Besuch einer Hochburg der maoistischen Guerilla in Indien

Unberührbare Kämpfer

Seit 40 Jahren ist die maoistische Guerilla der Naxaliten in Indien aktiv. Nachdem die Regierung in den vergangenen Monaten eine militärische Offensive gegen sie gestartet hat, schlagen bewaffnete Gruppen in den von ihnen kontrollierten Gebieten häufiger zu. Auch gegen die Zivilbevölkerung. Ein Besuch in einer Hochburg der Naxaliten in Südindien.

Das Treffen mit den beiden Kämpfern ist in einem am Highway liegenden heruntergekommenen Örtchen vereinbart, irgendwo in der Einöde des südindischen Bundesstaates Andhra Pradesh. Vor dem unscheinbaren Restaurant betteln zwei zahnlose alte Frauen, einige Männer trinken schlürfend ihren Chai. Draußen ist es drückend heiß, doch im hinteren Teil des Flachbaus ist es dunkel und eiskalt. Im abgetrennten klimatisierten Bereich dringt der Lärm der vorbeiziehenden Fahrzeuge nur gedämpft durch die Wände, Fenster gibt es keine. Nur wenige Tische sind besetzt, die Kellner stehen gelangweilt am Tresen.
Das Pärchen tritt schweigend ein. Beide sehen aus wie Mitte zwanzig und wirken wie Studenten aus der Stadt. Alle Blicke richten sich sofort auf die Frau: Hosen tragen hier normalerweise nur Männer. Zielstrebig steuern die beiden auf das Waschbecken zu und schauen sich dabei intensiv um. Schließlich setzen sie sich an den Tisch. »Sollte dies eine Falle sein, werden wir schießen«, sagt die Frau.

Die Kämpfer sind nervös. Im Juni wurde die Communist Party of India (Maoist) von der Regierung zur terroristischen Vereinigung erklärt. Mitte September verhaftete die Polizei in New ­Delhi Kobad Ghandy, einen der wichtigsten Anführer der Maoisten. Derzeit werden 70 000 Soldaten und Paramilitärs gegen die maoistische Guerilla der Naxaliten eingesetzt. Mithilfe von Drohnen und schwerem Gerät soll die Guerilla endgültig besiegt werden. Offiziell bestreitet die Regierung die Existenz der »Operation Green Hunt«, wie die Aktion von indischen Massenmedien genannt wird. Doch die Truppenbewegungen verdeutlichen die Absicht, das Problem ein für alle Mal militärisch zu lösen, ganz nach dem Vorbild Sri Lankas. Zwar kündigte die Regierung parallel zur militärischen Offensive an, in die In­frastruktur der betroffenen Regionen zu investieren. Doch es bestehen kaum Zweifel darüber, dass die Statistik der Bürgerkriegstoten in den kommenden Monaten nach oben ausschlagen wird.
Bereits in den vergangenen Jahren wurden bei Gefechten Hunderte Maoisten und angebliche Unterstützer und Sympathisanten der Guerilla erschossen. In Hunderten Fällen exekutierte die Polizei Maoisten und Verdächtige nach deren Festnahme, wie selbst die Staatliche Menschenrechtskommission einräumt. Bis Anfang 2009 durften Busladungen von Journalisten die Hochburgen der maoistischen Guerilla besichtigen, militärische Manöver und Loyalitätsbekundungen der Bauern inklusive. Doch die Zeiten des »Mao-Tourismus« sind vorbei.
»Die Feudalisten und Imperialisten in der Regierung versuchen, die revolutionäre Bewegung auszulöschen, aber das wird ihnen nie gelingen.« Der im Untergrund lebende Aktivist nennt sich Azad und setzt zu einem geflüsterten Vortrag über die Geschichte der maoistischen Bewegung in Indien und über die staatliche Repression in Andhra Pradesh an. Schließlich gelingt es doch, ein persönlicheres Gespräch mit den beiden einzuleiten.
»Warum ich bei der Guerilla bin?« Die junge Frau, die sich Tamara nennt, erzählt ihre Geschichte: »Ich komme aus einem kleinen Dorf und bin eine Dalit, eine Unberührbare. Die Dalits in unserem Dorf besitzen nichts und müssen für einen Hungerlohn auf den Feldern der Höherkastigen arbeiten. Und einige dieser Großgrund­besitzer vergewaltigen immer wieder Dalit-Mädchen. Wenn sich die Familien wehren, wird einfach kein Lohn mehr gezahlt«, erzählt sie. »Irgendwann wurde meine Schwester vergewaltigt, sie war zwölf Jahre alt. Meine Eltern trauten sich nicht, etwas zu unternehmen, aber ich ging zur Polizei.« Tamara nimmt einen Schluck Tee. »Doch auf der Wache verlangten die Polizisten Sex mit mir, bevor sie etwas unternehmen«, wispert die Guerilla-Kämpferin und blickt sich dann wieder nervös um, offensichtlich beunruhigt, es könnte zu einem Zugriff kommen.
Seit Mai hat die Guerilla ihre Aktivitäten intensiviert. Verübt wurden Anschläge auf Polizeista­tionen, Züge und Militärs, aber auch indigene Adivasis, die sich den Paramilitärs angeschlossen haben oder schlicht im Verdacht stehen, Informanten des Staats zu sein, wurden von den Naxaliten erschossen. Kurz vor den Attentaten von Mumbai im Jahr 2008 bezeichnete Premierminister Manmohan Singh die maoistische Guerilla noch als größte Gefahr für die innere Sicherheit. Aufgrund der derzeitigen Offensive ist das Thema erneut in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gerückt. Dabei geht es aber vor allem um die Frage der Gewalt: Wer agiert brutaler, welche Seite macht sich als nächste einer Menschenrechtsverletzung schuldig?
Dabei verfehlt die Debatte den Kern des Problems. Selbst hochrangige Politiker meinten noch im vergangenen Jahr öffentlich, dass man nur über die Guerilla sprechen könne, wenn man die strukturelle Diskriminierung der indigenen Gruppen und der Dalits thematisiere.
Tamara spitzt diese Meinung zu: »Der Volkskrieg ist die einzige Möglichkeit, das Kastensystem abzuschaffen und Gerechtigkeit für Dalits und Adivasis durchzusetzen«, sagt sie entschlossen.

Auf dem Weg zum Distrikt Warangal, einer der letzten Hochburgen der Guerilla in Andhra Pradhesh, widerspricht die ehemalige Guerilla-Kämpferin Symala Gogu dieser Einschätzung kopfschüttelnd. »Die Maoisten reproduzieren die Strukturen in der Gesellschaft«, sagt sie. »Die Brahmanen fällen die Entscheidungen, und die Dalits und Adivasis sind die einfachen Kämpfer. Fast alle unsere Märtyrer sind Dalits«, berichtet die 40jährige, die selbst mehrere Jahre im Untergrund lebte und dann zwei Jahre im Gefängnis verbrachte. Vor über zehn Jahren hat sie sich von den Maoisten losgesagt, seitdem arbeitet sie in verschiedenen NGO für die Rechte der Unberührbaren.
Am Ende der Fahrt öffnen sich die Türen am staubigen Rand einer kleinen von Adivasis bewohnten Siedlung. Strom gibt es hier ebenso wenig wie fließendes Wasser oder eine Schule. ­Gerade einmal zwei Männer dieser Gemeinde, die 250 Einwohner zählt, sind keine Analphabeten, die meisten sind unterernährt. Was denken sie über den »Volkskrieg«?
Symala Gogu, die seit mehreren Jahren in dem Dorf arbeitet, versucht, die Leute zum Sprechen zu animieren, doch niemand möchte sich äußern. »Vor wenigen Wochen haben die Maoisten hier in der Dorfmitte einen Mann aus unserer Gemeinde erschossen. Sie meinten, er sei ein Volksverräter, der als Polizeiinformant gearbeitet habe«, erzählt ein älterer Mann. »Aber wir wissen alle, dass das nicht stimmt. Er hat nur protestiert, als die Maoisten uns wieder einmal Essen wegnahmen.«
Immer wieder berichtet die indische Presse über Lebensmittelenteignungen in ohnehin bitterarmen Gemeinden, von Erschießungen einfacher Dorbewohner, die im Verdacht stehen, als Polizeiinformanten zu arbeiten. Zurückgedrängt von Polizei und Militär, üben die Maoisten in den von ihnen kontrollierten Gebieten eine immer repressivere Herrschaft aus, legitimiert wird diese durch die Urteile der Jan Adalats, so genannter Volksgerichte.
Ist das nur bürgerliche Propaganda oder die Realität einer Guerilla, die zusehends einer militärischen Logik folgt?
Weder noch, meint Venugopalrao Nellutla, der Venu genannt werden möchte. Der 50jährige Journalist und Sprecher der Revolutionary Writers Association, einer Vorfeldorganisation der Maoisten, sitzt in seinem Büro in Hyderabad vor einem großen Bücherregal. Werke von Keynes, Marx, Lenin, aber auch die von Mahatma Gandhi und Churchill finden sich hier neben unzähligen anderen Büchern.

Venu ist einer der bekanntesten Sprecher der Maoisten in Andhra Pradesh. Sein Onkel, Varavara Rao, ist ein populärer Dichter. Beide treten offen für die Maoisten ein, leben aber nicht im Untergrund. Seit fast zehn Jahren arbeitet Venu nun als Vorstand der Revolutionary Writers Association und schreibt regelmäßig für maoistische Publikationen. Seine jüngsten Artikel trugen Dokumentationen verschiedener Menschenrechtsorganisationen über die Erschießungen in Polizeigewahrsam zusammen. Auch er blickte diesem Schicksal vor einigen Jahren entgegen: »Die Polizisten diskutierten direkt vor unserer Zellentür darüber, wo sie unsere Leichen verschwinden lassen könnten. Warum sie uns letztlich laufen ließen, kann ich mir bis heute nicht erklären«, erzählt er. Eigentlich möchte er aber nicht über sich sprechen, sondern über die Bewegung.
Allein in Andhra Pradesh existieren unzählige Vorfeldorganisationen der Naxaliten wie die Civil Liberty Association, die sich für die Einhaltung der Bürgerrechte einsetzt und Gefangene betreut. Dann erzählt Venu, wie alles begann. In dem kleinen Dorf Naxalbari im Bundesstaat West-Bengalen lehnten sich im Jahr 1967 landlose Dalits gemeinsam mit Kleinbauern gegen die Großgrundbesitzer auf. Unterstützt wurde die Revolte von angereisten kommunistischen Kadern, die dem Beispiel Maos folgten und davon träumten, die sozialistische Revolution von den Dörfern bis nach New Delhi zu tragen. Der Aufstand in Naxalbari wurde nach wenigen Monaten brutal vom Militär niedergeschlagen, die maoistische Bewegung, deren Anhänger sich fortan Naxaliten nannten, verbreitete sich jedoch rasend schnell in großen Teilen des Landes. Heute sind naxa­litische Gruppen auf fast 40 Prozent des indischen Staatsgebietes aktiv, zwischen 15 000 und 20 000 Kämpfer sind in der Guerilla. Es existiert eine kaum überschaubare Anzahl verschiedener Gruppen und Fraktionen, die sich teilweise erbittert bekämpfen und teilweise miteinander kooperieren.
»Die Guerilla folgt nicht einer militärischen Logik, sondern einer politischen Linie, die vom Zentralkomitee festgelegt wird«, meint Venu. »Ich denke schon, dass die Offensive des Staates dazu geführt hat, dass teilweise zu harte und auch ungerechte Urteile von den Volksgerichten gesprochen wurden und dass zunehmend auch Zivilisten ins Kreuzfeuer gerieten.« Was von den Maoisten konkret zu erwarten ist, demonstrierte die Guerilla in den vergangenen Jahrzehnten in den wenigen Gebieten, die sie kontrolliert. Verbessert haben sich dort weder die Lebensbedingungen der Bewohner, noch änderte sich die Sozialstruktur der Gemeinden substanziell. Das Kastensystem ist auch dort noch längst nicht aus den Köpfen verschwunden. »Das ist dem Kriegszustand geschuldet«, wirft Venu ein, gibt jedoch zu, dass es den Maoisten bisher nicht gelang, konkrete Veränderungen auf den Weg zu bringen. Zumindest keine langfristigen Verbes­serungen.
Triftige Gründe, das System fundamental verändern zu wollen, gibt es in Indien mehr als genug. Angesichts der tagtäglichen Diskriminierung und deren Legitimation durch das immer noch virulente Kastensystem ist es eher verwunderlich, wie wenige Menschen bislang zur AK-47 und der roten Fahne griffen. Doch auch in den offiziellen Verlautbarungen der naxalitischen Gruppen wird schnell deutlich, wofür die Bewegung steht. Die gesamte Ahnenreihe von Marx und Engels über Lenin bis zu Stalin und natürlich Mao ziert sämtliche Druckwerke. Die verstaubte Rhetorik identifiziert den US-Imperialismus als wichtigsten Feind und analysiert auch die Wirtschaftskrise in einer kaum zu unterbietenden Schlichtheit.
Die naxalitische Bewegung diskutiere derzeit darüber, den Aktionsradius auf die Städte auszuweiten, erzählt Venu. »Wir haben 2004 den Urban Perspective Plan veröffentlicht, aber das Zentralkomitee will derzeit noch keine Operationen in den Städten durchführen lassen. Langfristig aber müssen wir die Massen an Wanderarbeitern und Slumbewohnern einbinden. Schon heute laufen intensive Rekrutierungsbemühungen in den Städten«, berichtet Venu und verweist noch stolz auf den Blog der Maoisten und die Internet-Seiten der Bewegung. »Auch wir gehen mit der Zeit.«

»Wir sind nicht mehr zeitgemäß«, meint hingegen Gaddar, ein Sprecher der Maoisten in Hyderabad. Der Kontrast zu dem ruhigen, schüchternen Journalisten Venu könnte kaum größer sein. Gaddar ist laut, polternd, ein Mann, der seine öffentlichen Auftritte sichtlich genießt. Verhasst ist er als Symbolfigur der maoistischen Bewegung bei den einen, bei den anderen ist er dagegen als Volkssänger beliebt. Vor allem seine Hymne auf die Rikscha-Fahrer machte ihn in den siebziger Jahren bekannt. Seine Stücke für die Entrechteten Indiens gehören zu den populärsten Liedern Andhra Pradeshs. Gaddar sitzt gutgelaunt im Obergeschoss seines Hauses vor riesigen Postern, die ihn in Revolutionärspose vor begeisterten Massen zeigen. Er hat gerade einem Fernsehteam ein Interview gegeben, und wie immer hat er den Maoismus gesungen und getanzt.
Nun trinkt er einen Chai und berichtet von seiner Kindheit als Sohn einer Dalit-Familie in einem kleinen Dorf, von seiner Zeit im Untergrund, seinen Auftritten vor mehreren hunderttausend Menschen in Hyderabad und schließlich von dem Attentat im Jahre 1997. Sechs Schüsse trafen ihn damals, eine Kugel steckt immer noch in seinem Rückgrat. »Es war ein Mordversuch des Staates. Doch die Bevölkerung stand hinter mir und demonstrierte für meine Sicherheit.« Noch während Gaddar im Krankenhaus lag, gingen in Hyderabad Hunderttausende auf die Straße. Dass die Regierung hinter dem Attentat stand, zweifelten selbst die bürgerlichen Zeitungen nicht an. Seitdem verlässt Gaddar das Haus nicht mehr ohne seine beiden bewaffneten Bodyguards. Diese wiederum sind Polizisten, die von der Staatsregierung abgestellt wurden.
Staatsdiener, die einen Staatsfeind vor dem Staat schützen? Gaddar sieht darin keinen Widerspruch. »Ich vertraue ihnen«, meint er lächelnd und posiert mit den beiden schweigsamen Beamten für ein Gruppenfoto mit Maschinenpistole. Zwei Tage später kann er noch rechtzeitig abtauchen, bevor ein Spezialkommando der Polizei sein Haus stürmt. Der Vorwurf lautet: Polizistenmord. Seine beiden Leibwächter gaben bei den erfolglosen Kollegen an, von Gaddars Verschwinden nichts mitbekommen zu haben.
Dessen Zeit im Untergrund belief sich diesmal allerdings nur auf zwei Wochen, dann zog die Staatsanwaltschaft den Haftbefehl zurück. Zwar demonstrierten diesmal nur einige tausend Unterstützer, dennoch reichte es, um den Staat zum Nachgeben zu bewegen.
Auf so viel Nachsicht können Azad und Tamara indes nicht hoffen. »Ich glaube nicht, dass ich noch lange leben werde«, meint Azad. »Ich hätte nur noch so gerne Kinder gehabt, damit sie eines Tages die Revolution miterleben«, fügt er traurig hinzu, bevor er aus dem Restaurant ins Freie tritt. Hier pulsiert das ganz normale Leben. Azad und Tamara nicken kurz zum Abschied und verschwinden dann in der Menschenmenge.