Über die Arbeit von Flüchtlingsorganisationen auf Teneriffa

Arbeiten oder gehen

Auf den Kanarischen Inseln kommen immer weniger Bootsflüchtlinge an. Das liegt nicht nur am europäischen Grenzregime. Auch die Folgen der Wirtschaftskrise, vor allem die hohe Arbeitslosigkeit, halten viele Menschen von der lebensgefährlichen Überfahrt ab. Eine Recherche bei den sozialen Organisationen auf den Kanaren, die versuchen, eine Mindestversorgung von prekären Migrantinnen und Migranten zu gewährleisten.

Der Hafen von Los Christianos liegt am südlichen Ende von Teneriffa, zwischen lang gezogenen Stränden mit sauber aufgereihten Liegestühlen und den dazugehörigen sterilen Apartmentkomplexen. Hier legen die Fähren ab, die Einheimische und Touristen auf die kleineren kanarischen Inseln La Gomera und La Palma bringen. Auf dem Anlegesteg werden vor den Augen der Wartenden gerade drei junge Schwarze von Polizisten durchsucht und anschließend – mit Hilfe von Einweghandschuhen und Handschellen – einzeln in die Zellen in einem blau-weißen Kleintransporter gesperrt. Die drei Männer sind sichtlich verstört und verstehen die ruppigen Anweisungen der Beamten offenbar kaum. Ihr einziges Gepäck besteht aus Plastiktüten des Roten Kreuzes, darin befinden sich Decken und Kleidung. Ein Indiz dafür, dass sie Flüchtlinge sind, die erst vor kurzem per Boot auf die kanarischen Inseln gelangt sind.
Als Urlauber trifft man im Süden Teneriffas auf afrikanische Migranten in der Regel nur, wenn sie am Strand Perlenketten und bunte Hüte an Touristen verkaufen. Oder wenn sie nach tagelanger Überfahrt mit ihren Holzbooten an die Strände gespült werden, um kurz darauf in den Flüchtlingszentren der Insel zu verschwinden. Mit dieser Realität werden die Urlauber aber nur noch sehr selten konfrontiert. »Es kommen kaum noch Bootsflüchtlinge an«, sagt die Flüchtlingsanwältin Rocío Cuellar. Sie sitzt mit ihrer Kollegin Carmen Mesa in dem kleinen Büro des spanischen Flüchtlingshilfswerks Cear (Comisión Española de Ayuda al Refugiado) im Norden der Insel. Beide hatten bereits viele Jahre in der Flüchtlingshilfe gearbeitet, bevor sie 2006 die erste offizielle Vertretung der Cear auf Teneriffa übernahmen. Seitdem versuchen sie, unter schwierigen Bedingungen die rechtliche und soziale Mindestversorgung der Migranten und Flüchtlinge zu gewährleisten. »Du kannst dir nicht vorstellen, was vor drei Jahren hier los war, wir waren alle am Ende unserer Kräfte«, erinnert sich Cuellar. 2006 war das bisher schwerste Jahr für die Flüchtlingshelfer. Offiziellen Zahlen zufolge kamen damals über 31 000 Bootsflüchtlinge an den Küsten der sieben kanarischen Inseln an, fast 90 pro Tag. Bilder, die zeigen, wie Urlauber in Bikinis und Badehosen versuchten, den erschöpften und fast leblosen Flüchtlingen am Strand Erste Hilfe zu leisten, gingen damals um die Welt. In den beiden Folgejahren pendelte sich die Zahl wieder bei ungefähr 8 000 Migranten ein. Nun ist die Zahl in den ersten neun Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr um 70 Prozent gesunken. »Manchmal kommt wochenlang kein einziges Boot an, viele Abschiebezentren wurden geschlossen«, berichtet die Anwältin. Einer der Hauptgründe für die rasante Abnahme der Flüchtlingsboote ist die Wirtschaftskrise, die Spanien und die Kanaren besonders hart getroffen hat.

Joseph steht vor der Geschäftsstelle des Cruz Roja, des Spanischen Roten Kreuzes, im Zentrum der Inselhauptstadt Santa Cruz. Der Nigerianer wartet rauchend darauf, dass die Arbeitsvermittlung des Roten Kreuzes etwas Zeit für ihn hat. »Früher gab es hier eine Menge Arbeit, aber nun ist nichts mehr da«, erzählt der junge Mann. Im Gebäude sitzen über ein Dutzend Migranten in der Wartehalle, darunter viele junge Frauen mit Kindern. Eine Mischung aus lateinamerikanischem Spanisch, Französisch und afrikanischen Sprachen schallt durch den heißen Raum. Sobald eine der Bürotüren aufgeht, drängen sich mehrere Menschen um die Mitarbeiter und stellen Fragen oder versuchen, kurzfristig noch einen Termin zu bekommen. In einem der Büros sitzt Ruben Gonzalez, der Koordinator des Migrantenprogramms des Roten Kreuzes. »Hier auf den Kanaren war die Baubranche der Arbeitgeber Nummer eins, vor allem für die Migranten.« Durch die Wirtschaftskrise, die sich in Spanien und auf den Kanaren vor allem auf dem Immobiliensektor niederschlug, sei nun diese Arbeitsmöglichkeit weggefallen. »Das spricht sich auch in Afrika herum. Sie wollen ihr Leben bei der Überfahrt nicht riskieren, wenn sie danach hier keine Arbeit finden«, sagt Gonzalez. Die Arbeitslosigkeit auf den Kanarischen Inseln liegt mit 25 Prozent deutlich über dem spanischen Durchschnitt. Viele Migranten trifft dies besonders hart, denn ihre Aufenthaltserlaubnis ist von einem Arbeitsplatz abhängig. »Mit deinem Job verlierst du auch deinen legalen Status«, erklärt Cuellar von Cear.
Der Rückgang der Flüchtlingszahlen liegt ihrer Ansicht nach aber auch an den sich immer weiter verschärfenden Maßnahmen der Europäischen Union. »Sie benutzen den Kampf gegen den Terrorismus und die illegale Migration als Vorwand, um die Grenzen dicht zu machen. So verhindern sie, dass überhaupt jemand, seien es Migranten oder Flüchtlinge, nach Spanien kommt.« Die von der EU finanzierten »Aufenthaltszentren« auf afrikanischem Boden, die Überwachungssysteme sowie die Patrouillen der europäischen Grenzschutzagentur Frontex zeigen Wirkung. Frontex wies nach eigenen Angaben im Rahmen der »Operation Hera« im vergangenen Jahr 5 969 Flüchtlinge auf hoher See zurück.
Die afrikanischen Flüchtlinge, die per Boot zu den Kanarischen Inseln kommen, erregen zwar am meisten Aufsehen, stellen jedoch die kleinere Gruppe von Migranten dar. »Es kommen viel mehr Migranten mit dem Flugzeug als in größeren Booten, die meisten aus Lateinamerika«, berichtet Gonzalez vom Roten Kreuz. Er schätzt, dass 70 Prozent der Migranten in der Hauptstadt Santa Cruz aus Lateinamerika kommen. Dass die Zahl der boat people drastisch abgenommen hat, bedeutet keineswegs weniger Arbeit für die Migrantenorganisationen.
Verschiedene soziale Organisationen kümmern sich um die Migranten mit prekärem Aufenthaltsstatus auf der größten Insel der Kanaren. Das kleine rote Haus im Viertel Taco, wo auch die Cear ihr Büro hat, beherbergt gleich mehrere von ihnen. Im Erdgeschoss sitzt ein Dutzend Frauen um einen großen Tisch herum, die meisten sind jung, manche haben ihre Kleinkinder dabei. Es trifft sich gerade der Mütterkurs, der weit mehr Konfliktpotenzial beinhaltet, als der Name vermuten lässt. Hier werden sensible Themen wie Genitalverstümmelung, Sexualität und Verhütung besprochen. »Manchmal ist das echt eine Show«, erzählt Carmen, die das Projekt betreut und sich freut, dass hier auch kulturelle Dogmen in Frage gestellt werden. »Neulich stritten sich zwei mus­limische Frauen, ob es schlimmer sei, kein Kopftuch zu tragen oder eine enge Hose. Daneben saß eine Brasilianerin und konnte nicht glauben, was sie da hörte.«
Ziel des Kurses ist die Stärkung des Selbstbewusstseins der Frauen. Ein Thema ist, wie oft der Ehemann Sex will und wie die Frauen selbst darauf Einfluss nehmen können, oder die Sorge, dass die Tochter von Verwandten entführt wird, um sie zu beschneiden – wenn die Angst erst einmal abgebaut ist, wird deutlich, welche Probleme Migrantinnen abseits von Finanzen und Aufenthaltsstatus haben. Für Carmen ist dies mit der wichtigste Teil ihrer Arbeit: »Viele lernen zum ersten Mal, dass es auch anders geht. Ihnen werden die Augen geöffnet.«
Ein Stockwerk darüber befindet sich das Büro der Cear, bestehend aus zwei Schreibtischen, zwei Laptops, die von einer Bank gespendet wurden, und einem alten Drucker. Das Internet funktioniert heute schon wieder nicht. Das Telefon klingelt. Ein Mann aus Sri Lanka ist am anderen Ende der Leitung. »Tut mir leid, aber ohne deinen Pass bekommst du keinen Flüchtlingsstatus. Du brauchst Papiere«, erklärt ihm Cuellar. Sie weiß selber, dass es mindestens vier Monate dauern wird, bis er neue Papiere bekommt, sofern Sri Lanka ihm als Flüchtling überhaupt welche ausstellt. Bis dahin wird er aber höchstwahrscheinlich bereits abgeschoben worden sein. Cuellar ist die einzige Anwältin, die auf Teneriffa Zugang zu den Abschiebezentren (CIE) hat und den dort Gestrandeten juristische Hilfe bietet. »Wenn ich höre, dass ein Boot angekommen ist, fahre ich zum CIE und verlange, die Flüchtlinge zu sehen. In erster Linie muss ich herausfinden, woher die Menschen kommen und ob es eine Chance auf Asyl für sie gibt.« Oft haben die Flüchtlinge keine Ahnung, wo sie überhaupt sind, geschweige denn, was auf sie zukommt.
Die Abschiebezentren stehen immer wieder in der Kritik. Anfang des Jahres beschwerte sich sogar die Gewerkschaft der Polizei öffentlich über die Zustände im Zentrum Hoya Fria auf Teneriffa. Amnesty International sieht im System der CIE eine klare Verletzung der Menschenrechte. »Unabhängigen Organisationen wird der Zugang verweigert. Es besteht anscheinend ein Interesse daran, dass es keine Kontrolle von außen gibt«, sagt der Koordinator der Amnesty-Sektion auf Teneriffa, Fernando Fuentes Gandia. Bereits im Jahr 2000 hatte die Organisation die erste offizielle Beschwerde wegen der unmenschlichen Bedingungen veröffentlicht. »Die Bedingungen in den CIE sind seitdem ohne Frage besser geworden. Aber auch die Form der Migration hat sich verändert. Früher kamen die Migranten in pateras mit fünf oder sechs Insassen und landeten vor allem an der Küste Fuerteventuras. Heute setzen sie in cayucos mit 100 Menschen in einem Boot über und landen in der Regel auf Teneriffa oder Gran Canaria«, beschreibt Gandia die Entwicklung. Wenn wegen der Ankunft vieler Flüchtlinge die regulären Zentren überfüllt sind, werden temporäre Zentren geschaffen, zumeist welche mit unmenschlichen Bedingungen. »Einmal haben sie zur Unterbringung von Minderjährigen ohne Begleitung ein Militärgelände benutzt, wo die Kinder und Jugendlichen im Freien schlafen mussten«, erzählt der Amnesty-Koordinator.

Mit dem Rückgang der Anzahl der Flüchtlingsboote hat auch das Interesse der Medien und der Öffentlichkeit an dem Thema abgenommen. Der schwierige Alltag jener Tausende Migranten und Flüchtlinge, die bereits und zum Teil seit Jahren auf Teneriffa leben und recht- und chancenlos versuchen, über die Runden zu kommen, wird in der Öffentlichkeit kaum thematisiert.
Victor Quintero León kennt viele von ihnen. Er sitzt im Dachgeschoss des roten Hauses und betreut das Projekt Tarquí der Organisation Aratetaco. In kleinen Büros, die durch Plastikwände voneinander getrennt sind, sitzen Migranten und erzählen ihre Geschichten. Durch die Ritzen im Wellblechdach pfeift der Wind, immer wieder bringen Windstöße die Bürowände zum Wackeln. »Besser als im Hochsommer, da ist das hier echt eine Sauna«, sagt León lachend. Ziel des Projekts ist es, den Migranten »integrale« Hilfe zu bieten. Über jeden Migranten, der hierher kommt, wird eine persönliche Akte angelegt: Herkunft, Alter, Aufenthaltsstatus, Familiensituation, Fähigkeiten und Bedürfnisse werden darin festgehalten. Dann wird geschaut, was man für sie tun kann. »Wer kein Spanisch spricht oder den Umgang mit Computern lernen will, kann bei uns Kurse belegen. Wer juristische Hilfe braucht, den schicken wir runter zu Rocío. Wer Arbeit braucht, dem helfen wir bei der Arbeitssuche«, beschreibt León seine Tätigkeit. Im Schnitt betreut Tarquí derzeit 1 000 Migranten im Jahr, von der Hälfte werden Akten erstellt. »Schwierig ist es bei Migranten, die keine Papiere besitzen. Denen dürfen wir keine Arbeit suchen«, erzählt León. Ohne Arbeit haben sie jedoch weder Zugang zum Sozialsystem noch Chancen auf eine Aufenthaltsgenehmigung. Die sowieso schon prekäre Situation der Migranten hat sich durch die Krise weiter verschlechtert.
Wenige Straßen vom Büro des Roten Kreuzes entfernt befindet sich das Frauenzentrum La Casita (Das Häuschen). Die Koordinatorin Mercedes beobachtet die Situation aus einer weiteren Perspektive. »Die Krise trifft die Frauen besonders hart. Hinter ihnen stehen meist immer Kinder und Familien, die versorgt werden müssen. Manche haben sogar zwei Familien, hier und in ihrem Herkunftsland. Diese Aufgabe wird immer schwieriger.« La Casita ist eine Mischung aus Frauenhaus und Anlaufstelle für Sexarbeiterinnen, geführt wird das Zentrum von Nonnen. Weder die Mitarbeiterinnen noch das ausliegende Informationsmaterial über Verhütung lassen jedoch den katholischen Hintergrund der Einrichtung erahnen. Die Umgebung des Frauenzentrums wirkt etwas heruntergekommen, manche Häuser scheinen leer zu stehen. Sexarbeiterinnen sitzen auf Stühlen auf der Straße und warten auf Kundschaft. La Casita ist ihnen allen ein Begriff. Bereits seit 1927 kümmert sich die Organisation um Frauen, die gesellschaftlich ausgegrenzt sind, sei es aufgrund von Armut, Missbrauch, psychischer Probleme oder ihres illegalisierten Status. »Die Mehrheit der Frauen, mit denen wir arbeiten, sind Migrantinnen«, erzählt Mercedes. Auch unter den Sexarbeiterinnen stellen sie die Mehrheit, und in letzter Zeit werden es wieder mehr, wie Mercedes beobachtet: »Man sieht ihnen an, dass sie es nicht gewöhnt sind.«

Die Krise trifft die Migranten aber nicht nur finanziell besonders hart. Eine Mitarbeiterin einer weiteren Flüchtlingsorganisation, eine Frau, die namentlich nicht genannt werden möchte, berichtet von zunehmenden Repressalien gegenüber den Migranten und den Organisationen, die sich für sie einsetzen. »Den Polizisten ist langweilig, also machen sie Jagd auf Schwarze. Viele der CIE stehen derzeit leer, mit Razzien und Kontrollen versucht die Polizei, die Abschiebezentren wieder zu füllen. Sonst gäbe es ja keine Rechtfertigung mehr für die Zentren.« Auch Victor Quintero León erzählt, dass immer häufiger Migranten auf dem Weg zum roten Haus kontrolliert würden. Sie berichteten ihm zudem von Razzien auf dem Markt und in Wohnhäusern. »Das gab es vorher nicht.« Kritik am Vorgehen der Polizei und der Behörden wird von den meisten jedoch nur hinter vorgehaltener Hand vorgetragen. Im alltäglichen bürokratischen Streit um Arbeitserlaubnisse und Aufenthaltsgenehmigungen sind die Organisa­tionen ebenso wie bei der Finanzierung auf den guten Willen der staatlichen Stellen angewiesen. Öffentliche Kritik erschwert diese Arbeit – und kann für die Migranten schwerwiegende Folgen haben.
Die Arbeit der sozialen Organisationen ist ein täglicher Kampf gegen unmenschliche Migrationspolitik, Bürokratie und ihren eigenen prekären Status. Hinzu kommen die staatlichen Richtlinien, die eine menschenwürdige Betreuung und Versorgung der Migranten oft unmöglich machen. »Viele hören nach ein paar Jahren auf, sie sind ausgebrannt und fertig«, erzählt Carmen. Sie will trotzdem weiter machen. »Ich liebe diesen Job. Er ist hart, aber schön.«