Über das Solo-Album von Bruce Gilbert

Fliege sein, kein Tanzbär

Bruce Gilbert war schon als Musiker der Postpunkband Wire sperrigen Klängen zugetan. Solo ist er für gar keine Kompromisse mehr zu haben.

Die großen Plattenfirmen waren nie experimentierfreudig, auch nicht zur Blütezeit von Punk. Als die englische Postpunkband Wire für EMI nicht mehr rentabel war, wurde der Vertrag gekündigt. Das war bereits 1979, nach der dritten Wire-Veröffentlichung »154«. Das Album galt als nicht mehr zeitgemäß, hatte kryptische Texte und war vom damals tonangebenden Punk und New Wave weit entfernt. Trotz experimenteller Overdubs und verfremdeter Gitarren hörten sich die Nummern mal nach den Beatles, mal nach Pink Floyd an, waren also voller Referenzen an jene Pop-Phase, von der Punk vollmundig vorgegeben hatte, dass sie endgültig überwunden sei. »Eine Plattenfirma ist keine Kulturbehörde«, soll damals jemand von EMI angesichts einer Band gesagt haben, die sich ohne Rücksicht auf Poptrends nur noch in ihrem eigenen Kosmos bewegte.
Wahrscheinlich hätten sich Wire damals aber auch ohne die Vertragskündigung aufgelöst. Während George Lewis und Bruce Gilbert eine experimentelle Band entwickeln wollten, strebte Sänger Colin Newman den perfekten Popsong an. Das führte zu seltsam heterogenen Mischformen, wie sie auf »154« zu hören sind, wäre aber sicher nicht lange gut gegangen. Nach der Trennung nahm Newman ein poppiges Soloalbum auf, Gilbert und Lewis gründeten Dome und hinterließen der Welt vier seltsame Platten, die zum Abstraktesten gehören, was je an den experimentellen Rändern von Pop aufgenommen wurde. Vom Plattenlabel und damit auch von Verkaufszahlen unabhängig, verwirklichten Dome die totale Dekonstruktion von Pop. Im Dome-Sound findet sich pure Entfremdung ausgedrückt, jedoch nicht als Klage über die Verhältnisse, wie es bei Punk üblich war, sondern als ein den Sounds selbst eingeschriebener Zustand – kühl, schmerzhaft, emotionslos. Zugleich standen Dome dem Synthiepop näher als dem Punk, klangen eher wie eine erstarrte Version von New Order als nach virilem Powerrock.
In diesem Kontext wird auch die musikalische Entwicklung von Bruce Gilbert verständlich, der 1984 ein kaum wahrgenommenes Soloalbum mit dem Titel »This Way« veröffentlichte und sich nun mit einer weiteren Soloveröffentlichung zurückgemeldet hat. Beide Platten sind instrumental, beide sind höchst abstrakt und eher dem Bereich der Neuen Musik als dem Pop zuzuordnen.
Das Wiener Label Mego hat Gilberts Comeback für einen Doppelschlag genutzt und »This Way« wiederveröffentlicht. Mit Field Recordings, Loops und Post-Industrial-Noise legt Gilbert eine Art Anti-Ambient vor, das Gegenteil von Brian Enos angenehm wabernden Klangflächen, ein Szenario ständiger akustischer Bedrohung, ein Kriegsschauplatz, dem es jedoch nie zur Schlacht kommt. Das Album wird mit einem zwanzigminütigen Monstrum eröffnet, in dem verhangene Schleierwolken-Sounds gleitend vorüberziehen, durchsetzt von klirrenden Noise-Partikeln. Rhythmisch scheppernd und zugleich subtil, wie Zuggeräusche aus weiter Ferne, beginnt die zehnminütige zweite Nummer, eine dunkle, fast traumatische Minimal-Schleife, deren Trägheit paradoxerweise eine Energie erzeugt, die jegliche Rock-Vitalität albern wirken lässt. Zwei weitere fünfminütige Stücke erinnern eher an die Maschinenästhetik von Industrialacts wie Esplendor Geometrico, wobei Gilbert jeglichen futuristischen Furor außen vor lässt – seine Maschinen verheißen keine rosige Zukunft mehr, sondern sind Ausdruck ungebremster Zerstörung.
Ist »This Way« also ein antimodernistisches Album? Wohl kaum. Sondern eher Musik voller dialektischer Anspannung. Während einige Industrialmusiker in den Achtzigern bereits einem naiven Futurismus erlegen waren, der sich zum Teil auch in bedenklicher Weltanschauung niederschlug, zelebriert Gilbert so etwas wie puren ästhetischen Avantgardismus, dem die Selbstnegation bereits eingeschrieben ist. ­Diese Musik hat nichts Triumphales, sondern ist nur noch vager Nachhall einer nicht näher bestimmten Katastrophe. Und wurde wohl nicht ohne Zufall im damals viel diskutierten Orwell-Jahr 1984 veröffentlicht.
Jahrzehnte später knüpft Gilbert mit »Oblivio Agitatum« nahtlos an die damalige Stimmung an, wenn auch mit zeitgemäßen und vor allem noch abstrakteren Klängen. Im Mittelpunkt der Platte steht ein knapp 26-minütiges Stück, dessen Dröhnen Assoziationen hervorruft, die man gar nicht verbalisieren möchte. Bombengeschwader und U-Boot-Krieg sind noch die harmlosesten Bilder. Doch auch hier bleibt alles subtil, keine Spur von Lärm oder platter Konfrontationsästhetik, sondern eher ein mulmiges Gefühl, ein unangenehmes Brodeln im Bauch bei einer doch zugleich angenehmen, intensiven Musik.
Schon 1984 war Gilberts Schaffen alles andere als zeitgemäß, doch 2009 wirkt es völlig wie ein aus Zeit und Raum gefallener Fremdkörper. Inmitten all der Folk-Barden, der Rückkehr zum Handgespielten, inmitten von folkloristischer Neo­romantik, neuer Innerlichkeit und Zweierbeziehungs-Pop, hört sich »Oblivio Agitatum« fast schon wie eine Kriegserklärung an den Status quo an – keinerlei Romantik sickert durch, man findet keine konkret identifizierbaren ­Instrumente, und vor allem gibt es ein musikalisches Destillat, das sich jeglicher klarer Emo­tion verweigert. Dieses Brodeln gibt keine Antworten mehr auf irgendetwas und ist zugleich auch keine Fluchtbewegung in vermeintlich bessere Welten. Es beschreibt eher einen Zustand, den Zustand der permanenten Krise. Auch die Neo­hippie-Kollektive und Songwriter der vergangenen Jahre lassen sich sicher als Reaktion auf eine tiefe gesellschaftliche Verunsicherung deuten, wobei die Alternative verstärkt im Zwischenmenschlichen, Innerlichen, Esoterischen oder einfach nur in den Wäldern und auf den Wiesen gesucht wird. Doch das ist Eskapismus. Gilbert geht es um etwas anderes. Seine Musik reagiert auf Sprachlosigkeit mit Sprachlosigkeit. Sie ist, was Adorno die »Mimesis ans Verhär­tete und Entfremdete« genannt hatte. Die Entfremdung wird weder überspielt noch abgewehrt, sondern ist allen amorphen Klängen eingeschrieben.
Hört man sich vor diesem Hintergrund heute noch einmal alte Wire-Platten an, wird deutlich, dass dieses Prinzip bereits in deren Songs angelegt war. Während die Punkbands mit Slogans wie »I’m bored« und »I don’t care« ihre ­eigene Langeweile und ihren Überdruss nach außen kehrten, waren Wire selbst der Virus im System. In ihrem Song »I am the fly« verglichen sie sich mit einer Fliege, deren Bazillen die Menschheit töten – ohne Aussicht auf Hoffnung. Im Interview mit dem Rock Session-Magazin erklärten Wire ihre Position so: »Manche wollen wissen, warum wir nicht wie eine der üblichen Rock’n’Roll-Gruppen sind, warum wir die Leute nicht zum Mitklatschen animieren und ihnen angenehm die Zeit vertreiben, dazu kann ich nur sagen: Wir sind keine tanzenden Bären. Wir sind kein Zirkus.« Das gilt auch für die CDs von Bruce Gilbert in einem Maß, das befürchten lässt, dass eine größere Außenwahrnehmung seiner Musik ausbleiben wird.

Bruce Gilbert: This Way / Oblivio Agitatum (beide: Mego)