Der Comic »Drüben!«

Schon komisch, aber auch normal

Simon Schwartz schildert in seinem Comic »Drüben!« die ganz unspektakuläre Geschichte einer Ausreise aus der DDR.

Ein zu Herzen gehendes Panel zeigt das Kind mit Koffer bei der Grenzabfertigung im Tränenpalast. Der Koffer ist riesig, die Kabine eine enge Schlucht. Hinter der Glasscheibe am Schalter sitzt ein Grenzer, der mit runtergezogenen Mundwinkeln die Dokumente prüft. Neben der erwachsenen Begleitperson mit Föhnfrisur steht der Kleine verloren in der Gegend herum und starrt mit einem Ich-will-hier-bitte-schnell-wieder-raus-Gesicht an die Decke. Die Niedlichkeit des Kindes auf der einen und die käsige Aura des Grenzers auf der anderen Seite, mit solchen Bildern wird man gepackt und auf die richtige Seite gezogen. Und die ist – was sonst? – das Westberlin-Biotop der Frühachtziger.
Hier lebt das Kind mit seinen Eltern, die aber nicht die typisch linksdrehenden Kreuzberger mit O-Bar-Sozialisaton sind, sondern rübergemachte Ostler. Bartstoppeln, Brecht-Frisur, umschattete Augen – die Vaterfigur erinnert an den Vorzeige-Dissidenten aus dem Prenzlauer Berg, Stephan Krawczyk. Auch die Mutter ist als typisches Produkt ihrer Generation gezeichnet, eine zeit- und ortstypische Mischung aus sozialistisch-christlichem Hippietum, wie es im Osten bis zum Mauerfall konserviert wurde, und New Wave in Form schwarzer Karo-Ohrclips aus Plaste und Elaste. 1984 sind sie mit dem Vierjährigen aus der DDR ausgereist, und der einzige, der zum Familienbesuch in die DDR zurück darf, ist der Sohn, der in regelmäßgen Abständen zu Oma und Opa in den Ostteil reist und die Kontrollprozedur im Tränenpalast über sich ergehen lassen muss. Für das Kind ist vieles irgendwie seltsam, komisch, aber eben auch normal.
»Drüben!« ist der autobiographische Comic des 1982 in Erfurt geborenen Zeichners Simon Schwartz, der vom Rübermachen mit seinen Eltern Anfang der achtziger Jahre erzählt. Wie das Kind im Comic verließ er Anfang der Achtziger mit seinen Eltern die DDR und zog mit ihnen nach Westberlin. Dass Ausreisen nicht nur bedeutete, sich mit der Staatsmacht in Gestalt von Funktionären und Stasis anzulegen, sondern auch zermürbendes Mobbing durch Vorgesetze, Kollegen, Kommilitonen und sogar durch die eigene Familie, wird aus der Perspektive des Kindes geschildert, das die Familiengeschichte referiert. Für das Kind sind vor allem jene Situationen bedrohlich, in denen es die Angst der Eltern vor der Kontrolle und Reglementierung durch den Staat miterleben muss. Vater wird vor dem Kleinen in der Amtsstube angeschrieen, eklig, beschämend. Irgendwann ist aber auch das Geschichte, und man darf ausreisen zum Happy End. (Heutige Hartz-Kinder dürften das Ausgeliefertsein der Eltern z.B. bei einer Schrankkontrolle als ähnlich bedrohlich empfinden, aber das ist eine andere Geschichte.)
Klassische Dissidenten sind die Eltern nicht gewesen. Mutter ist zwar in der Kirche, Vater jedoch in der Partei, man kommt klar, auch wenn Propaganda, Honecker-Bildchen und Streberfunktionäre den Alltag stören. Doch irgendwann hat Vater auch einen Lehrauftrag an der Erfurter Kunsthochschule bekommen und ist deshalb im Unterschied zur Mutter auf Bleiben gepolt. Die Ausreise von Manfred Krug, die Ausbürgerung von Biermann, die durchstöberte Wohnung der Mutter, die Rede, die der Vater über den großartigen Afghanistan-Krieg der Sowjetunion halten soll, geben dann aber den Anstoß. Vater schaut in den Spiegel, rupft sich das Parteiabzeichen von der Cordjacke, legt es auf den Tisch, umarmt Mutter und sagt, dass er es sich überlegt hat und dass man besser fortgeht. Vier Bilder, eine Entscheidung.
Ab diesem Zeitpunkt wird es schwierig. Mutters christliche Familie hat volles Verständnis für den Ausreiseantrag des jungen Paars, Vaters lininentreue Eltern wenden sich unter Schimpfkanonaden vom Sohn ab, Kollegen wechseln die Straßenseite, Vater wird vor ein Tribunal gestellt, aus Partei und Hochschuldienst ausgeschlossen, und als es richtig einsam um das Paar wird, kommt passenderweise der Sohn zur Welt. Der wird für sehr lange Zeit nur ein Großelternpaar kennen lernen, das mütterlicherseits. Der parteitreue Teil der Familie lehnt jeden Kontakt mit dem auf seine Ausreise wartenden Paar samt seines Sprösslings ab.
Erst 1990, nach dem Fall der Mauer, wird nach Zwickau gereist und eine private Wiedervereinigung versucht. »Hallo Oma und Opa«, ruft der süße Kleine im Alf-T-Shirt den verbitterten Alten aus dem Plattenbau zu. Ohne Vorbehalte, ganz wie der Kleine Lord, aber ohne durchschlagenden Erfolg. Den gelernten DDRlern bleibt der westsozialisierte Kleine fremd, und umgekehrt. Er bekommt von dem Großelternpaar viele schwere Bücher ganz ohne Bilder geschenkt, wie enttäuschend.
Es ist die Kinderperspektive, die diese Comicerzählung authentisch macht. Für das Kind ist die Situation einerseits Normalität, andererseits spürt es die Erschütterung der Eltern. Aus dieser Doppelbödigkeit entsteht die emotionale Spannung der ansonsten hübsch unspektakulären Geschichte einer Ausreise. Man begreift, dass einen Ausreiseantrag zu stellen eine verdammt einsame Entscheidung gewesen ist.
Über das Dilemma des im Westen angekommenen Ost-Dissidenten, dessen Leidensgeschichte bald keiner mehr hören kann, hat Herta Müller im Roman »Herztier« geschrieben: »Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm. Wenn wir reden, werden wir lächerlich.« Mit diesem in Schwarzweiß gezeichneten Comic ist eine taugliche und völlig undramatische Form gefunden worden, über so etwas wie Alltagsdissidenz zu erzählen, die nicht umsonst an »Persepolis« als den großen Meilenstein des Genres erinnert.

Simon Schwartz: Drüben! Avant-Verlag, Berlin 2009, 108 Seiten, 14,95 Euro