Nach dem Minarett-Bauverbot in der Schweiz: Volksabstimmungen haben mit Demokratie nichts zu tun

Im Zweifel für die Angeklagten

Das Referendum hat mit direkter Demokratie nichts, sehr viel hingegen mit der Mobilisierung von Ressentiments zu tun.

Es ist erstaunlich, dass es überhaupt Christen gibt, die sich für Volksabstimmungen aussprechen. Denn zu den Opfern eines solchen Plebiszits gehört auch Jesus. Pilatus, so berichtet die Bibel, ließ die versammelte Menge darüber abstimmen, ob Jesus oder Barrabas gekreuzigt werden solle: »Die Hohenpriester und die Ältesten überredeten das Volk, dass sie um Barabbas bitten sollten und Jesus umbrächten.«
Für Atheisten erläutert Karl Marx die Problematik des Plebiszits. Die Abstimmung, mit der Charles Louis Napoléon Bonaparte 1870 seine Herrschaft legitimierte, wurde nicht nur durch die Propaganda der Hohepriester des Kapitals beeinflusst. Die Ablehnung der Arbeiterklasse, berichtet Marx, wurde »überwogen durch die schwerfällige Unwissenheit der Landbezirke«.
Die Institutionalisierung von Referenden wäre ein Geschenk für Lobbyisten, für kapitalkräftige Interessengruppen, die in den meisten Fällen größeren Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen können als soziale Bewegungen. Doch kaum weniger problematisch sind Abstimmungen, die sich gegen tatsächliche oder vermeintliche Interessen der »Elite« richten, die ja nicht immer reaktionärer ist als die Mehrheit der Bevölkerung.
Die kapitalistische Klassengesellschaft zwingt die Menschen in einen Konkurrenzkampf, dies begünstigt Ressentiments, die der eigenen Person und der Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, eine Überlegenheit zusprechen, aus der sich Vorrechte gegenüber anderen ableiten lassen. Das Referendum erlaubt es reaktionären Hohepriestern »von unten«, solche Ressentiments, die auch in den Städten ein Zuhause finden, zu nutzen.

Es kann zwar vorkommen, dass ein Referendum eine vernünftige Regelung erwirkt, wie es 1978 in Österreich der Fall war, als eine knappe Mehrheit gegen Atomkraftwerke stimmte. In einem solchen Fall kann es einem vielleicht egal sein, dass sich unter den Atomkraftgegnern gewiss auch zahlreiche reaktionäre Esoteriker und Rassisten fanden, die ihr wertvolles Erbgut keiner schädlichen Strahlung aussetzen wollten. Ein Werkzeug des gesellschaftlichen Fortschritts kann das Referendum jedoch nicht sein.
Mit direkter Demokratie hat es nämlich nichts zu tun. Während Rätedemokratie und Selbstverwaltung die Menschen zum Nachdenken, Lernen und Handeln zwingen, weil sie Probleme lösen müssen, die etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun haben, ist bei einem Referendum das Gegenteil der Fall. Komplexe politische Probleme werden auf eine simple Fragestellung zurechtgestutzt.
So wurde in der Schweiz formal über eine architektonische Frage abgestimmt, tatsächlich aber über den Platz, den muslimische Migranten in der Gesellschaft einnehmen sollen. Der überraschende Erfolg der Initiative für das Verbot der Errichtung von Minaretten ist darauf zurückzuführen, dass nicht allein das rechte Milieu islamische Bauwerke flach halten will. Galt den einen das Minarett als Symbol der Frauenunterdrückung, betrachteten andere es als unerwünschtes Zeichen dafür, dass die Leute, die man ins Land geholt hat, um den Müll abzuholen, sich nun erdreisteten, repräsentative Bauten errichten zu wollen.

Die Simplifizierung macht das Ressentiment zum Maß aller Dinge, während die tatsächlichen Probleme ungelöst bleiben. Dass ein Minarettverbot »Ehrenmorde« verhindert, behaupten nicht einmal seine Befürworter. Sie feiern das Abstimmungsergebnis, weil die Schweizer, wie Henryk M. Broder meint, sich »gegen die Islamisierung ihres Landes« entschieden hätten, was auch immer darunter zu verstehen sein soll.
Wenn Stadtteilräte, in denen Migranten gleichberechtigt vertreten sind, über die Minarettfrage zu befinden hätten, müssten sich wohl beide Seiten unbequemen Fragen stellen. Warum ist es so schlimm, wenn das Minarett höher ist als der Kirchturm, obwohl Paulus doch sagte, dass der Christ selbst »der Tempel des lebendigen Gottes« ist? Bedarf eine Moschee wirklich noch eines Minaretts, obwohl dieses nicht mehr den urspünglichen Zwecken dient, mit einem Leuchtfeuer Reisenden den Weg zu weisen und dem Muezzin eine erhöhte Plattform zu bieten?
Basisdemokratie ist im kapitalischen Rahmen nicht unproblematisch, da sie schnell in eine Selbstverwaltung des Elends münden kann. Überdies beseitigen Gespräche und Verhandlungen nicht zwangsläufig Ressentiments. Doch zumindest zwingen sie alle Beteiligten dazu, ihre Interessen zu benennen, zu argumentieren und für ihre Entscheidung die Verantwortung zu übernehmen.