Sarrazins Interview

Berlin liegt auf der Couch

Nicht nur um »Kopftuchmädchen« ging es in Sarrazins Interview, er lieferte auch noch ganz nebenbei eine fragwürdige Interpretation der deutschen Geschichte.

Heftig wurde in den vergangenen Wochen darüber debattiert, ob das »Kopftuchmädchen«-Interview des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin in der Kulturzeitschrift Lettre International »im Tonfall überzogen« oder gar »rassistisch« gewesen sei. Das mehrheitliche Urteil von Presse und Publikum lautet inzwischen: Nein! Eine Allianz aus BILD, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Peter Sloterdijk und Junge Freiheit kürt den zuvor Gescholtenen zum deutschen Helden der Meinungsfreiheit. Tausende zustimmende Kommentare in den Internetforen und Leserbriefe zeigen, welch große Zustimmung Sarrazins Aufstand wider die vermeintliche Diktatur der politischen Korrektheit findet. Zwar wunderte sich die Taz darüber, auf welcher Grundlage das Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank zu der Auffassung gelangte, dass »ost­europäische Juden« einen »um 15 Prozent höheren IQ« als der deutsche Durchschnitt haben. Kaum entdeckt wurde jedoch die perfide Pointe gleich im ersten Teil des Interviews, in dem der Sozialdemokrat einfühlsam den »jüdischen Aderlass« während der Nazizeit beklagt, den die Stadt Berlin nie kompensiert habe. Wortreich und wehmütig bedauert Sarrazin den »Weggang des klassischen leistungsorientierten Bürgertums« und erzählt eine kleine biografische Episode aus dem Leben eines honorigen deutschen Bürgers, dessen Verlust Berlin ebenfalls hinnehmen musste: »Hermann Josef Abs, Vorstand der Deutschen Bank, wohnte bis 1945 im Berliner Westend. Unauffällig hatte er seine Familie im Herbst 1944 nach Remagen geschafft, wo er 1940 ein Landgut gekauft hatte; er selbst war nach Hamburg entschwunden.« Nicht nur die Vertreibung der Berliner Juden, auch der Weggang von Abs hinterließ eine schmerzhafte Lücke, will Sarrazin damit sagen. Ergo: Es waren zwei fürchterliche Verluste, die Berlin bis heute nicht verwunden hat – den »Aderlass« des jüdischen Bürgertums und den Weggang von deutschen Wirtschaftskapitänen wie Hermann Josef Abs. Abs, der Aufsichtsrat der IG Farben? Arisierte dieser nicht im Namen der Deutschen Bank jüdisches Vermögen? Und leitete Abs nicht seit 1938 die Auslandsabteilung der Deutschen Bank? Dass der »jüdische Aderlass« mit der Tätigkeit von Hermann Josef Abs in einem tieferen Sinne verbunden sein könnte als in dem von Sarrazin ge­meinten, bemerkt der Interviewer, Lettre-Gründer Frank Berberich, nicht. Lieber lobt er im Interview mit dem Online-Medienmagazin V.i.S.d.P. die Wirkung des Interviews: »Es gab seit 1989 wahrlich selten Situationen, in denen die Leute beim Bäcker, beim Blumenladen, in der Kneipe oder der U-Bahn so lebendig diskutierten.« Berberich wundert sich über die Skandalisierung des Gesprächs, schließlich sei dieses nur einer von insgesamt 40 Beiträgen unter dem Titel »Berlin auf der Couch« gewesen: »Das übergreifende Thema des Heftes war die Hinterfragung der fatalen Selbstmythologisierung Berlins.« Fatale Selbstmythologisierung? Das historische Gedächtnis deutscher Kulturjournalisten scheint nicht sehr weit zurück zu reichen, wie ein kurzer Blick in alte Dokumente belegt. Der Omgus-Report der amerikanischen Militärregierung (»Office of Military Government for Germany, United States«) hielt 1947 fest: »Es wird empfohlen, dass: 1. die Deutsche Bank liquidiert wird, 2. die verantwortlichen Mitarbeiter der Deutschen Bank angeklagt und als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt werden, 3. die leitenden Mitarbeiter der Deutschen Bank von der Übernahme wichtiger oder verantwortlicher Positionen im wirtschaftlichen und po­litischen Leben Deutschlands ausgeschlossen werden.« Es kam anders. Abs, der »Bankier der Nazis und des Wiederaufbaus«, so der WDR in einem Feature, wurde in der Bundesrepublik entnazifiziert, zum Ehrenbürger der Goethe-Stadt Frankfurt gekürt und von Joachim C. Fest unter das Schutzpatronat der FAZ gestellt. Deutsche Kontinuitäten: Das Interview mit Thilo Sarrazin ist nicht nur ein – höflich formuliert – meinungsfreudiger Beitrag zur Migrationsdebatte, sondern auch ein Dokument deutscher Geschichts­vergessenheit. 1947 heißt es im Omgus-Report über den späteren Ehrenbürger: »Die außerordent­liche Ausdehnung der Deutschen Bank im ausländischen Bereich im Gefolge der deutschen Aggression hängt vor allem mit der Tatkraft und dem Einfallsreichtum von Hermann J. Abs sowie mit seinen engen Beziehungen zum Wirtschaftsministerium und zur Reichsbank zusammen«. Im Jahre 2009 beklagt der Bundesbanker Sarrazin in einem Atemzug nicht nur den »gewaltigen geistigen Aderlass« durch die Vernichtung und Vertreibung deutscher Juden, sondern auch, dass tatkräftige und einfallsreiche Bürger wie Abs – ein Großbankier unter Hitler – vor Kriegsende aus Berlin »entschwunden« seien. Wie nennt man so etwas? Chuzpe? Oder ist Sarrazins Geschichtsbild einfach Teil jener »fatalen Selbstmythologisierung«, die im Lettre-Heft seziert werden sollte?