Die Ledra Street, Zyperns Checkpoint Charlie

Walk the Green Line

Nikosia möchte mal werden, was Berlin schon ist, eine wiedervereinigte Hauptstadt. Noch zieht sich die Demarkations­linie durch das historische Zentrum der Stadt. Doch am Masterplan für die Zukunft der geeinten Mitte arbeiten die Stadtplaner bereits.

Der UN-Posten am Checkpoint Ledra Street sieht aus wie für »Bodyguard II« gecastet. Sehr sportlich, sehr blond, groß und vertrauenseinflößend steht der Blauhelm in der Mittagshitze und beobachtet hinter seiner Sonnenbrille das Treiben am Vorzeige-Checkpoint inmitten der Shoppingmeile von Nikosia. Eine gute Werbung für die United Nation Force In Cyprus. Ob es ein cooler Job sei, hier als Wächter der Green Line herumzustehen, fragen wir ihn, er gibt zu, dass man es schlechter treffen kann. Das Wetter auf der Insel sei jedenfalls viel besser als zuhause in den Niederlanden, sagt er.
Wenn man dem Posten am blau-weiß angestrichenen Grenzübergang zuschaut, könnte man tatsächlich auf die Idee kommen, dass die Mission der UN-Friedenstruppe längst erfüllt sei und die UNFICYP eine Art international besetzte Folkloregruppe sei, nur dafür aufgestellt, die Welt an einen Konflikt zu erinnern, der außerhalb Zyperns ziemlich vergessen ist.

Tatsächlich hat es in der Vergangenheit im New Yorker Hauptquartier der Vereinten Nationen auch immer wieder Diskussionen darüber gegeben, ob die Anwesenheit der Blauhelme auf Zypern noch sinnvoll sei und welche Rolle die Truppe in Zukunft übernehmen solle. Der freundliche UN-Polizist auf der Ledra Street geht jedenfalls davon aus, dass er noch eine ganze Weile in der Sonne stehen wird, denn es gebe eben doch noch viele Probleme zu lösen.
Für die Menschen in Nikosia gehören die Männer der UNFICYP längst zum Straßenbild. Gelegentlich beschwert man sich über den lässigen Fahrstil der Soldaten, die in ihren Jeeps durch die Straßen brettern. Neben Autofahrten, Sonnenbädern, gelangweiltem Herumblicken in der Gegend und allgemeiner Friedenssicherung haben sie aber auch ganz praktische Dinge zu erledigen, mit denen sie sich dann bei der Bevölkerung beliebt machen können. Versagt eine Versorgungsleitung, die über gegnerisches Gebiet führt – immerhin ist die Pufferzone außerhalb Nikosias an manchen Stellen sieben Kilometer breit –, sorgen die Blauhelme dafür, dass Strom oder Wasser bald wieder fließen, schließlich dürfen sie sich ungehindert auf beiden Seiten der Demarkationslinie bewegen. Was das Mandat ihnen strikt untersagt, ist ein militärisches Eingreifen im Falle von bewaffneten Zusammenstößen zwischen den verfeindeten Seiten. Die humanitären Dienste der Peacekeeper werden allgemein geschätzt, es gibt allerdings international auch Stimmen, die sagen, dass die durch die UN geschaffene Stabilität den Annäherungsprozess und eine mögliche Wiedervereinigung eher behindert als vorantreibt. Die Blauhelme, so die These, sorgten für einen trügerischen Frieden und stellten eine Situation her, mit der sich die Verfeindeten dauerhaft arrangieren könnten. Sie zementierten die Teilung, statt die Annäherung zu ermöglichen. Könnte ein Abzug der Blauhelme nicht sogar friedensstiftend wirken?

In der Ledra Street liegt der zyprische Checkpoint Charlie, ein Grenzübergang, der zum Symbol der Teilung wurde, aber auch deren Überwindung in Aussicht stellt. Die Ledra Street erinnert an die Friedrichstraße in Berlin. Quer über diesen historischen Boulevard verläuft die Green Line, auf der türkisch-zyprischen Seite heißt er Lokmaci. Als der Grenzübergang im Zen­trum der Altstadt im April 2008 geöffnet wurde, tauften die Medien den Ort »unser Brandenburger Tor«. Inzwischen hält man sich mit den euphorischen Vergleichen wieder zurück, denn auf die seit 2003 peu à peu durchgeführte Maueröffnung folgte anders als in Deutschland bisher keine Wiedervereinigung.
Will man von der griechisch-zyprischen Seite auf die türkisch-zyprische Seite der Altstadt gelangen, durchläuft man drei Stationen. Man geht vorbei an den Beamten der zyprischen Republik, passiert einen UN-Mann, füllt dann bei dem türkisch-zyprischen Beamten ein Visum aus, zeigt seinen Ausweis und bekommt einen Stempel, und schon ist man drüben. Keine große Sache eigentlich.
Anastasia Adamidou sieht das anders. »Ich war noch nie auf der anderen Seite«, erzählt uns die 1965 mitten in die heiße Konfliktphase hinein­geborene griechische Zyprerin, die wir in einem Café am Kontrollpunkt Ledrastraße treffen. Der Laden heißt »Berlin Café«. Ganz klar, Nikosia soll mal werden, was Berlin schon ist, eine wieder­vereinigte Hauptstadt. Für Anastasia Adamidou käme das Rübergehen einer Anerkennung der Grenze gleich. Die Mehrheit der Zyprer auf der grie­chischen Seite sieht das ähnlich und hält sich mit dem Besuchen des anderen Landesteils zurück. Anastasia Adamidou ist mit einem Deutschen verheiratet und hat einen kleinen Sohn. Sie arbeitet in der Presseabteilung des Innenministeriums und führt uns heute entlang der Demarkations­linie durch Nikosias Altstadt.
Die Green Line durchzieht die historische Mitte Nikosias und die gesamte Insel. Ein Streifen, der als Pufferzone dient und von derzeit 900 UN-Soldaten bewacht wird. »Sperrgebiet! Zutritt verboten«. Die Straßen des Zentrums enden immer wieder unvermittelt in Sackgassen. Anastasia Adamidou hofft fest auf eine Wiedervereinigung, was nicht nur damit zu tun hat, dass sie als Repräsentantin des zyprischen Innenministeriums naturgemäß die Politik ihres Landes unterstützt, sondern wohl auch mit dem Familienbesitz in Famagusta. »In Famagusta habe ich ein Haus direkt am Meer«, sagt sie, und dann fügt sie hinzu, dass es sich eigentlich nur noch um ein Grundstück handelt, weil das Haus längst abgerissen wurde, wie man ihr erzählt hat, aber das Grundstück am einstigen Traumstrand von Famagusta wieder in Besitz zu nehmen, wäre auch nicht verkehrt.
Agni Petridou kann sich schon berufsbedingt nicht mit den komplizierten Eigentumsverhältnissen im geteilten Land beschäftigen. Als Architektin arbeitet sie zusammen mit Stadtplanern, Ingenieuren und Soziologen für den Nikosia-­Masterplan. Bunte Transparente, auf denen eine Menschenkette unter dem Motto »Masterplan« abgebildet ist, säumen den Weg, wenn man sich vom Checkpoint Ledra Street in den türkischen Teil der Altstadt begibt. Das bi-kommunale Projekt ist eines der seltenen Beispiele für eine langjährige Zusammenarbeit zwischen griechischen und türkischen Zyprern und entstand zunächst aus ganz pragmatischen Gründen. 1978 war zwar das Kanalisationssystem in Nikosia fast fertiggestellt, es gab aber nur eine Kläranlage, und die befand sich im Norden. Die beiden Bürgermeister der geteilten Stadt hatten ein gemeinsames Pro­blem, für das eine Lösung gefunden werden musste. Aus ihren Gesprächen entwickelte sich die Idee für eine Zusammenarbeit bei der Stadtentwicklung. Seit 1980 treffen sich Experten aus beiden Teilen Nikosias und diskutieren über Bebauungspläne, Sanierungsprojekte und die infrastrukturellen Herausforderungen, die sich durch die Mauer ergeben.
Agni Petridou war von Anfang an dabei, sie leitet das griechisch-zyprische Team. »Wir haben uns jahrelang an einem neutralen Ort getroffen, meistens im Ledra Palace Hotel«, erzählt sie. Das ehemalige Luxushotel ist das Hauptquartier der UNFICYP und liegt in der Pufferzone. Der frühere Glanz des von den Briten errichteten Prachtbaus ist immer noch wahrnehmbar, trotz der sichtbaren Einschusslöcher. Vielleicht liegt es an der eigenartigen Stille, dass man die Spuren des Kriegs an diesem Ort so überdeutlich wahrnimmt. Im Unterschied zur belebten Ledra Street begegnet man hier kaum Menschen, und auch das laute Hupen der Autos scheint weit entfernt. Der Blick fällt auf Sandsäcke, Reste von Stacheldrahtabsperrungen und Ruinen. Die Schaufenster der verlassenen Geschäfte sind leer und staubig, nur in einem liegt eine Auswahl von blauen Hemden und Poloshirts für UN-Soldaten.
Der Checkpoint am Ledra Palace Hotel war der einzige offizielle Grenzübergang zwischen dem türkisch-zyprischen Norden und dem griechisch-zyprischen Süden, Besuchern aus Nordzypern wurde dort die Einreise in den Süden verweigert. Im April 2003 wurde dieser Grenzübergang für beide Seiten geöffnet, und seitdem haben sich auch die Bedingungen für die Arbeit am Masterplan von Nikosia verbessert. »Mittlerweile können wir ganz unkompliziert unsere Termine koordinieren. Mit meinen türkisch-zyprischen Kollegen und Kolleginnen treffe ich mich oft an mehreren Wochentagen, und zwar in beiden Teilen der Stadt«, sagt Agni Petridou. Mit der Öffnung dieser Grenze war auch eine Besichtigung und Bestandsaufnahme der von den UN kontrollierten Pufferzone möglich. Vor allem für die jüngeren griechischen und türkischen Zyprer, die am Masterplan mitarbeiten, war diese Begehung ein Schritt auf völlig unbekanntes Terrain. Das Stadtentwicklungskonzept arbeitet mit zwei Optionen, eine Version plant für eine Zukunft ohne Pufferzone, die andere bezieht die Teilung der Stadt weiterhin mit ein. Ob eine Sanierung der schwer beschädigten Gebäude auf der Green Line finanziell überhaupt realisierbar wäre, ist eine andere Frage.

Der Masterplan für Nikosia steht unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen, die Projekte werden mit Geld des United Nations Development Program und der Europäischen Union finanziert, teilweise beteiligte sich auch die US-Regierung. Die unterschiedlichen Geldgeber machten die Realisierung der Pläne nicht unbedingt einfacher. Statt großflächiger Gestaltung stand häufig die Arbeit an Einzelobjekten auf dem Programm, wäh­rend angrenzende Gebäude ungehindert weiter verfallen.
Erfolgreiche Projekte waren die Restaurierungen des Chrysalinitossa-Viertels im Süden der Stadt und des baufälligen Quartiers Arab Ahmet im türkischen Teil. Die 50 Experten des Masterplans haben die gegenwärtigen Lebensbedingungen in ihrer Stadt im Blick, sie beschäftigen sich mit Umweltschutz, »Nachhaltigkeit« und der Multinationalität in Nikosia. Unabhängig davon, ob es irgendwann eine politische Lösung für die Zypern-Frage geben wird. Im Zentrum dieser bi-kommunalen Stadtentwicklung steht nicht nur die Aufgabe, das Kulturerbe von Nikosias Altstadt zu sichern, sondern es geht auch um die Wiederbelebung der historischen Stadtviertel, und zwar nicht nur tagsüber für die vielen Touristen. In beiden Teilen der Stadt sind die Menschen nach dem Krieg aus dem historischen Zentrum an den Rand oder gleich in die dörfliche Umgebung gezogen, kaum jemand wollte in den einsturzgefährdeten Häusern in der Nähe der unsicheren Green Line wohnen.
Wie schwierig diese Revitalisierung ist, sehen wir, als wir in der Nähe des Famagusta Gate in eine Seitenstraße abbiegen. Vieles erinnert an eine verkehrsberuhigte Zone in Berlin. Ein großzügiger Spielplatz, neu gepflanzte Baumgruppen, und plötzlich endet die Straße abrupt, dahinter beginnt das Niemandsland der Green Line. Obwohl hier keine offensichtlichen Kriegsspuren erkennbar sind, wirkt die Gegend verlassen. Menschenleer ist es hier, wir treffen keine Anwohner, und Kindergeschrei ist auch nicht zu hören. Die Stadt hat neue Häuser gebaut und vor allem jungen Menschen günstige Kredite gegeben, sie sollen Pionierarbeit bei der Überwindung der Angst leisten. Bis in Straßen wie dieser, nah an der Green Line, so etwas wie ein urbanes Lebensgefühl entsteht, scheint es noch sehr lange zu dauern.