Über die israelische Siedlungspolitik

Siedlungsstop mit Ausnahmen

Die israelische Regierung hat den Siedlern im Westjordanland den Wohnungsbau für zehn Monate untersagt. Doch der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas erklärte das Zugeständnis für unzureichend.

Nach Geheimsitzungen mit seinem Sicherheitskabinett verkündete der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Mittwoch der vergangenen Woche einen »historischen Beschluss«: Mit nur einer Gegenstimme im Kabinett habe er einen zehnmonatigen Baustopp in den Siedlungen beschlossen. Kommentatoren lobten Netanjahu dafür, »dazugelernt« zu haben. Er habe seinen Beschluss nicht wie früher im Alleingang gefasst, sondern seine Minister einbezogen. Ebenso habe er »verstanden«, dass Israel eine Kontroverse mit den USA tunlichst vermeiden sollte.
Doch Netanjahus vermeintlicher Gesinnungswandel bringt nicht den gewünschten Erfolg. Die Palästinenser verwarfen das befristete Moratorium, für eine Wiederaufnahme von Friedensgesprächen reiche das nicht aus. Der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas hatte eine Wiederaufnahme der Gespräche an die Bedingung geknüpft, dass Israel sich zu einem völligen Baustopp in den Siedlungen und in Ost-Jerusalem verpflichte. Abbas hatte den Fehler begangen, die Rede des US-Präsidenten Barack Obama in Kairo für die Grundlage einer neuen Nahost-Politik zu halten. Obama hatte die Siedlungen für »illegitim« erklärt und einen »Stopp« jeglicher Siedlungsaktivität gefordert.
Doch diese Forderung hatte Obama zuvor nicht mit seinen Verbündeten abgesprochen, weder mit Israel noch mit den Arabern. Die arabischen Staaten sollten israelische Konzessionen zum Anlass nehmen, ihrerseits Zugeständnisse zu machen. Doch Saudi-Arabien antwortete postwendend mit antisemitischen Äußerungen, indem es ausschloss, dass »jüdische Flugzeuge die heilige Luft über Mekka verpesten könnten«.

Israelische Diplomaten flogen nach Washington und erinnerten Außenministerin Hillary Clinton an amerikanische Verpflichtungen gegenüber Israel aus dem Sommer 2000, als Bill Clinton in Camp David versucht hatte, den Friedensprozess zu vollenden. Clinton versprach damals den Israelis, dass »große Siedlungsblöcke«, in denen auf etwa fünf Prozent des Westjordanlandes fast 90 Prozent der Siedler leben, Israel zugeschlagen werden sollten im Tausch gegen andere Gebiete. Ausgeschlossen wurde auch, dass Israel auf die jüdischen heiligen Stätten und die nach 1967 errichteten jüdischen Wohnviertel in der Hauptstadt verzichten müsse. In ihnen lebt inzwischen fast die Hälfte der jüdischen Bewohner Jerusalems. Palästinensische Ansprüche auf Ost-Jerusalem als Hauptstadt des künftigen Staates Palästina wurden erst 1968 in der zweiten PLO-Charta formuliert.
Der Status Jerusalems ist umstritten, so stehen alle Botschaften in Tel Aviv, obgleich Israel schon 1949 Jerusalem zu seiner Hauptstadt erklärt hatte. Dem Teilungsplan von 1947 zufolge hat Jerusalem den Status einer »internationalisierten Enklave unter der Kontrolle des Uno-Sicherheitsrates«. Dieser Teilungsplan wurde von den Juden akzeptiert und von den Arabern abgelehnt. Damals gab es weder Israelis noch Palästinenser. Mangels neuer bilateraler oder internationaler Verträge gibt es bis heute kein Abkommen, das diese Regelung ersetzt.

An Kritik und Mahnungen aus aller Welt sind die Israelis ohnehin gewöhnt. Während die palästinensische Bautätigkeit, auch ohne jegliche Baugenehmigung, akzeptiert wird, gilt allein der Bau von Wohnungen für Juden als »Schaffen neuer Fakten« und als Verstoß gegen die Road Map vom September 2002, dem »Fahrplan« des »Nahost-Quartetts« (EU, USA, Russland und Uno) für eine dauerhafte Zwei-Staaten-Lösung, der eine Abfolge von Konzessionen beider Seiten vorsieht.
Doch die Amerikaner haben inzwischen eingelenkt. Selbst Außenministerin Clinton fordert keinen »totalen« Siedlungsstopp mehr. Abbas wurde derweil kritisiert, weil er für die Aufnahme von Friedensgesprächen Bedingungen stellt, während Netanjahu nun darauf verweisen kann, jederzeit, ohne Bedingungen, zu weiteren Verhandlungen bereit zu sein. Abbas’ fester Glaube an die Macht und die Fähigkeit der USA, Israel zu einem völligen Siedlungsstopp zu zwingen, gepaart mit der Hoffnung, den Israelis durch internationalen Druck Konzessionen abzuringen, ohne selber darüber verhandeln und einen Preis zahlen zu müssen, erwies sich als Irrweg. Jetzt kann Abbas aber kaum noch seine Strategie ändern, ohne das Gesicht zu verlieren.

Netanjahus Beschluss, zehn Monate lang keine neuen Wohnungen in den Siedlungen zu genehmigen, ist mit einem langen Katalog von Ausnahmen verknüpft. Selbstverständlich gelte der Baustopp weder für Jerusalem noch für rund 3 000 Wohnungen, die derzeit im Westjordanland gebaut werden, noch für öffentliche Einrichtungen. Um das zu unterstreichen, genehmigte Verteidigungsminister Ehud Barak schon am Morgen nach Netanjahus Pressekonferenz den Bau von 28 Schulen.
Netanjahus Beschluss wird zwar von rechten Ministern mitgetragen, darunter Außenminister Avigdor Liberman, der in Nokdim nahe Bethlehem wohnt. Gleichwohl protestierten sowohl die eher gemäßigte offizielle Siedlervertretung, der Siedlerrat in Judäa, Samaria und Gaza, als auch radikalere Gruppierungen. Netanjahu wird vorgeworfen, gegen die Siedlerbewegung vorzugehen, wie es kein linksgerichteter Vorgänger im Amt des Ministerpräsidenten gewagt hätte.
Doch die Reaktionen unter den Siedlern sind differenziert. Eine Siedlerin in Ofra hielt den »taktischen Beschluss der Regierung für einen stra­tegischen Fehler mit fatalen Folgen für den Staat Israel«. Netanjahu sei bereit, für außenpolitische Zwecke die Legitimität der Siedlungen in Frage zu stellen. Ohne Siedlungen gebe es jedoch keine Sicherheit und Zukunft für Tel Aviv und den Rest des jüdischen Staates. Ein anderer Siedler macht sich keine Sorgen: »Die palästinensische Regierung und die radikalen Siedler werden dafür sorgen, dass Netanjahus Rechnung nicht aufgeht. Abbas wird wegen diesem halben Schritt nicht zu den Friedensverhandlungen zurückkehren, und die radikalen Siedler werden trotzdem weiterbauen.«
Der amerikanische Vermittler George Mitchell bescheinigte der israelischen Regierung, dass ihr Beschluss keinem »völligen Einfrieren der Siedlungen« gleichkomme, doch sei es »mehr, als jede israelische Regierung zuvor getan hat«. Mitchell irrt, es gab weitergehende Maßahmen, die jedoch wirkungslos blieben. Menachem Begin verfügte 1982 ein Einfrieren aller Siedlungsaktivitäten, um die Palästinenser zu Verhandlungen zu bewegen. Das Lockmittel brachte keinen Erfolg. Auch unter Ministerpräsident Jitzhak Rabin gab es einen zeitweiligen Baustopp. Doch es kam zu Terroranschlägen, die israelische Geste erwies sich als unwirksam und geriet bald wieder in Vergessenheit.