Debatte um die Prix-Goncourt-Preisträgerin in Frankreich

Republik der Schleimer

Weil sich die Autorin Marie N’Diaye kritisch zur französischen Migrationspolitik geäußert hatte, forderte der Regierungsabgeordnete Eric Raoult eine kulturpatriotische »Pflicht zur Zurückhaltung für die Goncourt-Preisträger«. Die Forderung hat viele Kulturschaffende empört, doch ausgerechnet der Kulturminister mochte sich dazu nicht äußern.

Faxgeräte muss man bedienen können. Der konservative Abgeordnete Eric Raoult will es nicht gekonnt haben. Als er eine Anfrage an den Kulturminister Frédéric Mitterrand richtete, muss er wohl den falschen Empfängercode eingegeben haben, und rein zufällig wurde die direkt an den Minister adressierte Frage auch an sämtliche französische Presseredaktionen gefaxt. Eine Ungeschicklichkeit, ein Versehen, das eine öffentliche Polemik auslöste. Rein zufällig und seitens des Abgeordneten natürlich gänzlich unerwartet.
Zu gerne hätte Raoult von Kulturminister Mitterrand gewusst, ob man nicht von Preisträgern eines französischen Literaturpreises ein devoir de neutralité, also eine Pflicht zur Zurückhaltung in öffentlichen Meinungsäußerungen erwarten könne. Das devoir de neutralité ist eine Treuepflicht von Beamten gegenüber dem Staat, welche die freie Meinungsäußerung von Staatsbediensteten in gewissen Funktionen – etwa Polizisten und Militärs – unterbindet. Die Anfrage des konservativen Abgeordneten zielte jedoch nicht auf die Loyalitätspflicht von Uniformträgern, vielmehr ging es um Schriftsteller: Diese repräsentierten, einmal mit einem prestigeträchtigen Preis ausgestattet, ja schließlich ihr Land in der internationalen Öffentlichkeit. Also dürften sie auch gefälligst nicht dessen Ansehen, das »seiner Regierenden, seiner Institutionen«, ramponieren, begründete Raoult.
Im Blick hatte er dabei die Autorin Marie N’Diaye, die am 2. November 2009 den renommierten Literaturpreis Prix Goncourt zugesprochen bekommen hatte. Den Preis erhielt sie für ihr Buch »Trois femmes puissantes« (Drei starke Frauen), das das Leben dreier Frauen in Afrika und Europa erzählt und das schon seit Sommer dieses Jahres hohe Verkaufszahlen erzielte.
Marie N’Diaye ist das Kind eines senegalesischen Vaters und einer französischen Mutter. Ihr Bruder Pap N’Diaye ist Historiker an der École des hautes études en sciences sociales und Begründer der französischen Black Studies. Heute lebt sie mit ihrem Ehemann und ihren Kindern in Berlin.
Bereits im vergangenen Jahr war Atiq Rahimi, ein weiterer französischsprachiger Autor mit internationalem Profil und migrantischem Hintergrund, mit dem Prix Goncourt geehrt worden. Rahimi, ein gebürtiger Afghane, war 1984 als junger Asylbewerber nach Frankreich gekommen. Sein Buch »Syngué Sabour« erzählt die Geschichte eines querschnittsgelähmten Mannes im Krieg. Und der ebenfalls prestigeträchtige Preis Renaudot wurde 2008 an den aus Guinea stammenden französischsprachigen Schriftsteller Tierno Monénembo für sein Buch »Le roi de Kahel« verliehen.
Doch dem rechten Abgeordneten Raoult gefiel die diesjährige Goncourt-Preisträgerin nicht. Nicht, dass er an ihrem Buch etwas auszusetzen gehabt hätte, er hat es wohl auch gar nicht gelesen. Aber er hatte ein Interview mit Marie N’Diaye gelesen, das Mitte August im Kulturmagazin Les Inrockuptibles abgedruckt war. Darin hatte sie erklärt, dass sie nicht länger in Frankreich habe leben wollen, weil sie die Politik Nicolas Sarkozys unerträglich finde. Im Hinblick auf den Umgang mit Einwanderern erklärte N’Diaye, das Frankreich Sarkozys habe eine »Polizeimentalität« und sei »vulgär« geworden. Dem Minister für Einwanderung und nationale Identität, Eric Besson, attestierte sie eine »monströse« Mentalität.
Dies war in den Augen Eric Raoults zu viel, weshalb er auf die Idee kam, eine Treuepflicht für Schriftsteller – als internationale Repräsentanten Frankreichs – gegenüber ihrem Land »und seinen Institutionen« zu fordern. Allerdings stammen die kritischen Äußerungen der Autorin aus der Zeit vor der Preisverleihung. Noch wichtiger ist, dass der Goncourt nicht einmal ein Staatspreis ist, sondern von einer privaten Jury verliehen wird, in der vor allem die etablierten Verlage repräsentiert sind.
Die Proteste aus der Kulturwelt gegen die staatliche Intervention des Abgeordneten reißen seither nicht mehr ab. Die Pariser Abendzeitung Le Monde druckte eine Seite mit Reaktionen von Schriftstellern ab, die einhellig ablehnend ausfallen und von Zensur und staatlicher Kontrolle der Literatur sprechen. Atiq Rahimi, der Preisträger des vergangenen Jahres, der sich damals kurz nach der Entgegennahme des Goncourt politisch geäußert hatte und sich gegen Abschiebungen von Migranten in sein Herkunftsland Guinea aussprach, schrieb, dass Victor Hugo und Albert Camus sich angesichts solcher Forderungen im Grabe umdrehen würden.
Das Kulturmagazin Les Inrockuptibles legte in der vorigen Woche nach und druckte Reaktionen aus der Kulturwelt ab. Es äußerten sich Schriftsteller, darunter Rahimi, Patrick Modiano, der Preisträger des Goncourt im Jahr 1978, Anne Wiazemsky, der britische Romancier Hanif Kureishi, aber auch die Schauspielerin Juliette Binoche, der Regisseur Antoine de Caunes (»Für Künstler darf allein der Himmel die Grenze bilden«), der Sänger Alain Souchon oder der Fernsehkomiker und Schauspieler Jamel Debbouze. Sie alle wollen die Freiheit des Denkens und kulturellen Schaffens vor autoritärer Bevormundung aus der Politik bewahrt sehen. Unterdessen erschien auch eine Petition von Schriftstellern zur Unterstützung Marie N’Diayes. Zu den Unterzeichnern zählen etwa der bekannte Romanautor François Bon oder der sozialkritische Schriftsteller François Salvaing.
Eric Raoult seinerseits ist kein Unbekannter. Er saß als für die so genannten sensiblen Vorstädte zuständiger Minister für Stadtentwicklung und Integration in der bürgerlichen Regierung von Alain Juppé in den Jahren 1995 bis 1997. Heute amtiert er als Bürgermeister von Le Raincy, der reichsten Stadt im Bezirk Seine-Saint-Denis – in der nördlichen Pariser Trabantenstadtzone –, dessen prächtige Villenviertel sich von den umliegenden Sozialghettos umso deutlicher abheben. Während der Unruhen in den Banlieues im Herbst 2005 zog er die Aufmerksamkeit auf sich, als er als einziger Bürgermeister in seinem Bezirk von der Möglichkeit Gebrauch machte, auf die Notstandsgesetzgebung zurückzugreifen und Ausgangssperren zu verhängen.
Raoult zählt im Parlament zu den entschiedenen Gegnern der Homo-Ehe. Eine Diskussion löste er aus, als er in der Nationalversammlung Anfang November die Einführung eines Labels für »Frankreich-freundliche Länder« (pays amis de la France) forderte. Dieses solle traditionellen Bündnispartnern – genannt wurde in der Debatte die zentralafrikanische Erdölrepublik Gabun – verliehen und der Handel mit Produkten aus Frankreich-freundlichen Ländern sollte begünstigt werden.
Erst jüngst stand Raoult im Mittelpunkt einer heftigen Auseinandersetzung, als er die Entscheidung der tunesischen Diktatur rechtfertigte, eine Reporterin der liberalen Pariser Zeitung Le Monde am Flughafen von Tunis festzunehmen und umgehend nach Frankreich abzuschieben. Die Nordafrika-Spezialistin der Zeitung, Florence Beaugé, war im Kontext der Farce um die »Wiederwahl« von Präsident Ben Ali Ende Oktober auf diese Weise unfreiwillig nach Paris zurückgeschickt worden. Raoult hatte öffentlich behauptet, die Journalistin habe den tunesischen Präsidenten mit unflätigen Worten bedacht und dessen Ehefrau Leila Trabelzi als »Schlampe« oder »Nutte« bezeichnet. Ein Vorwurf, der nicht stimmt und dem Abgeordneten eine schneidende Replik der liberalen Abendzeitung eintrug. Seine Anschuldigungen hatte Raoult, der zu den Lobbyisten der tunesischen Regierung in Frankreich zählt, offenkundig von Zuträgern der dortigen Regimepresse übernommen. Raoult offenbarte dadurch nicht nur seine Nähe zum tunesischen Polizeistaat, sondern vor allem auch ein reichlich gestörtes Verhältnis zur Pressefreiheit.
Kulturminister Frédéric Mitterrand zeigte sich ausgesprochen reserviert gegenüber dem Anliegen, das der Abgeordnete Raoult an ihn herangetragen hatte, und weigerte sich, in die Debatte einzugreifen. Er erklärte zwar, die Preisträger­innen und Preisträger des Goncourt hätten »ein Recht zu sagen, was sie wollen«; auch erinnerte er daran, dass der Literaturpreis keine staatliche Einrichtung sei. Dieses Recht auf freie Meinungsäußerung gelte aber auch für den Abgeordneten, der die Polemik ausgelöst hatte: »Eric Raoult, der ein Freund und ein schätzenswerter Mann ist, hat das Recht, als Bürger, selbst als Mandatsträger zu sagen, was er denkt.« Er fügte hinzu: »Ich habe nicht den Schiedsrichter zu spielen, wenn eine Privatperson sagt, was sie denkt, und ein Abgeordneter sagt, was er auf dem Herzen hat. Das betrifft mich als Bürger – aber es geht mich nichts als Minister an.«
Die Zurückhaltung Mitterrands dürfte seiner eigenen heiklen Situation geschuldet sein. Denn in weiten Teilen der Regierungspartei UMP gilt er längst als unsicherer Kantonist. Schon seine Nominierung – im Namen der von Präsident Sarkozy ausgerufenen »Politik der Öffnung«, die dazu dient, ehemalige Prominente des gegnerischen politischen Lagers einzusammeln und für Ministerposten zu rekrutieren – war in konservativen Kreisen höchst umstritten. Der homosexuelle Mitterrand geriet zudem im Oktober wegen Pädophilie-Vorwürfen in die Schlagzeilen (Jungle World 44/09) und sein Verbleiben im Amt schien zeitweise fraglich. So zitierte Libération am 9. Oktober einen UMP-Abgeordneten mit den Worten: »Ohnehin schätzt unsere Wählerschaft weder die Kultur noch die Homosexualität. Und beides zusammen wird ihr zu viel.«
Die linksalternative Gewerkschaft der Beschäftigten im Kulturministerium Sud hat sich unterdessen in einem Offenen Brief an den Minister gewandt und seine Untätigkeit in der Debatte beklagt: »Marie N’Diaye hatte Sie ausdrücklich gebeten, sich zu Wort zu melden, um dieser grotesken Polemik ein Ende zu setzen (…). Monsieur le ministre, wir fordern Sie feierlich dazu auf, endlich den Mut zu finden, öffentlich eine mutige und würdige Position einzunehmen.«
Inzwischen hat Eric Raoult seine Anfrage an Frédéric Mitterrand offiziell »zurückgezogen«. Darauf beruft sich der Kulturminister nun, um zu erklären, die Debatte sei gegenstandslos geworden. Eine weitere Wortmeldung zum Thema verweigert er.
Eric Raoult schwächte seine Äußerungen mittlerweile formal ein wenig ab. Statt von einer Neutralitätspflicht sprach er nunmehr von einem »Grundsatz der Mäßigung« (principe de modération) für die Literaturpreisträger, was Meinungsäußerungen zu politischen oder gesellschaftlichen Streitfragen betrifft. Was in der Sache jedoch auf dasselbe hinausläuft.
Nicht nur aus der französischen Kulturwelt kamen zahlreiche Stellungnahmen zu den jüngsten Forderungen, auch die politische Opposition reagierte. Daniel Cohn-Bendit erklärte zu der Debatte: »Eric Raoult beweist, dass auch er ein Stiefelknecht Nicolas Sarkozys ist.« Der grüne Abgeordnete im Europa-Parlament meinte sogar, eine »Republik der Schleimer« heraufziehen zu sehen. Der sozialdemokratische Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë warf dem konservativen Abgeordneten Rassismus vor; wäre die Schriftstellerin eine Weiße, hätte sich der Minister wohl kaum erlaubt, auf diese Weise und in diesem Ton mit ihr umzuspringen. Bezeichnenderweise habe Raoult den Fall Marie N’Diaye mit dem Yannick Noahs und Lilian Thurams verglichen; die ehemaligen Sportler, beide Kritiker Sarkozys, sind ebenfalls schwarz.
Eric Raoult seinerseits erklärte am Dienstagabend voriger Woche in einer Fernseh-Talkshow: »Ich habe das Gefühl, dass die Todesstrafe wieder eingeführt worden ist – für mich.« Das linksliberale Wochenmagazin Marianne fand unterdessen folgende Schlagzeile für ihn: »Klischees aller Länder, vereinigt euch – und das ergibt Eric Raoult!«
Die jüngste Polemik muss auch im Kontext der aktuellen Regierungskampagne und staatsoffiziell ausgelösten Debatte zum Thema »nationale Identität« (Jungle World 46/09) betrachtet werden. Am vorvergangenen Donnerstag hielt Präsident Sarkozy eine einstündige Rede zum Thema, und inzwischen wurde eine Par­lamentsdebatte über die Nationalidentität für den 8. Dezember anberaumt. In Zeiten, wo französische Patrioten und Chauvinisten sich ihrer selbst vergewissern möchten, wollen sie sich von einer Autorin nicht kritisieren lassen.