Über den Sammelband »Königin im Dreck« von Roland M. Schernikau

»ich glaube nicht, dass man recht haben muss«

Wie geht man mit Größe durch den Schund der Zeit? Das war die Frage, die Ronald M. Schernikau für sich formuliert hatte. Im Sammelband »Königin im Dreck« gibt es ein paar Antworten.

Um 1984 hat Ronald M. Schernikau einen Text für eine Kleinanzeige aufgesetzt: »ich brauche geld. ich bin homosexuell und links, und ich schreibe romane. davon kann ich nicht leben.« Ob er die Anzeige dann auch tatsächlich geschaltet hat, ist nicht bekannt. Es spielt auch keine Rolle. Viel wichtiger ist die entwaffnende Ehrlichkeit dieser Sätze, so pointiert, radikal, aber zugleich auch naiv und ich-fixiert wie Schernikaus Prosa. Hier schreibt ein Autor, dem egal ist, was andere Menschen über ihn denken.
Weil Schernikau von seinen Romanen alleine nicht leben konnte, schrieb er gelegentlich für Zeitungen. Auch dort meist in berüchtigter Klein­schreibung. Sein ehemaliger Lebensgefährte Thomas Keck hat die wichtigsten journalistischen Arbeiten nun für den Sammelband »Königin im Dreck« zusammengestellt und damit eine Auswahl getroffen, die mindestens so viel über den eigenwilligen Autoren aussagt wie Matthias Frings’ viel beachtete Biografie »Der letzte Kommunist«. Alle Themen, die Schernikau am Herzen lagen, finden sich hier versammelt, darunter Schlager, Kommunismus, Homosexualität und Literatur. Schernikau war sich der Widersprüche bewusst, die entstehen, wenn man sich ei­ner­seits zu kapitalistischen Ikonen wie Romy Schneider oder Andy Warhol, aber auch zur DDR als Staat bekennt. Darum bemühte er sich redlich, sie nicht als Widersprüche stehen zu lassen, sondern dialektisch aufzulösen. Ob Heiner Müller und Marilyn Monroe besser gewesen sei, fragt er zu Beginn des Aufsatzes »Die Wahrheit ist westlich« und kommt zu einem nicht ganz befriedigenden Ergebnis: »in bildbänden über ihr leben hat monroe müller überholt, in magis­terarbeiten schon jetzt müller monroe, obwohl er fünf jahre jünger ist.« Wäre dies ein Schulaufsatz, hätte Schernikau wahrscheinlich nicht mal eine Vier bekommen. Doch genau darauf zie­len seine manchmal respektlosen, immer hochkomischen Rezensionen ab – sie sind ein Affront gegen die Mentalität von Deutschlehrern und gegen die argumentative, sozialdemokratische Debattenkultur, gegen die Betroffenheit von Schriftstellern wie Heinrich Böll ebenso wie gegen den Ansatz, Literatur mittels Interpretation »verstehen« zu können.
Diese Abgrenzung führt zu herrlich albernen, bisweilen pubertären Setzungen wie: »ich glaube nicht, dass man recht haben muss. beispiel der klägliche versuch, die welt über worte zu än­dern.« Oft bedient sich Schernikau dabei der schülerhaften Unbeholfenheit des Nacherzählens und Aneinanderreihens von Lexikonwissen und bringt Sachverhalte mittels Naivität auf den Punkt. Ihm gelingt beispielsweise, Leben und Werk von Gertrude Stein in einem einzigen Satz so zu verdichten, dass darin sogar der Duktus von Steins Sprache selbst mitschwingt: »Gertrude Stein lebte von 1874 bis 1946, sie war eine Amerikanerin und sehr dick und ziemlich vermögend, sie lebte in Paris und mit Alice B. Toklas zusammen, sie ließ sich mit dreiundfünfzig Jahren die Haare kurz schneiden und sie übte den Beruf des Genies aus.« Auf diese vermeintliche Respektlosigkeit folgt eine schwärmerische Rezension zu Gertrude Steins Hauptwerk »The Making of Americans«.
Was Schernikau an der sozialdemokratischen Betroffenheitskultur so sehr gehasst hat, dass er sie mit der Sprache eines Pennälers attackierte, lässt sich nur erahnen. Einer, der Schlager liebte, konnte wohl nur wenig mit jenen anfangen, die ständig auf »künstlerischen Anspruch« pochten. Und einem bekennenden Kommunisten musste die Unantastbarkeit suspekt sein, mit der im Westen Freiheit und soziale Gerechtigkeit verkauft wurden: »in der tagesschau des kapitalistischen deutschland kommt an ers­ter stelle – auch zeitlich gesehen – die propaganda. behauptungen, lügen, unterstellungen zuerst. die aktuelle kamera des sozialistischen deutschland macht es umgekehrt: erst die infor­mation, dann die propaganda. meine freundin leyla sagt zu so etwas: süß-naiv.«
Nicht nur sein verklärter Blick auf die DDR, das »schönste Land der Welt«, sondern auch seine reale Unterdrückungserfahrung im Westen mach­te es Schernikau schwer, sich mit dem westlichen Kulturbetrieb anzufreunden.
Schon seinen Debütroman »kleinstadtnovelle« (1980) hatte er im linksliberalen Milieu angesiedelt, was die Homophobie der um Toleranz bemühten Umgebung umso erdrückender hervortreten lässt. In dem nur zwei Seiten langen Text »Zweiundzwanzigtausend« wird Schernikau noch etwas deutlicher. Darin beschreibt er, wie er und sein Freund auf einem Festival Zärtlichkeiten austauschen, woraufhin es zu Sprüchen und Gelächter kommt: »ekelhaft ist es ja doch.« Kurz darauf betritt Ilja Richter die Bühne und wird ausgebuht, weil das Publikum Discomusik für reaktionär hält. Erst an dieser Stelle löst Schernikau auf, dass es sich um eine Veranstaltung der Friedensbewegung handelt. Er gibt zu bedenken: »wir sollten glücklich sein, dass wir mit der friedensbewegung auch menschen erreichen, die süverkrüp nicht länger als zehn minuten aushalten (wie mich).« Die Re­de ist von Dieter Süverkrüp, einem betulichen, sehr engagierten Liedermacher. An so etwas war Schernikau nicht interessiert, ihm ging es vor allem um Style: Musik und Kunst allgemein mussten schön sein, nicht politisch.
Wer wie Schernikau politisch sowieso das Ganze forderte, brauchte keine politische Kunst, zumindest keine »politisch engagierte«. Wenn Schernikau über das problematische Verhältnis der (in seinen Texten fast immer westdeutschen) Linken zur Ästhetik schreibt, meint er stets auch deren problematisches Verhältnis zur Homosexualität, das sich seinerzeit unter anderem in der Ablehnung von Disco niederschlug, einer Musik, die der Alternativkultur als versnobt, oberflächlich, körperfixiert galt. Stereotypen, die sich auch Schwule lange Zeit anhören mussten.
Über die Lebensumstände von Schwulen in der DDR hat Schernikau jedoch geschwiegen, denn dieses Land, dessen Staatsbürger er noch 1989 wurde, genießt bei ihm eine seltsame Immunität. Kritisches wie den Satz »Die Dummheit der Kommunisten halte ich für kein Argument gegen den Kommunismus« liest man nur selten, meist nämlich ist DDR-Kritik bei Schernikau nur eine andere Form von Schwärmerei, etwa wenn er sich beklagt, dass das Brot in der DDR zu billig sei. Ein Sozialismus, der seine Bürger beschenkt, indem er beim Brot draufzahlt, übertreibt es mit der Volksliebe.
Im März 1990, als der DDR-Sozialismus zusam­mengebrochen war, hielt Schernikau eine Rede auf dem Kongress der Schriftsteller der DDR und beendet sie mit zwei prägnanten Sätzen: »Am 9. November 1989 hat in Deutschland die Konter­revolution gesiegt. Ich glaube nicht, dass man ohne die Erkenntnis in der Zukunft wird Bücher schreiben können.« Doch, man konnte und kann es bis heute. Schernikau musste das meiste davon nicht mehr miterleben, er starb 1991 an den Folgen seiner Aids-Erkrankung. Man muss seine DDR-Liebe nicht teilen, um darüber traurig zu sein, dass eine der letzten Gegenstimmen zum großdeutschen Taumel viel zu früh verstummt ist.

Ronald M. Schernikau: Königin im Dreck. Verbrecher-Verlag, Berlin 2009. 303 Seiten, 15 Euro