Über die Stichwahl in Afghanistan

Mach’s noch einmal, Hamid!

Der ausländische Druck zwang den afghanischen Präsidenten Karzai, sich einer Stichwahl zu stellen. Doch ob die zweite Wahlrunde die Demokratisierung fördert, ist fraglich.

Über einen Mangel an prominenten ausländischen Gesprächspartnern konnte Hamid Karzai nicht klagen. John Kerry, der Vorsitzende des außenpolitischen Komitees des US-Senats, soll 72 Stunden in Karzais Präsidentenpalast verbracht haben. Auch der französische Außenminister Bernard Kouchner eilte nach Kabul, um Karzai zu treffen. Seine amerikanische Amtskollegin Hillary Clinton telefonierte mit dem Präsidenten, ebenso wie der britische Premierminister Gordon Brown, UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und Anders Fogh Rasmussen, der Generalsekretär der Nato.
Viele freundliche Worte dürfte Karzai allerdings nicht vernommen haben, denn der Großeinsatz diente einem einzigen Ziel. Man wollte den halsstarrigen Präsidenten davon überzeugen, sich einer Stichwahl zu stellen. Am Dienstag der vergangenen Woche beugte sich Karzai dem politischen Druck.
Den Angaben der afghanischen Wahlkommission zufolge hatte er 54 Prozent der Stimmen erhalten, sein wichtigster Herausforderer Abdullah Abdullah kam auf 28 Prozent. Abgegeben wurden rund 5,5 Millionen Wahlzettel, doch von ihnen gelten den europäischen Wahlbeobachtern 1,5 Millionen als »verdächtig«. Karzai hatte vorgesorgt und die Wahlkommission mit Getreuen besetzt, offenbar in der Erwartung, die westlichen Interventionsmächte würden diese Manipulation ebenso tolerieren wie zahlreiche autoritäre Maßnahmen zuvor und sich einmal mehr für die »Stabilität«, also für ihn entscheiden.
Tatsächlich scheinen, wie der UN-Gesandte Peter W. Galbraith im Wall Street Journal berichtete, in der Electoral Complaints Commission, in der zahlreiche ausländische Experten tätig sind und die alle Beschwerden sammelte, zeitweise die Freunde Karzais die Oberhand gehabt zu haben. So sei Anfang September geplant gewesen, »die angekündigte Antibetrugspolitik aufzugeben und ausreichend gefälschte Stimmen in das Endergebnis aufzunehmen, um Karzai über die Marke von 50 Prozent zu hieven«. Galbraith wurde am 30. September entlassen.
Doch es war wohl zu gut bekannt, dass die Wahlfälschung nicht nur das Werk einiger übereifriger Lokalpotentaten, sondern ein systema­tischer Betrug war. Das Ergebnis zu akzeptieren, hätte die Uno und die ausländischen Wahlbeobachter diskreditiert, mit unabsehbaren Folgen für die west­liche Außenpolitik wie auch für die Demokratisierung autokratischer Herrschaftssysteme.

Vor allem aber ist das Desaster in Afghanistan unübersehbar geworden. Die Taliban, noch vor fünf Jahren eine vom benachbarten Pakistan aus agierende Terrorgruppe, sind wieder in fast allen Landesteilen präsent. Korruption und Unfähigkeit der Regierung sowie die über Karzai vermittelte Herrschaft der Warlords haben die Jihadisten begünstigt. In dieser Situation einen Wahlbetrug zu ignorieren, hätte die ausländischen Interventionsmächte ihre politische Legitimation gekostet.
Noch allerdings ist unklar, ob die Stichwahl mehr sein wird als eine Formalität, um den Schein zu wahren und Karzai doch noch zu bestätigen. Am 7. November soll abgestimmt werden. Dass der Winter bereits eingesetzt hat und entlegene Dörfer im Hochland nicht mehr erreichbar sein werden, ist noch das geringste Problem. Es gebe weder organisatorische Vorbereitungen noch »Pläne, um eine Wiederholung des Betrugs zu bekämpfen«, urteilt der International Council on Security and Development.
Etwa 200 Mitarbeiter der Wahlbürokratie Karzais sollen entlassen oder versetzt werden. Das wird nicht genügen, um ein in knapp acht Jahren aufgebautes Klientel- und Herrschaftssystem zu zerstören, zumal dieses System dezent­ralisiert ist. Karzai ist kein Diktator, sondern ein autokratischer Powerbroker. Er verfügt weder über eigene Truppen noch über eine politische Organisation. Seine Herrschaft beruht auf einem komplexen Bündnissystem, als Gegenleistung für die Gewährung von Posten und Privi­legien verschaffen ihm lokale Warlords und Clanführer die benötigten Stimmen.
Abdullah scheint daher erst einmal abzuwägen, ob eine Teilnahme an der Stichwahl für ihn lohnend ist. Er fordert ultimativ die Entlassung Azizullah Ludins, des Leiters der Wahlkommission, und die Suspendierung einiger Minister. »Wir werden bis zum 31. Oktober auf die Antwort der Kommission warten«, sagte Abdullah am Montag, ließ aber offen, welche Konsequenz er aus der zu erwartenden Weigerung Karzais ziehen würde, seine Forderungen zu erfüllen.
Sollte Abdullah sich für einen Boykott entscheiden, muss er wohl mit einem Aufmarsch west­licher Emissäre und zahlreichen Telefonanrufen rechnen. Worauf er hinaus will, ist unklar. Einst Außenminister Karzais, lehnt er derzeit eine Koalition mit dem Präsidenten ab. Sollte er Präsident werden, stünde er vor den gleichen Problemen wie Karzai. Der Präsident hat kein nennenswertes Budget aus eigenen Einnahmen, die Armee besteht überwiegend aus Milizionären der Warlords mit zweifelhafter Loyalität zur Regierung. Zur Abhängigkeit vom Ausland gesellt sich die Abhängigkeit von den eigentlichen Machthabern, den lokalen Warlords und Clanführern, deren Herrschaft eine nationale Gesetzgebung weitgehend überflüssig und eine zentrale Verwaltungstätigkeit fast unmöglich macht.

Wer Präsident Afghanistans wird, ist daher gar nicht so wichtig. Von entscheidender Bedeutung hingegen ist, wie der Präsident bestimmt wird. Es ist recht wahrscheinlich, dass die Wahl am 7. November ähnlich desaströs verläuft wie die erste Runde. Dann dürfte der Druck, die Ergebnisse trotz aller Bedenken zu akzeptieren, noch weitaus größer sein. Geschieht das, kann der Krieg als politisch verloren betrachtet werden, auch wenn er militärisch noch Jahre oder Jahrzehnte andauern mag.
Häufig wird der Eindruck erweckt, als sei die Demokratisierung ein Luxus, den man sich neben der Terrorismusbekämpfung vielleicht auch noch leisten könne, die aber nicht dazu führen dürfe, dass sich muslimische Patriarchen womöglich angewidert abwendeten. US-Präsident Barack Obama stellte in seiner Kairoer Rede (Jungle World, 24/09) die islamische Welt als eine Gegend dar, der Demokratie und Menschenrechte nur sehr vorsichtig und unter ständiger Betonung des Respekts vor religiösen Traditionen nahegebracht werden können. Die meisten europäischen Politiker waren schon immer dieser Ansicht.
Insbesondere die Afghanistan-Debatte ist ein Tummelplatz für Reaktionäre und Ethnoromantiker, die aus den Stammesangehörigen, vor allem den Paschtunen, die Klingonen des Planeten Erde machen: ständig kampfeslustige raue Gesellen, die sich nicht in jeder Hinsicht guter Manieren befleißigten, aber von einem hohen Ehrgefühl geleitet würden. Doch wie die Klingonen, die seit ihrem ersten Erscheinen manche Veränderung durchmachten und dann auch bedeutende Kämpferinnen hervorbrachten, können die Paschtunen sich und ihre Gesellschaft verändern.
Dass die meisten Reformversuche in Afghanistan scheiterten, liegt nicht an den unabänderlichen Gebräuchen der Stammesgesellschaften. Es gab dort jedoch nie eine Massenbewegung, die wenigstens die rudimentären Grundlagen gesellschaftlicher Emanzipation hätte erkämpfen können: Alphabetisierung, eine Landreform, die halbfeudale Verhältnisse beseitigt, und die wenigstens formale Gleichberechtigung der Frauen.
Das war Ende der siebziger Jahre das Programm der afghanischen Regierung, die jedoch mit diktatorischen Methoden agierte und einen reaktionären Aufstand auslöste. Als sowjetische Truppen einmarschierten, unterstützten die westlichen und arabischen Staaten die damals Freiheitskämpfer genannten Jihadisten mit etwa 500 Millionen Dollar pro Jahr und trugen so maßgeblich dazu bei, dass die Islamisten zur vorherrschenden Macht wurden.
Die Neuordnung begann unter deutscher Leitung Ende 2001 in Petersberg nahe Bonn mit der Unterzeichnung eines Abkommens, das die Leistungen der »Helden des Jihad« im Kampf gegen die Sowjetunion pries. Die Verfassung verpflichtete die Justiz, den »Bestimmungen der heiligen Religion des Islam« zu gehorchen. Mit den wichtigsten Posten wurde entsprechendes Personal betraut, überwiegend islamistische Warlords.

Karzai, der kein Jihadist ist, sollte dieses System verwalten. Wenn westliche Politiker ihn nun schelten, weil er keine good governance zustande gebracht hat, entbehrt das nicht einer gewissen Verlogenheit. Die Neuordnung hat die Probleme der afghanischen Politik noch verstärkt. Das Land wurde eine Präsidialrepublik, und anders als in den USA gibt es kaum checks and balances. Das Parlament ist schwach, nicht zuletzt weil Karzai für die Wahlen ein Parteienverbot verhängt hatte, sodass der Präsident bei Ernennungen von Richtern und anderen Beamten, denen die Abgeordneten zustimmen müssen, selten auf Hindernisse stößt. Die Personalisierung der Politik, das zivile Pendant der Herrschaft der Warlords, ersetzt Verhandlungen und Interessenausgleich zwischen Parteien.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse, geprägt von extremer Armut, Analphabetismus und der Traumatisierung durch nunmehr 30 Jahre Bürgerkrieg, sind nicht eben günstig für demokratische Reformen. Dass eine unabhängige Frau wie Malalai Joya ins Parlament gewählt wurde und viele Afghanen ihr Leben riskieren, um ihre Stimme abzugeben, belegt jedoch ein weit verbreitetes Interesse an der Demokratisierung. Joya wurde jedoch aus dem Parlament verstoßen, weil ihre offenen Worte die Warlords verärgert hatten, und die Wähler wurden durch den Betrug enttäuscht.
Nur Demokratisierung und gesellschaftliche Reformen können dem Jihadismus den Boden entziehen. Im benachbarten Pakistan, wo in den Grenzregionen ähnliche Verhältnisse herrschen wie in Afghanistan, verbreitet sich diese Erkenntnis. Fraglich ist hingegen, ob sie in den westlichen Regierungen genügend Anhänger findet. Denn die Gefahr von Anschlägen im Westen ist nur noch eine diffuse Drohung, der »war on terror« wird wieder ausschließlich zu dem, was er immer überwiegend war: ein Kampf der Demokraten und Säkularisten in islamischen Staaten gegen den Jihadismus.
Das könnte jene stärken, die sich damit zufrieden geben, wenn Taliban und al-Qaida in unzugänglichen und ökonomisch uninteressanten Landstrichen eingeschlossen bleiben und nur ihre nähere Umgebung terrorisieren. Eine solche Po­litik der Eindämmung bedarf einer halbwegs effektiven Verwaltung und schlagkräftiger Truppen, nicht aber der Demokratie.