Über den Biopic »Wüstenblume«

Superschicksal trifft Supermodel

Ein Globalisierungsmärchen: Vom Ziegenstall in Somalia über den Catwalk in New York auf die Podien der UN. Der Film »Wüstenblume« schildert die Karriere der Waris Dirie und setzt sich zugleich gegen Beschneidung ein.

Dem Körper sichtbare Spuren einzuschreiben als Zeichen einer echten oder imaginären Gruppenzugehörigkeit – je gefährlicher und schmerzhafter, desto stärker die Faszination –, dies ist ein Grundcharakter archaischer Rituale. Wo es sie nicht gibt, erfindet man sich welche: Branding, Tattoos, Piercing – ganz, als habe man Franz Kafkas Erzählung »In der Strafkolonie« verinnerlicht, wo der Urteilsspruch wieder und wieder in den Körper gestanzt werden muss: Den eigenen Leib mit Wehe zuzurichten, davon geht eine ungebrochene Magie aus. Sich die Art der Verletzung auszusuchen, mag die Freiheit der neuen unteren Stände sein. In traditionellen Gesellschaften gibt es eine Wahlmöglichkeit nicht.
Waris, die junge Frau aus Somalia, deren Name »Wüstenblume« bedeutet, ist Überlebende einer jener rabiaten archaischen Praktiken: die der Genitalverstümmelung. Lebenslange Tributzahlung an die höhere Familienordnung; sie reglementiert die weibliche Sexualität. Waris ist fünf Jahre alt, als die alte Frau ihr die Schnitte mit einer verrosteten Rasierklinge beibringt. Die Wunde wird mit Draht und Dornengestrüpp vernäht. Zum Geschlechtsverkehr und bei Geburten steht die gewaltsame Öffnung an. Waris hat genug Verwandte, die dies nicht überlebt haben.
Als sie 13 wird, beschließt sie, aus ihrem Dorf zu fliehen, sie will der drohenden Zwangsverheiratung entkommen. Für die Stammespolitik der Familie ist die Heirat allerdings von großer Bedeutung.
Als Anhalterin wird sie beinahe Opfer einer Vergewaltigung, dennoch schafft es das Mädchen nach Mogadischu. Verwandte sorgen dafür, dass sie als Putzfrau in der somalischen Botschaft in London unterkommt. Eines Tages beginnt in Somalia der Bürgerkrieg, der Botschafter verlässt fluchtartig das Land. Waris lebt nun als Illegale in Großbritannien und putzt den Boden bei McDonald’s. Alsbald wird sie von einem Fotografen entdeckt und zu einer Laufsteg-Berühmtheit gemacht, die Millionen verdient.
Verstümmelt, an Leib und Leben bedroht, Krieg: Die Story ist überladen, aber echt, gleichsam zu wahr, um nicht erfunden zu sein: Die »Wüstenblume« Waris Dirie begann ihre Karriere Ende der achtziger Jahre, zur selben Zeit wie Über-Schönheiten à la Naomi Campbell und Claudia Schiffer. Dirie aber hatte etwas darüber hinaus zu bieten: das authentische Schicksal, das den Mythos des Kapitalismus neu schreibt. Superschicksal trifft Supermodel: Bauernkind aus der ärmsten Weltregion, Opfer einer Zeremonie, die mittlerweile weltweite Aufmerksamkeit und Ächtung nicht zuletzt aufgrund von Diries’ Wirken erfuhr –; die schöne Frau als Widerstandskämpferin im Krieg gegen die häusliche Gewalt.
Die Werbeträgerin für Chanel und andere Modeketten hat es bis zur UN-Botschafterin gebracht, Millionen Bücher verkauft und Stiftungen gegen die weibliche Beschneidung, die haupt­sächlich in den afrikanischen Ländern in der südlichen Sahel-Zone praktiziert wird, gegründet. Die Beschneidung scheint so unglaublich und so fern, dabei hat man sie in Europa, wo sie nicht zuletzt als probates Mittel gegen das Elend der Selbstbefriedigung praktiziert wurde, erst in den fünfziger Jahren endgültig abgeschafft.
Endgültig? Identifiziert wird die weibliche Genitalbeschneidung zwar ausschließlich mit den Ländern der so genannten Peripherie, auch weil sie hier eben äußerst schmerzhaft und zuweilen tödlich verläuft, doch eine Zurichtung der Genitalien wird auch in den Industrieländern praktiziert; nur firmiert sie hier als »kosmetische Korrektur«. Die Beschneidung der Schamlippen und der Klitorisvorhaut gehört zu den Eingriffen, denen sich Frauen in der westlichen Kultur – mit steigender Tendenz – unterziehen. Auch wenn die Sexualität – im Unterschied zu den archaischen Formen der Klitorisbeschneidung – dadurch in den meisten Fällen nicht beeinträchtigt wird, vergleichen manche Kulturwissenschaftlerinnen diese Eingriffe miteinander. Dass man für die Schönheit leiden müsse, ist nicht nur in den Ländern der Sahel-Zone ein wichtiges Argument. Und auch der Anpassungsdruck und die Normierung und Kontrolle des weiblichen Körpers kämen in beiden Fällen zum Zuge.
Was ist mit dem freien Willen? So ungewöhnlich ist diese Praxis nicht, dass sie nicht manchmal von Frauen, oft von den Müttern der kleinen Mädchen, selbst gewünscht würde. Es ist die Brutalität und der Zwang, die bei Familie Dirie und Millionen anderer Familien herrschen, die den Kampf gegen die Beschneidung haben kampagnenfähig werden lassen.
Dirie, das ist eine kulturelle Chiffre: Sie hat es von ganz hinten in die erste Reihe geschafft und bewahrt sich dennoch die geheimnisvolle Erscheinung. Ihr Märchen der Globalisierung auf die Leinwand zu bringen – und den Mythos um eine weitere mediale Ebene zu erweitern, das hat sich die Regisseurin Sherry Hormann mit ihrem Film »Wüstenblume« zur Aufgabe gemacht.
Ruppig und rüde ist der Stil dieser Erzählung des Lebens der Dirie von Beginn an; glänzend bis unmöglich die Verfilmung: Immer in Hetze, atemlos, so dokumentiert dieser oft brüchige und unklare Film diese Geschichte, die ebenfalls voller Brüche und Unklarheiten ist. Die Waris Dirie in diesem Format kann nicht reden, nicht schreiben, nicht lesen (das Kind spielt Soraya Omar-Scego, die Erwachsene die ihrerseits mit Top-Model-Karriere gesegnete Liya Kebede). Sie hat keine richtigen Papiere und stolpert durchs Leben. Sie ist wunderschön, aber das sind viele; ihr Typ ist gerade gefragt, der Zufall ist ihr Kunde. Sie geht eine Scheinheirat ein und weiß zugleich, dass ihr Bräutigam, der britische Prolet Neil (Craig Parkinson), sich mehr ausrechnet als die Ehe auf dem Papier. Das Drehbuch sieht an dieser Stelle missglückte Gags in den Szenen vor. Waris: »Was sagt denn deine Freundin dazu?« – Neil: »Die findet das gut, die arbeitet bei Amnesty International.«
Bald reagiert er auf ihre Autonomiebestrebungen mit Schlägen, ganz so, wie man sich das vorstellt, wenn ein englischer Hausmeister eine Scheinehe führt. Somalia, erzählt uns der Film, ist nicht weit weg.
Auch für andere Figuren fällt das eine oder andere Klischee ab: Der Fotograf Terry Donaldson (Timothy Spall), der Waris entdeckt, ist so fett und so schwul, wie man sich einen britischen Starfotografen vorstellt. Die Agenturchefin, die Waris den Catwalk beibringt, ist eine schnippische geldgeile Hexe.
In dieser Umgebung wird die junge Frau nun erkennen, dass sie Macht über die Menschen hat: Beim Casting schlägt sie zu spät auf, aber ihr Gesicht ist so neu und der Betrieb braucht es so dringend. Das Unausweichliche kommt, die Nacktfotos. Auch diese Disziplin wird eingeübt. Gefühlte 30 Filmsekunden später – husch, husch – ist Waris das Top-Model Waris Dirie und verdient Millionen.
Wie dies zeigen? Manchmal ist es geradezu sympathisch zu sehen, wie Hormann mit dieser unglaublichen Biografie kämpft. Da lässt sie ausgerechnet die die Leinwand okkupierende »Happy-Go-Lucky«-Darstellerin Sally Hawkins als dramaturgisches Gegengewicht zu der eher radebrechenden Waris aufmarschieren. Die Rolle der besten Freundin bekommt also ausgerechnet jene Darstellerin, die das Overacting in all seinen Ausformungen revolutioniert hat.
Auch in »Wüstenblume« gibt sich Hawkins ihrem Naturell gemäß alle Mühe, den Film ins Bodenlose zu quasseln. Und dennoch ist dies keine reine Fehlbesetzung: Hawkins repräsentiert hier die großstädtische Geschwindigkeit, an die sich die Wüstentochter, die in der somalischen Botschaft im Keller wohnte, erst mal gewöhnen muss. Unglaublich die Szene, in der Marilyn ein paar Krokodilstränen wegdrückt, als Waris ihr von ihrem kruden Schicksal erzählt. Da hat sich die flotte Engländerin gerade aus der Disco abschleppen lassen und lässt ihre Mitbewohnerin bestgelaunt wissen: »Ey, es ist nur Sex, okay?«
Es stellt sich heraus, das Waris sich nicht auf diese Weise amüsieren kann. Es wird peinlich, auch über die Szenerie hinaus. Und man wünscht, die große Verwurstungsmaschine Kino hätte sich hier mal dezent zurückgehalten. Es sind aber gerade solche Stellen der Ungeübtheit, die jene neuen, spröden Filme ausmachen, die nun vermehrt Stoffe aus afrikanischen oder anderen Zonen der Prekarität erzählen.

»Wüstenblume« (D/A/F 2009). Regie: Sherry Hormann. D: Liya Kebede, Sally Hawkins. Start: 24. September