Über »Die Windsbraut«, Erzählungen von Leonora Carrington

Walzer mit Hyäne

Sie ist die letzte Überlebende des Surrealismus. Die bizarren Erzählungen der Malerin und Schriftstellerin Leonora Carrington erscheinen jetzt auf Deutsch.

Eine junge Frau der britischen Oberschicht soll als Debütantin an einem Ball teilnehmen. Schon bei dem ­Gedanken daran gelangweilt, schickt sie an ihrer Statt eine Hyäne, die sie im Zoo kennen gelernt hat, zum Ball und versieht sie mit dem Gesicht des Dienstmädchens, welches das Tier kurz zuvor gefressen hat. Auf dem Ball fällt die Hyäne allein deshalb auf, weil sie stinkt. Das ist, mit wenigen Worten zusammengefasst, der Inhalt der Erzählung »Die Debütantin« von Leonora Carrington, ihres berühmtesten Werks.
Konsequenterweise hat der Verlag Nautilus, der sämtliche Erzählungen von Leonora Carrington zusammengetragen hat, die »Debütantin« an den Anfang des nun veröffentlichten Buches »Die Windsbraut« gesetzt. Es folgen weitere skurrile Erzählungen der surrealistischen Malerin, die aus dem Englischen, Französischen und Spanischen übersetzt worden sind. Carrington ist in der englisch- und spanischsprachigen Welt eine berühmte Frau, und der Verlag hat allen Grund zu der Annahme, dass die 92jährige Dame, die in Mexiko-Stadt lebt und arbeitet, auch in der BRD bald über eine große Fangemeinde verfügen wird. Die Schriftstellerin Monika Maron zeigte sich bereits fasziniert und schickt die Protagonistin ihres Romans »Ach, Glück« nach Mexiko, um das Glück und Frau Carrington zu finden, die – so meint Frau Maron – es doch ganz offenbar gefunden hat.
Dass viele, insbesondere Frauen, von Leonora Carrington fasziniert sind, hat wohl mehrere Gründe: Die Esoterikerin und letzte Überlebende des Surrealismus hat Humor, zeigte sich Obrigkeiten und Konventionen gegenüber immer gehörig respektlos und war verrückt; vielleicht ist sie es immer noch. Außerdem scheint sie es zu schaffen, auf eine beeindruckende Art und Weise zu altern. So antwortete sie dem Verleger, der ihre Erzählung »Unten« neu auflegen wollte, mit folgenden Sätzen: »Ich bin nicht mehr das entzückende junge Mädchen, das einmal verliebt durch Paris gegangen ist – Ich bin eine alte Dame, die viel erlebt hat, und ich habe mich verändert – wenn mein Leben etwas wert ist, bin ich das Ergebnis der verstrichenen Zeit – Ich werde also nie das einstige Bild reproduzieren – Ich werde nie in einer ›Jugend‹ versteinern, die es nicht mehr gibt – Ich akzeptiere meinen gegenwärtigen Zustand ehrenwerten Verfalls (…) Wie ein alter Maulwurf, der unter den Friedhöfen schwimmt, bin ich mir bewusst, dass ich immer blind war – ich suche den Tod kennen zu lernen, um weniger Angst zu haben, ich versuche die Bilder, die mich blind gemacht haben, loszuwerden. Ich schicke Ihnen noch viel Liebes und küsse Sie vermittels meines Gebisses (das nachts in einer kleinen himmelblauen Plastikschachtel neben mir liegt) ICH HABE KEINEN EINZIGEN ZAHN MEHR Leonora.«
Im Jahr 1917 wurde Carrington in Großbritannien in eine reiche Industriellenfamilie hineingeboren, gegen die sie – siehe »Die Debütantin« – früh revoltierte. Als junge Studentin der Malerei lernte sie 1935 den deutschen Maler Max Ernst kennen und folgte ihm nach Frankreich. So darf sie in keiner Ernst-Biografie fehlen. Als dieser vor dem Einmarsch der Deutschen als feindlicher Ausländer interniert wurde, brach bei seiner jungen Freundin eine Psychose aus. Geistig verwirrt, floh sie nach Spanien und wurde auf Betreiben ihres Vaters psychiatrisiert, worüber sie in »Unten« mit erstaunlicher Offenheit berichtet hat. So schreibt sie in dieser Erzählung: »In Madrid angekommen, stiegen wir in der Nähe des Bahnhofs im Hotel International ab, das wir wenig später verließen, um uns im Hotel de Roma niederzulassen. Am ersten Abend im Hotel International aßen wir auf dem Dach zu Abend; auf einem Dach zu sein, entsprach für mich einer tiefen Notwendigkeit, denn ich befand mich in einem euphorischen Zustand. In den politischen Wirren und der schrecklichen Hitze gelangte ich zu der Überzeugung, dass Madrid der Magen der Welt und mir die Aufgabe übertragen worden war, diesen Verdauungsapparat zu heilen.«
Es ist erstaunlich, dass sie, den barbarischen Behandlungsmethoden zum Trotz, die Psychose überwand. Es gelang ihr, mit Hilfe einer Scheinehe mit dem mexikanischen Maler Renato Leduc nach New York zu entkommen, von wo aus sie 1943 nach Mexiko-Stadt übersiedelte und sich langsam, sehr langsam, als Malerin und Autorin des Surrealismus etablierte, indem sie in erster Linie Tiere malte: Fasane, Schweine, Raben, den »großen Dachs«, die »rote Kuh«, und fast immer treten sie in Verbindung mit Fabel- und Mischwesen zwischen Mensch und Tier auf, befinden sich in einer Zwischen- oder Parallelwelt, der die Frauen – daran glaubt Leonora Carrington – näher stehen als die Männer. »Ich kenne keine Religion«, sagte sie, »die Frauen nicht für geistig minderbemittelt hält, für unreine, den männlichen Geschöpfen unterlegene Kreaturen, obwohl doch die meisten Menschen glauben, wir wären der Höhepunkt aller Arten. Frauen zwar, doch, Gott sei Dank, Homo sapiens (…). Den meisten von uns, hoffe ich, ist jetzt klar geworden, dass eine Frau keine Rechte beanspruchen sollte. Die Rechte gab es seit dem Anfang der Geschichte, sie müssen nur wieder in Besitz genommen werden, dazu zählen die Mysterien, die uns gehörten und die verletzt, gestohlen oder zerstört wurden und uns in der undankbaren Hoffnung beließen, einem männlichen Tier zu gefallen, das vielleicht unserer eigenen Art angehört.«
Diese Sichtweise, an dieser Stelle nicht unvernünftig formuliert, wirft an anderen Stellen Fragen auf. Carrington, die sich über Jahre hinweg in regelmäßigen Abständen in ein exiliertes tibetisches Kloster in New York zurückzog, hat offenbar allzu viel C.G. Jung und Zeug über keltische Mythologie gelesen, denn sie meinte auch, »dass wir Frauen diskriminiert worden sind wie die Juden, die Neger, die Schweine«.
Carrington verließ Mexiko nach dem Massaker, das die mexikanische Regierung im Oktober 1968 an demonstrierenden Studenten hatte verüben lassen, kam aber wieder zurück und lebt mittlerweile seit über 60 Jahren in Mexiko-Stadt und gilt dort als Institution. Heute säumen Carringtons Plastiken Straßen der Stadt, ihre Arbeiten wurden zum mexikanischen Kulturgut erklärt, und europäische Journalisten streifen durch San Angel, das ehemalige Künstlerviertel von Mexiko-Stadt, in der Hoffnung auf ein Interview.
Fast 60 Jahre lange war Carrington verheiratet mit dem ungarischen Fotografen Emerico Weisz, der als Jude vor den Nationalsozialisten nach Übersee fliehen musste und im Jahr 2007 in hohem Alter verstorben ist. »Wie alt ist er?« hatte eine britische Reporterin Carrington im Verlauf eines Interviews noch im Januar desselben Jahres gefragt und notiert: »›Weiß Gott!‹ schnappt sie zurück mit ihrem üblichen schnellen Blick. ›Er sagt, er ist 95, aber das sagt er schon seit acht Jahren! Ich habe keinen blassen Schimmer!‹«
Die agile Dame hat gute Chancen, ihren wachsenden Ruhm noch einige Jahre genießen zu können. Zu diesem dürfte der Verlag mit der Veröffentlichung der »Windsbraut« beigetragen haben, wenn es auch zweifelhaft ist, ob Sätze wie dieser ewigen literarischen Ruhm genießen: »Unsere Familie ist einfach und bescheiden, meine Mutter ist eine Kuh. Oder besser, meine Mutter ist ein kuhgesichtiger Fächer.«

Leonora Carrington: Die Windsbraut. Aus dem Englischen, Französischen und Spanischen von Heribert Becker. Edition Nautilus, Hamburg 2009. 256 Seiten, 13,90 Euro