mama.

Bei der nächsten Fensterputzorgie ließ ich das Weiße Album laufen.
Crabalocker fishwife pornographic
priestess boy you been a naughty girl,
you let your knickers down … 
Genau an dieser Stelle kam Mama ins Wohnzimmer rein und fragte: »Na, was macht dieses unartige Mädchen da?«
»Knickers« waren Damenschlüpfer, wie ich später herausfand. Ich hatte nicht geahnt, dass diese Songzeile so anzüglich war.

Den Thriller »Achterbahn«, der im Germania an der Hubbrücke lief, wollte mal wieder niemand ansehen außer mir. Ich fragte sogar Wiebke, aber die winkte ab: »Interessiert mich nicht … « Ein von mir spendiertes Eis fressen, das konnte sie, aber mir dann auch mal ’ne Gefälligkeit zu erweisen, das war nicht drin, und ich musste alleine hin.
Der beste Moment war der, in dem das Saallicht erlosch und keiner mehr so genau sehen konnte, dass niemand neben mir saß, und der zweitbeste, als der erste große Achterbahnunfall passierte. Den hatte ein Saboteur herbeigeführt, der sich danach mehrmals telefonisch vernehmen ließ, aber nie so lange, dass der Anruf zurückverfolgt werden konnte. Das hätte man sich merken können, als Verbrecher: Ganz kurz angebunden sein am Telefon, sardonisch lachen und den Hörer auflegen, bevor die Bullen einen am Schlafittchen kriegen.
Den Hauptdarsteller, George Segal, kannte ich bereits aus Robert Altmans Glücksspielerfilm.

Ich hatte schon gedacht, jetzt wär’s vorbei, aber dann lag doch wieder ein dicker Umschlag mit Michaels Absenderangabe auf der Treppe.
Blblbl.
Wir hatten mal wieder Klassenfest. Meine Erfahrungen vom letzten Mal kühl in Betracht ziehend, ging ich nicht hin. Es soll nicht viel besser geworden sein als letztes Mal. Weil eine »Lehrperson« mitmusste und sich kein Lehrer in Aussicht dessen, was ihn erwartete, meldete, gaben sie einfach den Längsten aus der Klasse (1,87 m) als »Studienreferendar Baum« aus, und alles ging glatt. Mehr weiß ich von dem »Fest« nicht. Is’ auch besser so.
Im Moment hab ich Ferien. Sonst hab ich außer Langeweile nichts, nich’ mal Geld. Woher auch? Wenn man den ganzen Tag im Zimmer hockt und die Wände anstarrt? Damit lässt sich natürlich kein Geld machen. Im Radio hör ich gerade: »Grave­digger is on its way to you.« Schluck.
Der Harald hat’s gut. Sitzt als Student in Aachen und haut auf die Pauke. 100 Mark hatter in einer Woche ausgegeben! So viel brauche er wohl jede verdammte Woche, sagter. Menschenskinder! Hundert Mark! In der Woche! In sieben Tagen! Einfach ausgegeben! 14 Mark am Tag verprasst!! Von 14 Mark leb’ ich ’n ganzes Jahr. Und der schmeißt das Geld an einem einzigen Tag irgendwelchen Kapitalisten in den Rachen. Frisst Kaviar und Cremeschnitten, und unsereiner knabbert an seinem versteinerten Brotknusen herum. Selbst die Mehlwürmer für unsere neue Dohle haben’s da besser. Haferflocken kriegense und schönes, frisches Weißbrot. Da soll einer nich’ überschnappen. Und auch die Wellensittiche, die genäschigen Viecher, werden von früh bis spät mit auserlesenen Spezereien beliefert. Honigperlen, Vitaminkörner, knackige Salatblätter und so weiter. »Gravediggers get a job to do, Gravediggers are waiting for you … « Der Kerl im Radio soll die Schnauze halten.
Bis jetzt hab ich ja nur Mist geschrieben. Das ­än­dert sich wohl auch nicht mehr. Ich schildere bloß wahrheitsgetreu, wie es hier ist. Und du Dussel sehnst dich nach hier zurück! Du weißt überhaupt nicht, was für ein Glück du hast. Oder es ist so, dass Old Valla im Vergleich mit Meppen wie das reinste Paradies abschneidet. Dann hast du aber wahrlich nichts zu lachen! Wenn ich mir das vorstelle … Vallendar ein Paradies … nee, das geht nicht. Dann wäre Meppen längst entvölkert (durch Selbstmord). Also, sei froh, dass du in Meppen wohnst.

Meinen geharnischten Antwortbrief trug ich noch am selben Tag zum Postamt. Da hing ein Fahndungsplakat aus, mit einem Foto von Susanne Albrecht oben links an erster Stelle. Den verkniffenen Gesichtsausdruck hätten sich diese steckbrieflich gesuchten Gestalten sparen können, denn man wusste ja auch so, dass sie gegen den Staat waren.

Von Gladbach wurde Roter Stern Belgrad auf dem Bökelberg an die Wand gespielt, mit 5:1, wobei sogar ein Eigentor der Gastmannschaft gefallen war, und da kriegte ich fast doch schon wieder Lust dazu, meine Karriere beim SV Meppen fortzusetzen.

Aus dem Zeitschriftenregal bei Meyer angelte sich Hermann das Satiremagazin Pardon heraus, aber das war blöd. Da erklärte einer allen Ernstes, dass er beim Meditieren die Schwerkraft überwunden habe.
Kein Witz: Ich kann fliegen!
Um mein Spektrum zu erweitern, kaufte ich mir auch mal die von linken Radikalinskis verfasste Monatszeitschrift konkret. Darin stand ein Bericht von Atomkraftgegnern, die von der Polizei und dem Bundesgrenzschutz mit schikanösen Mitteln behindert worden waren, auf der Fahrt zu einer Demonstration in Kalkar.
Zur Atomkraft hatte ich keine Meinung, aber wenn jemand dagegen protestieren wollte, hätte das doch erlaubt sein müssen?

Mein politisches Plakat war dem Lorber nicht politisch und nicht plakativ genug erschienen, und er gab mir eine 4 dafür, der alte Stinker, aber Hermann kriegte eine glatte 2 für sein Plagiat. Dass Hermann sich bei Klaus Staeck bedient hatte, war dem Lorber gar nicht aufgefallen.

Auf dem Bökelberg holte sich Saarbrücken eine 6:1-Packung ab, und Gladbach stand auf einmal auf Platz 4, nur zwei Punkte hinter dem Tabellenführer Köln.

In der Krimiserie Tatort wollten Polizisten einer Frau die traurige Nachricht überbringen, dass ihr Mann bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei, aber die rief bloß: »Hans, komm mal her und hör dir das an!« Und siehe da, der Mann war noch putzmunter, und der Tote musste jemand anderes gewesen sein.
In dieser Folge kamen auch die Meppener E-Stelle und ein Panzer vom Typ Leopard vor, an dessen Herstellung Papa mitgewirkt hatte.
Ob die Russen wohl schon mal einen Spion auf Papa angesetzt hatten? Oder eine Spionin?

Ich quälte mir einen Dankesbrief an Tante Lena ab und in Englisch eine Nacherzählung, die 151 Wörter länger ausfiel als das Original. Das Fatale war, dass man desto mehr Fehler machen konnte, je mehr man schrieb.

Auf ihrer Deutschlandreise kam uns eine Tochter von Mamas nach Venezuela ausgewanderter Jugendfreundin besuchen und quartierte sich für sechs Wochen bei uns ein. Sylvia Döbel. Die sprach ein lustiges falsches Deutsch, aber im Vergleich mit Michaela Vogt hatte sie nicht viel zu bieten.
Mama wollte abends mit Sylvia und Papa zu den Lohmanns fahren und einen heben, und ich wurde streng ermahnt: »Mach hier ja keinen Blödsinn!«
»Nee, ich kuck mir bloß ’n alten Spielfilm an.«
»Und welchen, wenn ich fragen darf?«
Der Film, den ich sehen wollte, war ein sowjetischer Stummfilmklassiker mit dem Titel »Sturm über Asien«. Da verdrehte Mama die Augen: »Haben die’s nicht ’ne Nummer kleiner?«
Als Sowjetkommissarin hätte Mama dem Film wahrscheinlich einen bescheidener klingenden Titel verpasst. »Laues Lüftchen über Omsk« oder so.

In Englisch ging es um die Frage, welche Adjektive in der Reklame für Konsumprodukte am häufigsten vorkämen – new, good, better, best, free, delicious, full, sure, clean, wonderful, special, fine, big, great, real, easy, bright, extra, safe, rich, unique –, und da merkte man erst, wie subtil sich dieser Werbescheiß auswirkte, bei einem selber, denn ich soff ja selbst, so oft ich konnte, viel lieber Cola als Apfelsaft, obwohl doch kein Mensch so genau wusste, was in Cola alles drin war. Tante Dagmar hatte mir mal gesagt, dass Wissenschaftler über Nacht ein rohes Hühnerbein in ein Glas Cola gestellt hätten, und am nächsten Morgen sei bloß noch der Knochen übrig gewesen.
Es grenzte ja an Gehirnwäsche, wenn man das wusste und dann trotzdem der bewährten Marke treu blieb.

Von Hermann lieh ich mir ein von Freimut Duve, Heinrich Böll und Klaus Staeck herausgegebenes Taschenbuch aus (»Briefe zur Verteidigung der Republik«). Darin hatte der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich einen »Brief an einen (fiktiven) Sohn« veröffentlicht:
Lieber Sohn, ich schreibe dir, weil mich unser gestriges Gespräch sehr nachdenklich gestimmt hat und ich glaube, dass es noch einiges zu klären gibt. Zuerst war ich, wie du weißt, zornig und ­erschreckt … 
Was war denn das für ’ne verquere Tour? Keinen Sohn haben, aber dem dann einen Brief schreiben, voller Zorn über ein Gespräch, das gar nicht stattgefunden hat?
Da war mir Papa doch lieber. Mit dem konnte man zwar überhaupt nicht reden, aber dafür ließ er einen in Ruhe, solange es keine Blätter zu harken gab.

Die Eins für meine Nacherzählung in Englisch brachte mir eine Mark ein, und mit den restlichen Bodenschätzen aus meinem Sparstrumpf konnte ich am Samstag Ralle und Bohnekamp nach der letzten Stunde in die Stadtschänke begleiten, als gleichberechtigter Zechkumpan.
»Jetzt gibt’s für mich nur noch eins, was zählt«, erklärte Ralle. »Saufen, saufen, saufen!« Das bezog sich aber nur auf den Konsum von einem halben Liter Bier.
An der Wand befand sich ein Aushang mit den Jugendschutzgesetzen. Höhö. Wenn in der Stadtschänke vorn die Bullen hereinkamen, zischten manchmal irgendwelche Wichte durch die Hintertür ab, während unsereiner ganz gelassen sitzenblieb und sich am gläsernen Henkel des Bierkrugs festhielt, in dem Bewusstsein, schon alt genug auszusehen, um dieses Recht in Anspruch nehmen zu dürfen.

Den Tabellendritten Schalke warf Heynckes durch sein 1:2 in der 87. Minute aus dem Rennen und beförderte Gladbach durch diesen Sieges­treffer auf den zweiten Tabellenrang. Die Kölner kriegten hoffentlich schon kalte Füße an der Spitze.

Als die Lohmanns abends bei uns zu Gast waren, drängte Herr Lohmann Sylvia ein Bier auf, aber die wollte nicht, und das enttäuschte ihn: »Da ist das Mädchen nun schon mal in Deutschland, und es will kein Bier trinken!«
Auf geringe Gegenliebe stieß er auch mit der Einladung zu einem gemeinsamen Saunabesuch. In diesem Moment hätte man Papas Gesichtszüge auf die Platte bannen müssen, um sich noch fünfzig Jahre später daran ergötzen zu können. Papa in der Sauna!
Was zu weit ging, ging zu weit.

Interessanter wär’s gewesen, wenn Mama und Papa mal die Eltern von Michaela Vogt zu Gast gehabt hätten. Schlotter! Ich hätte mich wahrscheinlich versteckt vor denen. Oder hätte ich mich dann irgendwie produzieren sollen? Damit sie ihrer Tochter erzählten, wie gut ich auf den Händen laufen und klavierspielen könne? »Also, dieser Martin, das ist echt ’n doller Typ, Michaela, den solltest du mal näher kennen lernen … «

»Mit Martin verlier ich immer«, sagte Sylvia nach einem Schachspiel am Volkstrauertag, denn im Kräftemessen mit mir zog sie immer den kürzeren, obwohl ich Scheiße spielte.

Beim Abendbrotschmieren fragte Mama sich, wo Sylvia blieb. Die habe nur einen Brief einwerfen wollen, und nun sei sie schon mehr als eine Stunde lang auf Achse.
Als Sylvia endlich wieder bei uns ankam, sagte sie: »Ich wollte einen Spaziergang machen, aber ich hab mich verloren.«

Um sich über das Weltgeschehen ganz objektiv informieren zu können, hätte man außer der Meppener Tagespost auch die Zeitungen aus dem Ostblock lesen müssen. Neues Deutschland, Literaturnaja Gazeta, Prawda und Trybuna Ludu, aber diese Blätter kriegte man in Meppen nicht zu kaufen, und ich konnte weder Russisch noch Polnisch. Eigentlich ’ne Bildungslücke.

René Goscinny war gestorben, der Erfinder von Asterix, mit 51 Jahren, aber der Weiler weilte noch unter den Lebenden. Andersrum hätte ich’s besser gefunden.

Ein Kreisgymnasiumspauker, den ich nicht persönlich kannte, hatte angeblich gesagt: »Zu enge Jeans erhöhen das Wollen und vermindern das Können.«

Um mich politisch zu engagieren, wollte ich in die SPD eintreten, aber das war gar nicht so leicht, denn die existierte nicht im örtlichen Telefonbuch, und ich musste Olaf telefonisch um die Adresse der Bonner Parteizentrale bitten. Wir sähen uns dann ja bald, sagte er, und ich wusste erst gar nicht, wovon er sprach, bis mir einfiel, dass Papas fünfzigster Geburtstag vor der Tür stand, mit Besuchermassen, die einen unkrautfreien Garten besichtigen wollten.

In einem Freundschaftsspiel gegen die Schweiz erzielte Klaus Fischer nach einer Flanke von Abramczik per Fallrückzieher das 4:1, und da juckte es mich selbst wieder im linken Fuß. Aber einfach so das Training wiederaufzunehmen und so zu tun, als ob alles paletti sei, das wäre auch nicht gegangen.

Zum Geburtstag schenkte Mama Papa zwei neue Arbeitshosen, die er sich gewünscht hatte. Ich selbst hatte einen Comic gezeichnet, in dem Papa als Heimwerker figurierte, und von Sylvia erhielt er eine Packung Lutschdrops.
»Na, da haben wir ja wieder was zum Anbieten«, sagte Papa. Von der E-Stelle brachte er mittags einen Gummihammer mit, der ihm von seinen Kollegen geschenkt worden war.

Was es für einen selbst bedeutete, von einem Vater abzustammen, der bereits ein halbes Jahrhundert alt war, das musste man sich auch erst einmal klarmachen.
Immerhin war Papa noch jung genug, um einem bei der Gartenarbeit ins Genick zu springen, wenn man das Unkraut nicht mitsamt der Wurzel ausriss.

Am späten Abend stellte sich heraus, dass Wiebke sich an meinen Walt-Disney-Taschenbüchern vergriffen hatte, und ich zwang sie dazu, mir alle entwendeten Exemplare wieder auszuliefern.
»Schluss da oben mit dem Gegalpe!« rief Mama von unten.
Ich hätte gern eine Wohnung für mich ganz allein gehabt, so wie Tante Dagmar. Die Tür hinter sich zumachen können und für sich sein, ohne Eltern und Geschwister. Schlüssel rumdrehen, zack, und alle können einen am Arsch ­lecken!

Nach der Schule entnahm ich den Radionachrichten, dass der Schatzmeister der SPD verstorben sei, Wilhelm Dröscher, ein Vorkämpfer der europäischen Einigung.
»Der Dröscher ist gefreckt«, sagte ich beim Mittagessen, vor einem Teller mit Kartoffelbrei, Klopsen und Bohnen, und Papa verbat sich diese Ausdrucksweise. »Wenn du mal tot bist, dann sagen wir ja auch nicht: Martin ist verreckt!«
»Das hat er doch auch nicht gesagt«, wandte Mama ein.
»Sondern?«
Ich hatte keine Lust zu wiederholen, was ich gesagt hatte, und die blöde Missstimmung hielt auch beim Nachtischessen noch an.
»Ist dein Zimmer aufgeräumt?« fragte Mama mich, als ich meinen Teller leergekratzt hatte.
»Noch nicht.«
»Marsch ab!«

Aus Jever holte Papa Oma und Opa ab sowie zwei Wannen voll Geschirr. Wir seien ja alle tüchtig gewachsen, sagte Opa, als er dem einen Meter neunzig langen Elend Volker im Hausflur die Wichsgriffel schüttelte.
Am Nachmittag kamen auch Renate und Olaf. Für Papa hatten sie zwei Eisenbahnhäuschen mitgebracht.
Beim Tee drehte sich das Gespräch um die RAF. »Hoffentlich fängt die Polizei nun bald diese Verbrecherbande«, sagte Oma.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Gerhard Henschel: Jugendroman.­Hoffmann und Campe, Hamburg 2009. 528 Seiten, 23 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.