Über die Außenpolitik der Europäischen Union

Ein Riese auf Spinnenbeinen

Die Europäische Union hat nun eine »Außenministerin«. Nur eine gemeinsame Außenpolitik gibt es noch nicht. Von den außenpolitischen Zielen, die die europäischen Regierungschefs vor zehn Jahren formulierten, ist die Union heute weit entfernt.

Selten waren die transatlantischen Beziehungen so harmonisch, schon fast vergessen sind die Zerwürfnisse der Vergangenheit. Allen voran formulierte der französische Präsident Nicolas Sarkozy die neue europäische Charme-Offensive. »Ich komme nach Washington mit einer sehr einfachen Botschaft. Ich möchte Amerikas Herz zurückerobern«, säuselte er bei seinem Antritts­besuch im Weißen Haus vor zwei Jahren. Erst vor wenigen Wochen erklärte Bundeskanzlerin An­gela Merkel vor dem US-Kongress: »Wir Deutschen wissen, wie viel wir Ihnen verdanken. Niemals werde ich Ihnen das vergessen.« Fast selbstverständlich wirkt es da, dass kürzlich die britische Politikerin Catherine Ashton als neue EU-Außenbeauftragte designiert wurde. Dass eine Vertraute Gordon Browns die europäische Außenpolitik koordinieren soll, wird in Washington sicherlich gern gesehen.
Ashton wird ein Amt innehaben, wie es Europa noch nie gesehen hat. Der Lissabon-Vertrag, auf den die neuen EU-Spitzenposten zurückgehen, macht sie zur Herrscherin über einen gewaltigen Apparat. Im »Europäischen Auswärtigen Dienst« sollen demnächst bis zu 8 000 Beamte aus der EU-Kommission, dem Brüsseler Ratssekretariat und den Regierungen der Mitgliedsstaaten unter der Führung der »EU-Außenministerin« ein geschlossenes Vorgehen der EU-Diplomatie gewährleisten.

Das ist auch nötig, denn von den ehrgeizigen außenpolitischen Zielen, die die europäischen Regierungschefs noch zu Beginn des Jahrzehnts formulierten, ist die Union weit entfernt. In Folge der Kriege im ehemaligen Jugoslawien und einer neuen, expansiven Strategie der Nato verabschiedete der Europäische Rat auf dem Gipfel in Lissabon im Jahr 2000 den Plan, die EU bis 2010 »zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen«. Zugleich sollte im Eiltempo eine neue »Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik« aufgebaut werden. Kurz darauf war auch im Entwurf für die Europäische Verfassung vom Aufbau einer kollektiven »Verteidigungsagentur« die Rede. Darüber hinaus sahen die Pläne gemeinsame Truppenverbände, sogenannte »Battle Groups«, als Kern einer zukünftigen europä­ischen Militärmacht vor.
Die Politiker träumten von Europa als globaler Wirtschaftmacht, die ihre Interessen auch militärisch absichern und notfalls durchsetzen kann. Indirekt war damit aber ein Konflikt mit den USA vorprogrammiert, denn militärisch standen die Pläne einer autonomen europäischen Verteidigungspolitik in Konkurrenz zur Nato. Auch auf andere Bereiche wirkte sich das gespannte Verhältnis aus. Zeitweise entwickelte sich ein regelrechter transatlantischer Handelskrieg um Zölle und Einfuhrbestimmungen.
Ihren Tiefpunkt erreichten die Beziehungen zwischen den USA und Europa mit dem Irak-Krieg. In Frankreich und Deutschland bastelten sozialdemokratische Regierungen an einer Allianz mit Russland, während die außerparlamentarische Opposition beider Länder eine zivile Großmacht Europa als gesellschaftliches Gegenmodell zu den USA herbeisehnte.
Doch daraus wurde nichts. Nach den Regierungswechseln in Deutschland 2005 und Frankreich 2007 setzten die führenden Mächte in der EU wieder auf eine stärkere Kooperation mit den USA. Vor allem aber bremsten interne Probleme die außenpolitischen Ambitionen. Nachdem die EU-Verfassung 2007 in mehreren Ländern abgelehnt worden war, waren alle weiterreichenden Projekte zunächst blockiert. Als schließlich auch noch die Iren im vergangenen Jahr in einem Referendum den Vertrag von Lissabon ablehnten, der die gescheiterte Verfassung ersetzen sollte, vermuteten einige EU-Politiker sogar eine umfassende Verschwörung, um die Union als rivalisierenden »Global Player« auszuschalten.
Der grüne EU-Parlamentarier Daniel Cohn-Bendit unterstellte neokonservativen Kreisen in den USA, unter allen Umständen ein starkes und autonomes Europa verhindern zu wollen. Seiner Meinung nach existierten Verbindungen zwischen »den Finanziers der irischen Nein-Kampagne und dem Pentagon wie auch der CIA«, verriet er im September vergangenes Jahres der irischen Sunday Times. Diese Spekulation wurde sogar vom damaligen Vorsitzenden des Europa-Parlaments, Hans-Gert Pöttering (CDU), unterstützt.
Tatsächlich werden die außenpolitischen Ziele der Union weniger durch neokonservative Machenschaften aus den USA, als durch die widersprüchlichen Interessen der eigenen Mitgliedsstaaten behindert. So orientieren sich die osteuropäischen Länder außenpolitisch stark an die Vereinigten Staaten, die sie als eine Art Garant für ihre Souveränität betrachten. Die europä­ischen Institutionen hingegen werden oft argwöhnisch als anonyme Machtapparate angesehen, die sich unverfroren in innere Angelegenheiten einmischen. Der tschechische Präsident und entschiedene Gegner des EU-Vertrags Vaclav Klaus interpretiert die EU-Zentrale in Brüssel als eine Art Nachfolgerin der Sowjetunion, während polnische Politiker eine zu große deutsche Dominanz befürchten.
Die Sorge, von den großen Flächenstaaten dominiert zu werden, teilen die osteuropäischen Mitgliedsstaaten mit den kleinen westlichen EU-Ländern wie Dänemark oder Irland. Kein Inter­esse an einem zu engen Zusammenschluss hat auch Großbritannien, das wirtschaftlich eng mit den USA verflochten ist und traditionell viel Wert auf eine eigene Außenpolitik legt. Kaum vorstellbar ist, dass eines Tages wichtige Entscheidungen über Kriegseinsätze oder den Kündigungsschutz nicht in der Downing Street, sondern in Brüssel getroffen werden. Die beiden mächtigsten EU-Staaten, Deutschland und Frankreich, streben hingegen nach einer weitergehenden Integration unter ihrer Führung. Immer wieder drohten Politiker wie der ehemalige deutsche Außenminister Joseph Fischer mit dem Projekt eines »Kerneuropa«, das notfalls im Alleingang verwirklicht werden könnte.

Angesichts dieser divergierenden Interessen ist es schon fast verwunderlich, dass sich die Union überhaupt auf einen gemeinsamen Grundsatzvertrag einigen konnte. Doch dieser offenbart auch die Schwächen des europäischen Vorhabens. So sind die in Lissabon vor knapp zehn Jahren formulierten Zielvorgaben in vielen Bereichen Makulatur. Die dynamischsten Wirtschaftsregionen der Welt liegen heute nicht in Frankreich, Deutschland oder Italien, sondern in China, Indien und Brasilien. Von der gemeinsamen europäischen Armee hat man seit der sogenannten »Opera­tion Artemis« in der kongolesischen Provinz Ituri nicht mehr viel gehört, und die liegt nun auch einige Jahre zurück. Die unterschiedliche Vergangenheit der 27 Mitgliedsstaaten, ihr gespaltenes Verhältnis zur Nato und die Aversion dagegen, nationale Rechte abzugeben, tragen nicht gerade dazu bei, dass die Union mit einer Stimme spricht.
Der Regierungswechsel in den USA kam, so gesehen, gerade zur rechten Zeit. Während sich die EU weitgehend selbst blockiert, entdeckt der langjährige Verbündete wieder den in Europa so geschätzten Multilateralismus. Seitdem haben die Reden über die gemeinsamen, transatlan­tischen Werte Konjunktur, wobei immer die Hoffnung mitschwingt, mit Hilfe der USA die eigenen Schwächen kompensieren zu können.
Allein, die neue Freundschaft könnte durchaus auf einem Missverständnis basieren. Die Europäer verhandeln und entscheiden multilateral, weil der Staatenbund anders gar nicht funktionieren kann. US-Präsident Barack Obama sucht die internationale Kooperation hingegen aus pragmatischen Gründen, nachdem sein Vorgänger im Alleingang gescheitert ist. Wenn China hilft, die globale Wirtschafts- und Finanzkrise zu bewältigen, dann kann das Land zum wichtigsten Geschäftpartner der USA werden. Wenn Russland dazu beiträgt, die iranische Führung in der Atomfrage unter Druck zu setzen, dann berücksichtigen die USA wieder stärker russische Interessen.
So verzichtete die US-Administration kürzlich sehr zum Verdruss der osteuropäischen EU-Staaten auf den geplanten Raketenabwehrschild – ein Beschluss, der für die polnische Regierung das Ende der »besonderen Beziehungen« mit den USA symbolisierte. Gut möglich, dass bald weitere Entscheidungen folgen, die in Europa auf wenig Begeisterung stoßen. Potenzielle Konflikte gibt es viele. Was geschieht, wenn keine diplomatische Lösung in der iranischen Atomfrage gelingt? Wie will die US-Regierung ihr gigantisches Defizit kompensieren – mit Hilfe einer Inflation, die die europäische Wirtschaft stark belasten würde? Unklar ist auch, in welchem Maße die USA der EU in der Klimapolitik entgegen kommen. Die Europäische Union wirkt wie ein Riese, der auf Spinnenbeinen geht. Und Obamas Herz erobert, wer ihm nützlich ist.