Flämische Nationalisten

Schneewittchen und die flämischen Löwen

Eigentlich ist die »Gordel« ein harmloser Volkswandertag in der Brüsseler Peripherie. Flämische Rechtsextremisten jedoch nutzen ihn als Bühne für nationalistische Propaganda. Eine Spurensuche zwischen Pommes und Hüpfburgen.

Und ob es ihnen gefallen hat! Nichts als strahlende Gesichter bei Familie De Rycke, die weite Anreise aus Ostende hat sich gelohnt. Fast den ganzen Tag sind sie durch das Brüsseler Umland spaziert, Mutter, Vater, der kleine Hund auf dem Arm und die vierjährige Tochter im Kinderwagen. Für Küstenbewohner ist die Hügellandschaft schon etwas Besonderes, dazu gab es freundliche Mitwanderer und eine entspannte Atmosphäre. Die Teilnehmermedaille hält die Kleine in der Hand, und an ihrem Buggy hängt ein Luftballon, auf dem »Split BHV« steht: BHV spalten.
»Den haben wir an irgendeinem Stand bekommen«, sagt Frau De Rycke achtlos. Was die Aufschrift bedeutet, weiß sie nicht genau, da sei ihr Mann besser informiert. Doch auch der zuckt nur mit den Schultern. Schließlich sind sie zum Wandern gekommen.
BHV, das sind die drei entflammbarsten Buchstaben des mehrsprachigen Belgien. Ein Synonym für Ärger. Sie stehen für Brüssel und die beiden Kleinstädte Halle und Vilvoorde im Umland der Metropole. Eine komplexe Konstellation ist das: Im Norden machen flämische Parteien ihre Propaganda, im Süden frankophone. Nur in der Mitte, im Großraum Brüssel, ist das anders. Dort sind beide Sprachgruppen vertreten. In der Stadt wird mittlerweile fast nur noch französisch gesprochen, was sie bei flämischen Nationalisten so populär macht wie Babylon bei orthodoxen Rastafaris.
Unlängst forderten die flämischen Parteien erstmals ein unabhängiges Flandern, notfalls auch ohne Brüssel. Umso stärker ist dafür ihr Griff nach dem Umland, dem »flämischen Rand«, wie sie das nennen, mit Betonung auf dem Adjektiv. Doch die Demographie sagt etwas anderes. In den ruhigen, zu Flandern gehörenden Randgemeinden haben sich mittlerweile so viele Frankophone niedergelassen, dass manche Gemeinderäte rein französischsprachig sind. Daher wollen alle flämischen Parteien den Wahlkreis spalten. Die Peripherie muss flämisch bleiben, heißt die Parole.

Im aufgeheizten Klima der vergangenen Jahre ist die Region in den Mittelpunkt des Sprachenstreits geraten. In der Stadt merkt man davon nichts. Doch hier draußen ist alles Symbolik, und die Gordel, die an diesem Septembersonntag zum 29. Mal stattfindet, ist es erst recht. Kein Dorf im Umkreis von 100 Kilometern, durch das nicht Kolonnen von ambitionierten Amateurradlern ziehen, Belgien ist immerhin ein Radsportland. Dynamische Wanderer mit strammen Waden und gemächliche Familien säumen die Landstraßen, in diesem Jahr sind es 70 000 Teilnehmer. Und die meisten, erzählt Peter Janssens, kommen wegen des Sports.
Janssens sitzt in einem Container des Veranstalters Bloso, einer Breitensportorganisation der flämischen Regierung, in Sint-Genesius-Rode, auf Französisch Rhode-Saint-Genese. Die Straßenschilder sind hier zweisprachig, ein paar Kilometer weiter beginnt Wallonien. Die körperliche Bewegung, holt Janssens aus, sei kein Selbstzweck. Vielmehr solle sie »die flämische Anwesenheit in der Gegend betonen«. Ein Volkswandertag mit Kinderanimation und politischer Botschaft.
Manchmal muss man nach dieser etwas suchen. Beim Startpunkt in Rode ist die Gordel ein Familienereignis, und zwar eines, von dem die Kinder schleunigst verschwinden, wenn sie etwas älter sind. Ein paar Hüpfburgen für die Kleinen, Stände für die schnelle Fleischzufuhr, biedere Radiostationen beschallen die Szenerie. Die Seniorentanzgruppe Okra (»Offen, Christlich, Respektvoll, Aktiv«) fällt da schon etwas aus dem Rahmen, denn zu ihren Darbietungen läuft Rap-Musik, ein Remix der Sugarhill Gang.
Eine Mitarbeiterin verteilt Informationen. Jedes Jahr seien die rüstigen Rentner hier, »und mit Politik haben sie nichts zu tun«, sagt sie. Damit liegen sie anscheinend im Trend. Zumal die Teilnehmer, die weiter weg wohnen, kümmern sich kaum um den Hintergrund der Veranstaltung. Selbst die Bogenschützen, die auf einem abgetrennten Gelände eine Vorführung geben, lassen in der Spätsommersonne keinen Gedanken an Wehrsportgruppen aufkommen, zu denen einige der Nationalisten eine chronische Verbindung haben.
In Dilbeek bietet sich ein anderes Bild. Die kleine Gemeinde liegt im Westen vor den Toren der Hauptstadt, am Horizont ist die urbane Skyline Brüssels zu erkennen. In diesem Jahr ist hier der größte Start- und Zielpunkt, für jeden sei etwas dabei, verheißen die Broschüren. Für historisch Interessierte gibt es eine Denkmalroute, und die kinderfreundliche Wanderung ist nach Schneewittchen benannt. Doch wer nun die sieben Zwerge erwartet hat, liegt falsch. Die Straße gehört hier dem flämischen Löwen. Schwarz und mit leuchtend roter Zunge ist er hundertfach auf gelben Flaggen, Mützen, Wimpeln und Aufklebern abgebildet. Aggressiv? Da ist Ivan Mertens anderer Meinung. Ein geselliges, offenes und faszinierendes Land sei Flandern, und mit Blick auf den Löwen klingt das wie: »Der will doch nur spielen.«

Mertens steht im Zentrum des ganzen Löwenkultes. Werbung für Flandern wollen er und seine Mitstreiter von der Initiative Vlaanderen Vlagt (Flandern zeigt Flagge) machen, im In- und im Ausland das reaktionäre, ultranationalistische Image korrigieren, das der Region oft anhängt. Völlig zu Unrecht, finden sie, und deswegen betreiben sie bei Sportwettkämpfen und an Wandertagen ihren Merchandisingstand. Letztes Jahr verkauften sie 13 000 Flaggen, gar 25 000 Abnehmer ließen sich mit der kleineren Gratisversion zum Jubelflamen ausstatten.
Mertens, auf dessen Schirmmütze »Flandern ist schön« steht, ist davon überzeugt, dass die Region eines Tages unabhängig wird. Hinter dem Stand steht ein Lieferwagen, auf den eine durchgestrichene belgische Flagge gemalt ist. Daneben künden große Buchstaben von der Republiek Vlaan­deren. Dennoch will Mertens von Politik nichts wissen. Keiner Partei verbunden seien sie, und dann erhebt er wieder die Stimme und preist seine Löwenschweißbänder an, zwei Stück für zwei Euro: »Echt flämisch, also Top-Qualität!«
Es ist nicht alles schwarz und gelb, was hier auf den Beinen ist. Einigen Radlern steht zwar ein geradezu entrückter Ausdruck im Gesicht, während sie sich einen Löwensticker aufkleben lassen. Doch gerade Jugendliche lehnen ihn mit verächtlichen Handbewegungen ab. Die Belegschaft des örtlichen Weltladens distanziert sich vor ihrem bunten Peace-Banner von den Nationalisten, sie seien hier nur aus PR-Gründen, wie jedes Jahr, und ob die Region BHV gespalten wird, sei ihre Sorge nicht. Wirtschaftliche Gründe dominieren auch nebenan den Stand von Ecover, allerdings kombiniert mit Umweltbewusstsein. Die Poster für gesundes Wohnen gibt es in Niederländisch und Französisch. »Ökologie ist für alle«, sagt Veronique, die aus Gent kommt, mit breitem Grinsen. Und fügt schnell an, allein der Arbeit wegen hier zu stehen. »Privat würde ich nie im Leben auf die Gordel gehen. Ich bin eher für einen ruhigen Tag in der Natur zu haben, ohne Frankophone und Flamen und Spaltung.«
Natur bietet die Veranstaltung en masse, doch von Ruhe ist man zumindest in Dilbeek – wo, wie auf einem Transparent steht, »Flamen zuhause sind« – weit entfernt. Eine ölige Wolke liegt über der Frittenmeile am Startpunkt. Die Rasenfläche um den Kreisverkehr ist zum Picknickplatz umfunktioniert, Sponsoren bringen ihre Werbegeschenke unters Volk, Kinder lassen sich schminken. Auf der Bühne covert sich eine Band durch Jackson Five, Kirmeskracher und Pennywise. Bizarren Crossover gibt es hier nicht nur auf musikalischer Ebene. Gerade beginnt man, den Löwenwahn als Folklore abzutun, da kommt eine Plakatsäule in den Blick. »Willkommen im flämischen Rand«, grüßt darauf die Jugendabteilung des Vlaams Belang. Der radikale flämische Nationalismus taucht eher selten mit kurz geschorenem Schädel in der Öffentlichkeit auf. Häufiger kommt er untergehakt bei den ganz normalen Leuten daher.
»Ach, es ist ein Kreuz mit diesen Extremisten!« Johan Laeremans hat es satt, immerzu mit ihnen in einen Topf geworfen zu werden. Am Stand der Flämischen Volksbewegung agitiert er für die Wahlkreisspaltung, gegen die flämischen Milliardensubventionen für die verarmte Wallonie mit ihren Industriebrachen, und erzählt von seiner Angst, dass hier in 50 Jahren nur noch Französisch gesprochen wird. »Dagegen wollen wir vorgehen«, sagt der drahtige alte Herr, aber selbstverständlich mit friedlichen Mitteln. »Kein Blut und Boden, keine ethnischen Säuberungen«, beteuert er, und in aller Aufrichtigkeit merkt er dann noch an: »Ich will nicht verhehlen, dass unser Hauptziel die flämische Unabhängigkeit ist.« Laeremans’ Kollege Jo van Beveren blickt bedrückt drein. Auch er macht sich ernsthaft Sorgen um das Image der Bewegung. Dass ausländische Journalisten auf der Gordel aufkreuzen, beunruhigt ihn. »Die Frankophonen wenden sich immer an Frankreich und stellen uns als Extremisten dar. Die internationale Presse übernimmt das dann«, lamentiert er.
Auf den Gedanken, bei der Wahl seiner Allianzen etwas Vorsicht walten zu lassen, scheint man hier noch nicht gekommen zu sein. Die seriös auftretende »Volksbewegung« kooperiert mit dem »Sprachaktionskomitee«, einer Gruppe junger Menschen, die bei zweisprachigen Ortsschildern in der Gegend den französischen Namen übersprühen. Darauf angesprochen, beteuert man, mit ihnen kaum zu tun zu haben. Mit dem gleichen Verweis distanzieren sich die Sprachschützer von Mitgliedern der rechtsextremen, rassistischen Organisiation Voorpost, die, wie der Teufel es will, zufällig auf denselben Demonstrationen auftauchen. »Von links bis rechts sind alle willkommen«, so fasst Jo van Beveren das Credo der Flaminganten zusammen. Nur um dann in einem Anflug von Machtlosigkeit einzuräumen: »Da kann man nicht verhindern, dass einige auch bei anderen Parteien mitmachen.«

Den Kriegszustand im Gordelland haben indes nicht die Flamen ausgerufen. Verantwortlich dafür war vor zwei Jahren, als die Debatte um die Region BHV eine Staatskrise verursachte, ein Mann mit dem symbolkräftigen Namen François van Hoobrouck d’Aspre. Belgische Geschichte komprimiert in einer Biographie: Die Hoobroucks stammen aus Asper in der Nähe der alten flämischen Metropole Gent. Als Angehörige der Bourgeoisie sprachen sie Französisch, und aus dem Sitz der Familie wurde Aspre. Ein Ergebnis dieser Assimilation ist François, 1934 geboren und »ein echter Frankophoner«. Genau als solcher wurde er zu einem typisch belgischen Kuriosum: ein Kommunalpolitiker, den das ganze Land kennt. Er ist Bürgermeister in der wohlhabenden Gemeinde Weezembeek-Oppem, die östlich der Hauptstadt liegt, auf dem Papier ein Teil von Flandern, und in der überwiegend Französisch gesprochen wird. Vor seiner Wiederwahl 2006 verschickte er, ebenso wie seine Amtskollegen in zwei benachbarten Kommunen, die Wahlunterlagen zweisprachig: auf Niederländisch an die Flamen, auf Französisch an den Rest. Die flämische Regierung hält das für einen Verstoß gegen die komplexen Sprachgesetze und weigert sich seitdem, die drei, die derzeit kommissarisch im Amt sind, offiziell zu ernennen. Seither spalten die drei Bürgermeister das Land. Den Frankophonen gelten sie als bewundernswerte Rebellen, den Flamen als arrogante Provokateure.
Van Hoobrouck kennt seine Rolle. »Jaja, ›den Teufel aus Weezembeek‹ nennen sie mich«, lacht der schmale Mann mit den streng nach hinten gekämmten weißen Haaren. Er lacht oft, so viel, dass die Partie um seine Augen davon ganz faltig geworden ist. Aber er kann auch aufbrausen, als er erzählt, dass die Sprachaktivisten neulich vor seinem Haus demonstrierten. Die riesigen Hände fahren empört auf den Tisch, »ich habe die Polizei gerufen, zuhause will ich meine Ruhe haben«, und überhaupt, was wollten die Extremisten? »Mir ein Fahrrad überreichen, damit ich endlich einmal selbst an der Gordel teilnehmen kann! Doch die«, und jetzt lacht der Bürgermeister wieder, »ist nichts für mich«. Er sieht in der Veranstaltung eine aggressive Drohung, Brüssel zu umzingeln.

2008 wurden van Hoobrouck und seine beiden Kollegen daher zu Spielverderbern. Sie drohten, der Gordel die Durchfahrt zu verweigern, sollten die Teilnehmer nicht auf politische Parolen verzichten. Erst nach einer Schlammschlacht in den Medien gaben sie nach. In aufgeheizter Atmosphäre zogen die Wanderer und Radler durch den Brüsseler Rand.
In diesem Jahr hat sich die Situation etwas beruhigt. Eigentlich wollte van Hoobrouck ein Schild aufstellen lassen, welches die Teilnehmer zweisprachig begrüßt. Doch nicht einmal dazu ist es gekommen.
Erleichtert ziehen die Lokalradios am frühen Abend Bilanz: mehr Sonne, weniger Politik, alles friedlich. Marc Snoeck, der Direktor des flämischen Kulturzentrums in Weezembeek-Oppem, schüttelt den Kopf. Seine Erfahrung sei eine andere, vielleicht, weil hier ein Zentrum des Sprach-Tribalismus liegt. Zweisprachige Ortsschilder werden zu einsprachigen umgestaltet, Flamen stürmten schon so manche Gemeinderatssitzung, wenn dort nur Französisch gesprochen wurde. Gordel-Gegner hingegen machen durch Sabotageakte auf sich aufmerksam. »Auch in diesem Jahr«, erzählt Marc Snoeck, »gab es in Weezembeek am Morgen dutzende Platten durch Reißnägel auf der Straße. Andere Teilnehmer verfuhren sich, weil Wegweiser umgedreht wurden. Auf einem Teil der Strecke verschwand in der Nacht zuvor die gesamte offizielle Beflaggung.« Die Teilnehmer der 100 Kilometer langen Radtour, die gleichsam verschwitzt und entspannt im ­Innenhof des Kulturzentrums vor ihren Bieren sitzen, mögen eine andere Sprache sprechen. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Auf flämischer Seite hört die Lust am Spalten nicht bei einem Wahlkreis auf. Und François van Hoobrouck d’Aspre, der sonst so umgängliche Bürgermeister, der behauptet, »den Flamen« zu verstehen, betont andererseits: »Ich bin nicht verantwortlich für den Krieg. Aber wenn sie ihn wollen, können sie ihn haben.«