»Sex gab’s in Schöneberg, Revolution in Kreuzberg«
Berlin 1990. Angehörige der ortsansässigen Tuntenszene hatten schwule Kleingewerbetreibende und »normale Homosexuelle« zu einem Treffen in die Urania eingeladen, um einen Verband mit dem Namen »Gays und ihre Freunde« zu gründen. »Und es sind tatsächlich welche gekommen«, erinnert sich Jens Dobler. Allerdings war es ein Fake, eine Reaktion auf die umstrittene Gründung des »Berliner Schwulen-Verbandes (BSV)«. Die Leute, die der Einladung gefolgt waren, tappten in eine politische Spaß-Falle. Sie mussten die Häme der alternativen Schwulen aus Kreuzberg über sich ergehen lassen. Diese amüsierten sich ausgiebig über den naiven Glauben der schwulen Spießer an eine mögliche Zusammenarbeit. »Der schwule Saunabesitzer war für uns damals kein Verbündeter im Kampf gegen Ausgrenzung, sondern ein Kapitalistenschwein.«
1987 kam Jens Dobler nach Berlin. Auf Anti-AKW-Bewegung, »Antiimperialistischen Widerstand« und Totalverweigerung folgte die Schwulenszene. Seitdem hat sich – wie könnte es anders sein? – viel verändert. Wir trafen uns Ende Oktober in seiner Wohnung und sprachen über schwule Perspektiven auf das sich wandelnde Berlin. Führte das Verschwinden der Mauer zum Untergang der Westberliner Tunteninsel?
Um diese Frage beantworten zu können, muss man zunächst das im doppelten Sinn insuläre Phänomen der siebziger und achtziger Jahre beschränkten, die schwule Nische im Westberliner Soziotop beschreiben. Was machte »die Szene« aus? Prägend war das Selbstverständnis der aktiven Schwulen als politische Avantgarde. Spätestens seit dem so genannten Berliner Tuntenstreit von 1975 hatten sich – zumindest unter den Kreuzberger Schwulen – ein nonkonformer Lebensstil und linke Überzeugungen durchgesetzt. »Die Schwusos und gewerkschaftliche Gruppen wie die schwulen Lehrer waren damals in unseren Augen Integrationisten«, sagt Jens Dobler. »Wir aber haben das bürgerliche Leben radikal in Frage gestellt.« Dieser Abschied von der bourgeoisen Ordnung trennte die »schwulen Hippies« von ihren vermeintlich bürgerlichen Brüdern mit derselben sexuellen Orientierung. Der eingangs geschilderte Polit-Jux linker Tunten zeigt, wie tief der Graben war.
Jens Dobler skizziert eine zerklüftete schwule Topografie. »Die Normalos, die Sparkassen- und Frisörschwuppen, wie wir damals sagten«, tummelten sich vornehmlich im Schöneberger Kiez, wo sie herausgeputzt zu Disco-Musik tanzten. Die Lederszene hatte wiederum ihre eigenen Treffpunkte. »Und sicherlich gab es auch Lokale für wohlsituierte Herren mit homoerotischen Interessen, die wir schlichtweg nicht kannten.« In den Köpfen waren die Distanzen klar markiert. »Nach Schöneberg ging man nur, um Sex zu haben, nachdem man zuvor in Kreuzberg über die Weltrevolution diskutiert hatte.«
Die alternative Schwulenszene war überschaubar. Man unterhielt sich, trank und feierte in der O-Bar, im Café Gräfe und im SchwuZ. Man engagierte sich bei der Allgemeinen Homosexuellen Arbeitsgemeinschaft (AHA), der Schwulenberatung und der Aids-Hilfe. Und man pflegte die Konflikte, beispielsweise zwischen den »TBS-Leuten« (Treffen Berliner Schwulengruppen) und dem »links-autonomen Spektrum«. »Man kannte die Leute und wusste, wer in welcher Gruppierung arbeitet.« Jens Dobler spricht nicht ohne Begeisterung von der »Kuscheligkeit« der Kreuzberger Szene und von der aufregenden Mischung unterschiedlicher Menschen, die dort zusammenkamen.
Allerdings weist Jens Dobler jegliche Westalgie weit von sich. Er hat die Veränderungen der vergangenen 20 Jahre miterlebt und mitgestaltet. Zugleich hat er sich als Historiker intensiv mit der Berliner Schwulengeschichte im 20. Jahrhundert befasst. Von Berufs wegen weiß er, dass sich die Dinge ständig ändern. Deswegen ist er vorsichtig und beklagt den Wandel nicht gleich als Verlust. Dem Szenario vom Untergang der Insel hält Dobler das Bild einer »Landgewinnung« entgegen. Die Öffnung der Westberliner Grenzen sei eine »wahnsinnige Chance« gewesen. Sie habe einen »frischen Wind« gebracht und die links-alternative Schwulenszene »ausgelüftet«. In seiner Darstellung weicht die gewaltige maritime Bilderwelt des In-den-Fluten-Versinkens einer zügigen, aerodynamischen Metaphorik.
»Viele Westler haben damals gejammert über die ›Ossis‹, dass alles bei uns jetzt kaputtgeht, die Emanzipationsarbeit, die linken Errungenschaften in der Stadt usw.« Jens Dobler begreift das Aufeinandertreffen von West und Ost jedoch nicht als Beginn eines Niedergangs. Zunächst berichtet er von Verständigungsproblemen. Die Männer aus dem Osten und die aus dem Westen unterschieden sich in ihren sprachlichen Codes und in ihren sozialen Praktiken. Das reichte vom Küssen bis zum Händeschütteln. »Die Westberliner wunderten sich darüber, dass sich Neuankömmlinge auf Partys mit allen Anwesenden bekannt machten. Umgekehrt empfanden viele Ostberliner die ›Wessis‹ als kühl und snobistisch.«
Vor allem aber prallten zwei Erfahrungshorizonte aufeinander: »Die hatten gerade eine friedliche Revolution hinter sich, und wir standen im linken Kampf gegen den Staat.« Es sei klar gewesen, sagt Jens Dobler, dass der »Zusammenbruch des Sozialismus zum Zerfall der linken Bewegung führen« würde. Aus Sicht der politischen Avantgarde warf die »Wiedervereinigung« den zuvor erreichten »Bewusstseinsstand« um Jahre zurück. Schwule Kommunisten aus West und Ost fürchteten gemeinsam um die Zukunft ihrer Utopie. Dieser Ernüchterung gesellschaftspolitischer Hoffnungen standen allerdings, so Jens Dobler, neue Möglichkeiten gegenüber, die sich der Homosexuellenbewegung eröffneten.
»Endlich wurde die Schwulenfrage nicht mehr mit der Systemfrage verknüpft. Es wurde nicht mehr diskutiert, ob man zuerst eine kommunistische Revolution braucht, bevor man die Schwulen befreien kann.« Vorbei war die Zeit der endlosen Plenardebatten in WGs und in anderen Kollektiven. Beim Zuhören kann ich sein erleichtertes Aufatmen förmlich spüren. Ich begreife auch, warum er heute mitunter von Angehörigen der linken Schwulenszene »als Rechter angeschossen« wird. Aber für Dobler geht es nicht um Weltanschauungsfragen. Für ihn ist Schwulsein kein politisches Statement. Er freut sich über den »neuen Pragmatismus«, der sich in den neunziger Jahren von der Ost- auf die Westbewegung übertragen habe. Und er freut sich über die rechtlichen Verbesserungen, die das schwule Leben erleichterten.
Dass der Anstoß zu vielen dieser Verbesserungen aus östlicher Richtung kam, zeigt die Geschichte von der Abschaffung des Paragrafen 175. Sie geht auf einen Beschluss der letzten DDR-Volkskammer zurück. Die Streichung des homophoben Paragrafen gehört zu den wenigen Besonderheiten des Beitrittsgebiets, die ins gesamtdeutsche Recht übernommen wurden. Auch der SVD, heute LSVD (Lesben- und Schwulenverband in Deutschland), wurde 1990 noch in der DDR gegründet. Später sind viele Westler beigetreten. Der Verband gilt als Motor der »bürgerrechtlichen Homosexuellenbewegung«, die maßgeblich an der Durchsetzung der eingetragenen Lebenspartnerschaft und des Antidiskriminierungsgesetzes beteiligt war.
Dobler sieht jedoch nicht nur rechtspolitische Fortschritte. Zu den zentralen Errungenschaften der ost-westlichen Zusammenkunft rechnet er die Überwindung der Frauenfeindlichkeit im Westberliner Schwulenmilieu. Viele Ostmänner waren in jungen Jahren mit Frauen zusammen und hatten Kinder. Während schwule Väter im Westen ihren Anspruch auf eine homosexuelle Identität rechtfertigen mussten, pflegte man im Osten ein entspannteres Verhältnis zur heterosexuellen Vergangenheit und einen entkrampfteren Umgang mit Frauen. Diese Erfahrungen trugen mit dazu bei, »dass die Geschlechterkämpfe heute nicht mehr so verbittert geführt werden. In den siebziger und achtziger Jahren betrachteten Lesben schwule Männer als die Spitze des Patriarchats. Umgekehrt machte das Gockelverhalten der Schwulen eine Zusammenarbeit mit den Feministinnen unmöglich.« Nach 1990 überwand man diese Trennung und organisierte gemeinsam schwullesbische Partys und andere Aktionen. Diese neuen Kollaborationen und der frische Pragmatismus haben, so Jens Dobler, der Homosexuellenbewegung gut getan. Allerdings betrachtet er die west-östliche Annäherung nicht als den entscheidenden Auslöser für diese Entwicklung.
»Aids hat uns alle vereint. Da war egal, ob du alternativ, links, grün oder sonstwas warst. Es war eine Überlebensgeschichte. Wie retten wir unsere Freunde?« Die Angst, die Verzweiflung, die Trauer und das Bedürfnis, etwas zu tun. »Wie überleben wir, und wie gehen wir mit den vielen Toten um?« Das waren die existenziellen Fragen in der Westberliner Schwulenszene der späten achtziger Jahre. »Die Siegessäule wurde damals Seuchensäule genannt«, erinnert sich Jens Dobler, »und ich war jeden Monat auf einer Beerdigung.«
Dringende Probleme waren zu lösen. Die Partner der Erkrankten versuchten, in den Kliniken ihre Rechte durchzusetzen. »Die SchwuZ-Tunten haben mit PositHiv e.V. den ersten schwulen Pflegedienst gegründet.« Versicherungsfragen mussten geklärt, Gelder organisiert, politischer Druck aufgebaut und neue Beratungseinrichtungen geschaffen werden. »Die Bewegung musste sich professionalisieren, und sie tat es auch.« Praktische politische Fragen bestimmten die Agenda. Verwerfungen und Distanzen, wie die zwischen »Linken« und »Bürgerlichen« verloren an Bedeutung. Viele arbeiteten zusammen – gegen HIV.
Nur eine Gruppe stand, so beschreibt Dobler die Szene, abseits. Seine Abneigung ist ihm immer noch anzumerken, wenn er von der »kritischen Aids-Diskussion« spricht. »Teile der links-autonomen Szene flüchteten sich in antikapitalistische Verschwörungstheorien.« Sie betrachteten Aids als Erfindung entweder der Pharma-Industrie, die ihre Medikamente vermarkten wollte, oder der CIA, die Menschenversuche in der Dritten Welt durchgeführt hätte, oder der Konservativen, die den Schwulen ihren nonkonformen Lebensstil verbieten wollten. Damals hat Jens Dobler mit einigen Freunden gebrochen.
Der »Kampf gegen Aids« zeitigte jedoch – bei aller Traurigkeit – auch gute Dinge, wie er rückblickend bemerkt. Das zerklüftete Nebeneinander der Westberliner Schwulenszenen verschwand. An seine Stelle trat eine mitunter konfliktreiche Zusammenarbeit, in der alle Seiten lernten, die Vielfältigkeit homosexueller Lebensentwürfe anzuerkennen. Diese Diversifizierung der Berliner Schwulenlandschaft bezeichnet Jens Dobler als zentrale Errungenschaft der neunziger Jahre. Zusammen mit dem Abbau der Grenzen nach Osten führte sie nicht zum »Untergang der Tunteninsel«, sondern zur Öffnung der eingekapselten Kreuzberger Subkultur, zur »Landgewinnung«.
Schwule Orte in Prenzlauer Berg und in Friedrichshain bereicherten und erweiterten die mental maps der ehemaligen Westler. Die Szene wurde zunehmend dezentralisiert und unüberschaubar. »Heute gibt es unendlich viele Initiativen und Leute, die da mitmachen. Eine schwule Gruppe bei der Deutschen Bank erarbeitet Diversity-Richtlinien, Mitarbeiter der BVG nehmen am CSD teil usw. An Schwule in der CDU oder bei der Polizei haben wir in den Achtzigern doch noch gar nicht gedacht.« Auch die links-alternative Schwulenszene ist mitnichten verschwunden. Immer wieder wehren sich Hausbesetzer gegen Räumungen und organisieren einige den »transgenialen CSD« in Kreuzberg als Gegengewicht zum »großen CSD, den heute eine GmbH betreibt«. »Je reifer eine Bewegung ist«, sagt Jens Dobler, »desto mehr Diversität ermöglicht sie.«
Doch nicht nur geografisch und personell hat sich das schwule Tableau in Berlin verbreitert. Auch neue Vorbilder und Themen gesellten sich dazu. Während das Tourismus-Marketing das Image des hedonistischen Party-Schwulen propagiert und das Internet schnelle Kontakte erleichtert, laden andere unter dem Stichwort »queer« zum kreativen Umgang mit den Geschlechterdifferenzen ein. Unterdessen versucht der LSVD, die »Regenbogenfamilie« auf die politische Tagesordnung zu setzen. Angesichts dieser Unübersichtlichkeit beschleicht Jens Dobler eine gewisse Angst. »Es darf auf keinen Fall dazu kommen«, warnt der Historiker, »dass wieder wertend zwischen guten und bösen schwulen Lebensstilen unterschieden wird.«
Sein Bild der Zukunft sieht ganz anders aus. »Kannst du dir vorstellen, dass man sich irgendwann nicht mehr auf seine Homosexualität festlegen muss? Dass Sympathie, Attraktivität und Liebe – nicht Geschlecht und sexuelle Orientierung – darüber entscheiden, mit wem man ins Bett geht?« fragt er mich gegen Ende unseres Gesprächs. Ein schöner Gedanke, finde ich, während mir auf dem Nachhauseweg am Gleisdreieck der Bohrhammerlärm in den Ohren dröhnt. In den vergangenen 20 Jahren hat sich viel verändert. Es würde mich überraschen, wenn es in den kommenden zwei Dekaden anders wäre. Keiner will die Zukunft, wie sie war.