Der Mauerfall und die Lohnentwicklung in Deutschland

Ausweitung der Dumpinglohnzone

Die wirtschaftliche Misere im Osten hat sich negativ auf die Einkommensentwicklung in ganz Deutschland ausgewirkt. 20 Jahre nach dem Mauerfall ist das Armuts­risiko für Erwerbstätige deutlich gewachsen.

Erst war überall Westen. Dann überall Osten. Für die heutige ökonomische Situation in Ostdeutschland dürften die Leute vor 20 Jahren nicht auf die Straße gegangen sein. Betrachtet man die Lohn­entwicklung in den fünf östlichen Bundesländern, kommt man nicht umhin anzunehmen, dass die so genannte Wiedervereinigung vor allem das Ziel hatte, ein Dumpinglohngebiet in Konkurrenz zum westdeutschen Arbeitsmarkt zu schaffen. Möglicherweise spielte die Rote Armee bei den Tarifverhandlungen im Westen eine nicht zu unterschätzende Rolle, es scheint eine Menge Atombomben vonnöten zu sein, um das Kapital zu bändigen. Dass die Streitkräfte der Sowjetunion mitten in Deutschland standen, sorgte, wie einige meinen, dafür, dass sich die westdeutsche Firmenbesitzerschicht zuweilen mäßigen musste.

Mit dem Fall der Mauer entstand eine neue Wirtschaftszone, die hohen Druck auf die Lohnentwicklung ausübte. Erst testeten westdeutsche Unternehmen im Osten prekäre Standards. Diese konnten dann sukzessive auf den Westen übertragen werden.
So kann man den Plan, die Lebensverhältnisse in Ost und West anzugleichen, auch verstehen – ganz Europa ist sauer, weil Deutschland seinen Arbeitnehmern so wenig zahlt. »Die langfristige Schwäche des deutschen Modells liegt in der unzureichenden Entwicklung der binnenwirtschaftlichen Nachfrage«, schreibt die Memorandum-Gruppe, eine Arbeitsgemeinschaft alternativer Wirtschaftswissenschaftler, in ihrem Gutachten für 2009.
Denn auf den privaten Verbrauch entfallen rund 60 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Er hängt in erster Linie von der Entwicklung der Löhne und Gehälter ab. Die Tatsache, dass die Reallöhne in Deutschland während des vergangenen Aufschwungs – wie schon in den zehn Jahren davor – nicht gestiegen, sondern gefallen sind, hat die gesamtwirtschaftliche Entwicklung entscheidend aufgehalten.
Die zurückliegende Konjunktur-Hausse stellt der Memorandum-Gruppe zufolge sogar einen historischen Bruch dar. Anders als früher hat der private Konsum seit 2003 weniger zugenommen als die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung. Im Jahr 2007 ist er erstmals während eines Aufschwungs zurückgegangen. Das blieb auch 2008 so, obgleich die Löhne und Gehälter erstmals seit langer Zeit wieder etwas stärker stiegen; diese Zuwächse aber werden durch Preissteigerungen aufgefressen.
Ostdeutschland spielt hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle. »Die Chancen auf Beschäftigung sind in den alten Bundesländern immer noch besser, das Risiko arbeitslos zu sein, ist in den neuen Bundesländern immer noch deutlich höher«, heißt es in einer aktuellen Arbeitsmarktstudie des DGB. Auch nach 20 Jahren existieren gravierende Unterschiede zwischen Ost und West – insbesondere auf dem Arbeitsmarkt.
Nach Informationen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ist die Zahl der Erwerbstätigen innerhalb der letzten Jahre gestiegen, insbesondere in Ostdeutschland. Diese Entwicklung wurde hauptsächlich durch die steigende Zahl von Teilzeitbeschäftigten begünstigt. »Durch die Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeitjobs wird die Arbeit auf mehr Köpfe verteilt, die Zahl der Beschäftigten steigt«, schreibt die DGB-Arbeitsgruppe. Auch die anhaltende Abwanderung der Bevölkerung im Osten – vor allem junge Frauen verlassen hier überdurchschnittlich oft ihre Heimat – sowie der demografische Wandel haben dazu geführt, dass sich der Anteil der Erwerbstätigen an der erwerbsfähigen Bevölkerung erhöht hat.
Längerfristig betrachtet liegt die ostdeutsche Erwerbstätigenquote jedoch deutlich unter der westdeutschen.
Nach dem Mauerfall 1989 wurden Tausende Unternehmen in Ostdeutschland geschlossen. Ostdeutschland wurde die verlängerte Werkbank Westdeutschlands und zugleich ein Absatzmarkt für westdeutsche Produkte. Diese Abhängigkeit zeige sich auch in den Unternehmensstrukturen, analysiert der DGB: »Große, eher kapitalkräftige, exportorientierte und forschungsintensive Industrieunternehmen sitzen hauptsächlich in den alten Bundesländern. Im Osten führen sie meist nur Zweigbetriebe.« Kleinen und mittelgroßen Betrieben in den neuen Ländern kommt daher ein weit größeres Gewicht zu als in den alten Ländern.
Insgesamt können die neu entstandenen Unternehmen aber nicht den Beschäftigungsverlust der Nachwendezeit wettmachen. Bis 1991 sind rund 1,3 Millionen Jobs verlorengegangen, danach eine weitere Million. Im Westen dagegen entstanden innerhalb von zwei Jahren 2,5 Millionen Jobs, anderthalb mal so viele wie in den 16 darauf folgenden Jahren.
Der Bundesagentur für Arbeit (BA) zufolge konnte im Jahr 2008 eine leichte Zunahme der sozialversicherten Beschäftigung im Westen gegenüber März 1992 erreicht werden, im Osten ist die Bilanz weitaus ungünstiger. Nach Daten des Statistischen Bundesamtes gab es damals noch ca. 6,7 Millionen sozialversicherte Jobs in Ostdeutschland. Im September 2008 waren es nur noch 5,3 Millionen. Dies entspricht einem Minus von 21 Prozent.

Auch vom vorigen Aufschwung hat der Osten hinsichtlich des Aufbaus sozialversicherter Beschäf­tigung – mit Ausnahme bescheidener »Silicon-Saxony«-Wohlstandsinseln – nicht profitieren können. Der Rückgang betrifft insbesondere die sozialversicherten Vollzeitjobs. Im Osten gab es hier im September 2008 gegenüber dem September 2001 ein Minus von 10,4 Prozent, im Westen ein Minus von 3,3 Prozent. Bei den Teilzeitjobs kamen Osten und Westen auf ein deutliches Plus von über 20 Prozent. »Sozialversicherte Teilzeit kann zur Verteilung von Arbeit auf mehr Köpfe und der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie beitragen«, schreiben die Autoren der DGB-Studie. Teilzeitarbeit könne aber auch unfreiwillig und nicht existenzsichernd sein. Deshalb sei die Entwicklung zu mehr Teilzeit- und weniger Vollzeitbeschäftigung zwiespältig zu bewerten.
Dies macht sich auch bei den Einkommen bemerkbar, die Unterschiede zwischen West und Ost sind weiterhin groß. So betrug im Oktober 2006 der durchschnittliche Bruttostundenverdienst im Westen 17,22 Euro, im Osten waren es 13,51 Euro. Im längerfristigen Vergleich ist der Verdienstabstand zwischen Ost und West nahezu unverändert, 1996 betrug er 27,1 Prozent und 2006 ist er sogar auf 27,4 Prozent gestiegen. Die Tarifbindung im Osten ist geringer als im Westen, es wird häufiger unter Tarif gezahlt. Im Jahr 2007 bewertete das Essener Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) die Niedriglohnschwelle für Gesamtdeutschland mit 9,19 Euro. Für diesen Stundenlohn oder darunter arbeitet im Westen jeder fünfte, im Osten fast jeder zweite. Besonders auffallend ist, dass im Osten 28,1 Prozent der normalen Vollzeitjobs mit Niedriglöhnen bezahlt werden. Im Westen arbeiten bisher nur 7,7 Prozent in einem Vollzeitjob zu einem Niedriglohn.

Mit der Deregulierung des Arbeitsmarktes wurde der Niedriglohnsektor in den vergangenen Jahren gezielt ausgeweitet. Nach Daten des IAQ ist zwischen 1998 und 2007 der Anteil der Beschäftigten, die einen Niedriglohn beziehen, von 14,2 Prozent auf 21,5 Prozent gestiegen. Deutschland ist mittlerweile in Zentraleuropa das Land mit dem größten Niedriglohnsektor. 6,5 Millionen Beschäftigte arbeiten zu Niedriglöhnen. Die Chance, den Niedriglohnbereich zu verlassen, ist in Deutschland besonders gering, und das, obwohl die Mehrheit der prekär Beschäftigten gut qua­lifiziert ist. Fast 70 Prozent haben eine abgeschlossene Ausbildung.
Womit sich Ostdeutschland auf dem deutschen Arbeitsmarkt durchsetzen konnte, das umschreibt die Formel »arm trotz Arbeit«. Aufgrund der im Osten weit verbreiteten Niedriglöhne ist auch der Anteil der Beschäftigten, die zusätzlich zu ihrem Gehalt Hartz IV benötigen, größer als im Westen.
Im März 2009 verzeichnete die Statistik der BA im Osten beinahe jeden dritten Hartz-IV-Bezieher als erwerbstätig. Fast jeder zweite »Aufstocker« im Osten arbeitete sozialversichert und musste dennoch Hartz IV beantragen.
Das Risiko, trotz Erwerbstätigkeit arm zu werden, ist innerhalb der vergangenen zehn Jahre deutlich gewachsen. Der Armutsbericht der Bundesregierung 2008 zeigt eine Verdoppelung der armutsgefährdeten Erwerbstätigen in Deutschland von sechs Prozent im Jahre 1998 auf zwölf Prozent 2005. In dieser Zeit hat sich auch die Zahl der Vermögensmillionäre verdoppelt.
Indem man also von einer angeblich aktuellen Finanzkrise spricht, kann man die ständige Strukturkrise verdrängen.
Der Druck auf die Löhne, schreibt die Memorandum-Gruppe, der maßgeblich für die gegenwärtige Rezession verantwortlich sei, bringe die für die wirtschaftliche Progression ungünstige Entwicklung der sozialen Kräfteverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zum Ausdruck: »Er ist wirtschaftspolitisch forciert worden, insbesondere durch die seit 2002 betriebene Agenda 2010, in deren Zentrum die Arbeitsmarktreformen (Hartz I bis IV) stehen.«
Auf die Dauer sei zur Finanzierung »eines größeren und bürgerfreundlichen öffentlichen Sektors« als Alternative zu den regressiven Reformen am Sozialstaat ein höheres Niveau staatlicher Ausgaben unabdingbar, das im Normalfall auch durch reguläre staatliche Einnahmen zu finanzieren sei. Die Grundlage für eine dauerhafte Überwindung der Wirtschaftskrisen und die Einleitung eines neuen Typs der Entwicklung sei eine umfassende Demokratisierung der Wirtschaft. Danach sieht es derzeit aber nicht aus.