Über »der springende punkt«, Glossen von Friedrich Achleitner

Phänomenologie des Knackpunkts

Friedrich Achleitner, in den fünfziger und sechziger Jahren Mitglied der Wiener Gruppe, hat eine Auswahl seiner sprachkritischen Glossen zusammengestellt.

In unserem Zeitalter des ständigen Bloggens, Twitterns und Querlesens ist es erfreulich, hin und wieder daran erinnert zu werden, dass jeder gelungene Text seine eigene Geschwindigkeit hat und entsprechend rezipiert werden muss. Proust zum Beispiel muss gemächlich gelesen werden, damit an den entscheidenden Stellen, an denen sich unwiederbringliche Erfahrung in einem scheinbar belanglosen Augenblick kristallisiert, das Tempo entsprechend anziehen kann. Thomas Bernhard dagegen bedarf einer Art konzentrierter Rasanz, damit die atemlosen Wortkaskaden nicht zu jenem belanglosen Gerede zerfallen, zu dem sie bei manchen Bernhard-Lesungen tatsächlich werden. Ähnliches gilt für Gattungen: Eine prototypische Novelle verlangt aufmerksame Schnelligkeit, Aphorismen aber sollten langsam und in nicht allzu großer Dichte gelesen werden, damit sie nicht zur eklektischen Zitatsammlung zusammenschrumpfen. Wer sich nicht daran hält, kommt nicht in den Genuss der Erkenntnis, die sie bereithalten.
Vor der Lektüre von Friedrich Achleitners Prosaband »der springende punkt« ist es nützlich, sich an solche Forderungen zu erinnern, die die Texte selber stellen. Der Autor, im bürgerlichen Leben Architekt und Kunstwissenschaftler, als langjähriger Protagonist des »literarischen cabarets« aber auch ein enger Weggefährte von H. C. Artmann, Gerhard Rühm und anderen Autoren der Wiener Gruppe, hat unter diesem Titel mehr als 120 Glossen zusammengefasst, die über mehrere Jahre hinweg jeweils am Samstag in der Wiener Tageszeitung Der Standard erschienen sind. Ihre äußere Form, die zur Anekdote, manchmal auch zum Kalauer tendiert, könnte dazu verleiten, die Texte als Toilettenlektüre zu gebrauchen: bei Gelegenheit zwei oder drei davon, aber eher als Ablenkung denn als Anregung. In gewisser Weise legen die Glossen selbst eine solche Leseweise nahe. Manche von ihnen erscheinen wie höchst komprimierte Versionen von Roald-Dahl-Stories, etwa die Geschichte vom Mann, der sich aufhängen möchte, den passenden Strick aber nur im Dreierpack erwerben kann und daher mit dem Strickverkäufer und dessen Chef eine Bedarfsgemeinschaft gründet. Andere beziehen sich parodistisch auf tagespolitische Diskussionen, so der Exkurs über die Frage, ob Raucher, da sie in Gemeinschaft von Rauchern schließlich auch Mitraucher sind und Mitrauchen gefährlicher als Rauchen ist, nicht selbst Interesse an Nichtraucherzonen haben müssten. Solche Texte, denen unmittelbar anzumerken ist, dass sie fürs Feuilleton entstanden, eignen sich tatsächlich am besten für den kurzweiligen Gelegenheitskonsum. Bereits sie aber sind mehr als bloße Gelegenheitstexte. Wo sie ein Schlagwort oder eine Formulierung wie die von der Gefahr des »Mitrauchens« so akribisch wie unsinnsverliebt immer wieder hin- und herwenden, ist in ihnen angelegt, was alle Glossen in diesem Band gemeinsam haben: die sprachkritische Zuspitzung der aphoristischen Form. Und die verlangt nach exakter und konzentrierter Lektüre.
Die sprachkritische Glosse begegnet einem bei Achleitner in verschiedenen Varianten. Weitgehend unbekannt ist ihm das Ich, der direkte Bezug auf subjektive Erfahrung. Diese Abkehr vom sprachlichen Subjekt hin zur Sprache, die ihrerseits zum Subjekt wird, das sich selbst widerspricht, wird bereits durch die durchgehende Kleinschreibung indiziert, die Achleitner von der Wiener Gruppe übernimmt: Weil es weniger um die besprochenen Gegenstände geht als um die Sprache selbst, gibt es keine Hierarchien mehr zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Sprechenden und Besprochenem. Umso genauer aber werden Rechtschreibung und Grammatik genommen. So erklärt eine der schönsten und witzigsten Glossen bündig, dass das Wort »zusammen leben« getrennt zu schreiben sei, wenn zwei Menschen glücklich zusammen leben wollten, während ihr »zusammenleben« den sicheren Streit bedeute. Dieser wiederum könne nur geschlichtet werden, wenn das Paar »in streit liege«, auf keinen Fall aber, wenn es ernstlich »instreitliege«. Ein anderes Thema, das sich durch mehrere Texte zieht, ist die Merkwürdigkeit der geschlechtlichen Zuordnung von Worten, die im Deutschen aus dem Busen etwas Männliches macht, während die durchaus auch männliche Brust immer weiblich bleibt, und solche Widersprüche auch durch die Verteilung sächlicher Eigenschaften vom Haar bis zum Herz nicht zu schlichten vermag. Der Gefahr des bloß Humorvoll-Albernen, des versöhnlichen Witzelns über letztlich beliebige Paradoxien, die der Gattung der Zeitungsglosse schon immer immanent war, entgehen nicht alle dieser Texte, die meisten aber schlittern zumindest elegant daran vorbei.
Am besten ist Achleitner immer dann, wenn der aktuelle Bezug seiner sprachkritischen Scharaden (hier das Rauchverbot, dort das feministische »binnen-i«) fast völlig verschwindet im selbstbezüglichen Spiel, in dem die Worte den Aufstand proben und die Phrasen sich selbst demontieren. So in der Glosse über den in Politik und Medien omnipräsenten »knackpunkt«, der doch selbst gar nicht der Knackpunkt sei, sondern nur »die markierung jenes punkts, der zu knacken ist«, oder in dem kleinen Text »kleiner text«, der von nicht viel mehr als von der Schwierigkeit erzählt, einen gelungenen kleinen Text zu schreiben. Diese Glossen, zu denen auch die titelgebende zählt, geben sich nicht mit selbstbezüglichem Wortwitz zufrieden, sondern demonstrieren durch ihre Genauigkeit, ja Diszipliniertheit der Sprachbetrachtung die im Alltag vergessene Banalität von Redewendungen, indem sie deren wörtlichen Sinn rekonstruieren, der dem Sprachgebrauch oft gerade widerspricht. Ein simpleres, aber nicht minder witziges Verfahren der Sprachkritik, das Achleitner gern anwendet, ist die Personifizierung von Redeformeln und Abstrakta, etwa in den Geschichten über »pathos und ironie«, »ignoranz und betroffenheit« oder über den »gewissensbiss« und seinen »korb«. Auch diese Texte neigen der Natur der Sache nach manchmal zur Belanglosigkeit, sind aber in dem Formbewusstsein, mit dem sie eine alte Gattung wiederbeleben, an der nicht zuletzt Autoren wie Karl Valentin, Helmut Qualtinger oder Georg Kreisler partizipiert haben, trotzdem lesenswert.
Auf Karl Valentin bezieht sich Achleitner mitunter selbst und weist damit auf die Tradition der makabren Sprachgroteske hin, die ihn unter den Mitstreitern der Wiener Gruppe am ehesten mit H. C. Artmann verbindet. Aber auch die architektonische Formstrenge und die Mischung aus Sachlichkeit und Witz, die alle seine Texte durchzieht, dürfte mehr mit der Konkreten Poesie als mit Achleitners Beruf zu tun haben. Es sind Gebrauchstexte in einem Sinn, der heutzutage fast vergessen ist, so dass sich der Autor durchaus der Gefahr aussetzt, gemeinsam mit Valentin, Kreisler und anderen kleinen Großen auf dem literarischen Grabbeltisch zu landen. Die Texte selbst können ihrer genuinen Form nach dagegen wenig Widerstand leisten. Deshalb gilt hier noch mehr als sonst bei Glossen und Anekdoten die Empfehlung der langsamen, gelegentlichen, aber nicht wahllosen Lektüre. Alles andere würde aus Achleitners Band ein Coffee Table Book für Leser des Standard machen. Darin liegt seine Stärke und seine Schwäche.

Friedrich Achleitner: der springende punkt. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien 2009. 129 Seiten, 14,90 Euro