Der Anschlag auf koptische Christen in Ägypten

Schüsse nach der Weihnachtsmesse

In der ägyptischen Stadt Nag Hammadi wurden vor einer Kirche sieben Menschen erschossen. Die Regierung bestreitet, dass die Täter politische Motive hatten.

Wenn ein Muslim stirbt, erscheinen zwei Engel, die ihn begleiten. Wie viele Engel erscheinen, wenn ein Saidi stirbt? 52, zwei zu seiner Begleitung und 50, die ihm erklären, was nun los ist. In Ägypten, genauer gesagt in Kairo und den nördlich gelegenen Gebieten des Deltas, kursieren unzählige Witze dieser Art über die Saidis, wie die Bewohner des Südens genannt werden. Sie gelten als bäuerlich und ein wenig unterbelichtet, als etwas humorlos und jederzeit bereit, eine tatsächliche oder vermeintliche Beleidigung zu rächen.
Das Klischeebild hat einen realen Hintergrund. Der Said, das oberägyptische fruchtbare Grünland beiderseits des Nils südlich von Kairo, ist die am schwächsten entwickelte Region des Landes. Die meisten Menschen sind in Clanstrukturen eingebunden, und es sind zahlreiche Waffen im Umlauf. Zu Kämpfen zwischen den Clans, bei denen immer die Ehre angeführt wird, es meistens aber um Landstreitigkeiten und ähnliche Konflikte geht, kommt es häufig, Todesopfer sind keine Seltenheit.
War ein solcher Clankonflikt das Motiv für den Mord an sechs koptischen Christen und einem Wachmann in der Nacht zum Donnerstag der vergangenen Woche? Nach der Weihnachtsmesse waren Kirchenbesucher in Nag Hammadi aus einem fahrenden Auto von drei Männern mit automatischen Waffen beschossen worden. Im November wurde ein muslimisches Mädchen angeblich von einem Christen vergewaltigt. Bischof Kirollos sagte, ein Angriff auf die Weihnachts­feierlichkeiten sei angekündigt worden, deshalb habe er die Messe verkürzt.

Unmittelbar nach dem Anschlag griffen Kopten die Polizei an, bei der Trauerprozession kam es erneut zu Auseinandersetzungen, Polizeiwagen wurden mit Steinen beworfen, etwa 5 000 Demonstranten riefen: »Nein zur Verfolgung.« Die Sicherheitskräfte hätten sich nicht ausreichend um den Schutz der Christen bemüht, kritisiert Bischof Kirollos. Er macht »muslimische Radikale« für den Anschlag verantwortlich. Die Regierung bestreitet politische Motive, die Morde »haben nichts mit dem Islam zu tun«, sagte Khairat Osman, Generalsekretär der regierenden National Democratic Party (NDP) in der Provinz Qena, in der Nag Hammadi liegt.
Dass auf eine Menschenmenge gefeuert wurde, deren einziges gemeinsames Merkmal ihre Konfession war, spricht jedoch gegen einen Clankonflikt. Etwa zehn Prozent der Ägypter sind Christen, größtenteils Anhänger der koptischen Kirche, doch im Said ist ihr Bevölkerungsanteil höher. Höher ist in dieser Region aber auch der Anteil der Islamisten. Sie bemühen sich, Clankonflikte zu politisieren und können dabei einige Erfolge verzeichnen.
Konflikte gibt es jedoch nicht nur im Said. Nach Angaben von Amnesty International stieg im Jahr 2008 die Zahl der Angriffe auf Kopten. Nicht immer sind Islamisten verantwortlich. Eine systematische Christenverfolgung gibt es nicht, wohl aber eine Reihe diskriminierender Regelungen. Zwar entschied das Oberste Verwaltunggericht im Jahr 2008, dass zum Islam konvertierte Christen ihre alte Religion wieder annehmen dürfen. Doch betonten die Richter, ausschlaggebend sei, dass die Betreffenden nur kurzzeitig Muslime waren. Wer von Geburt an zu den Muslimen gezählt wurde, hat die Möglichkeit zur legalen Konversion nicht.
Nur selten werden neue Kirchenbauten genehmigt, die Verfassung erklärt den Islam zur Staatsreligion und das islamische Recht zur »Hauptquelle der Gesetzgebung«. Zur Einhaltung isla­mischer Gebote sind die Christen nicht verpflichtet. Doch sie müssen sich einer Leitkultur unterordnen, die von einem Regime verwaltet wird, das sich gegenüber dem westlichen Ausland gerne als modern und säkular präsentiert, aber die von ihm besoldeten Geistlichen einen reaktionären Staatsislam propagieren lässt.
Präsident Hosni Mubarak führte die von seinem 1981 ermordeten Vorgänger Anwar al-Sadat begonnene Politik der »Islamisierung von oben« fort. Das begünstigte eine Haltung, die man als »ostdeutsches Bürgermeistersyndrom« bezeichnen könnte. Während der Präsident und die hohen Politiker der NDP die »nationale Einheit« und die Gleichberechtigung aller Ägypter betonen, sind Lokalfürsten der Partei weniger zimperlich, wenn es darum geht, Ressentiments gegen Minderheiten zu schüren. Auch der Polizei mangelt es häufig an Einsatzfreude, wenn es gilt, Übergriffe zu verhindern oder aufzuklären.

Die »Islamisierung von oben« begünstigte auch die Islamisten. Denn der Staat erhebt ja den Anspruch, dem islamischen Recht zu folgen, doch oftmals gibt es innen- und außenpolitische Interessen, die eine Abkehr von der fundamentalis­tischen Interpretation erfordern. Der Staatsislam ist ein Instrument der sozialen Kontrolle, er soll aber weder die kapitalistische Geschäftstätigkeit durch allzu strenge Auslegungen des islamischen Rechts stören noch dem Streben der politischen Oligarchie im Weg stehen, Ägypten zur Regionalmacht zu erheben.
Sadat entschloss sich als erster arabischer Herrscher zu einem Friedensvertrag mit Israel, blieb jedoch zeitlebens bekennender Antisemit. Mubaraks Regierung bemühte sich nie, jenseits der formalen Beziehungen so etwas wie eine gesellschaftliche Annäherung einzuleiten oder unter der ägyptischen Bevölkerung für eine Verständigung mit Israel zu werben.
Seit das Regime die im Gaza-Streifen herrschende Hamas als Gefahr für die Stabilität Ägyptens betrachtet, wird die Grenze besser gesichert. Ein unterirdischer Stahlwall soll den Schmuggel unterbinden. Die ägyptische Polizei stoppte in der vergangenen Woche einen von europäischen Antizionisten organisierten Konvoi nach Gaza, bei Auseinandersetzungen an der Grenze wurde ein ägyptischer Soldat erschossen, wahrscheinlich von einem Milizionär der Hamas. Die Islamisten versäumen es nicht, solche Vorfälle für ihre Propaganda zu nutzen. Das bringt ein Regime, das den Friedensvertrag mit Israel behandelt wie ein schmutziges Familiengeheimnis, über das man bei Tisch nicht spricht, in die Defensive. Einmal mehr können sich die Islamisten als die wahren Hüter der Werte präsentieren, die staatlich anerkannt sind, in der Praxis aber von der Regierung »verraten« werden.

Eine Chance, die Macht zu übernehmen, haben sie derzeit nicht. Ihre wichtigste Organisation, die offiziell verbotene, aber weitgehend geduldete Muslimbruderschaft, stellt etwa 20 Prozent der Abgeordneten. Es ist fraglich, ob es bei freien Wahlen wesentlich mehr sein würden. Da die Muslimbruderschaft an einem Bündnis mit liberalen Gruppen interessiert ist, gibt sie sich gemäßigt, auch gegenüber den Christen. Doch obwohl die koptische Kirche immer die Unabhängigkeit wahrte und ihre Geistlichen ebenso antizionistisch sind wie die muslimischen Kollegen, werden immer wieder Verratsvorwürfe und Verschwörungstheorien verbreitet.
Nach dem Attentat in Nag Hammadi kursierte das Gerücht, extremistische Kopten hätten geschossen, um einen konfessionellen Konflikt zu provozieren. Dem ehemaligen Geheimdienstchef Fouad Allam wurden 100 SMS mit dieser Theorie übermittelt. Allam bezeichnete die Beschuldigungen als »vage«, verwies aber auf »auslän­dische Kräfte«, die ein Interesse an der Destabi­lisierung Ägyptens hätten.
Die Polizei hat mittlerweile drei Verdächtige verhaftet. Doch bei politisch brisanten Attentaten wie den Bombenanschlägen im Badeort Dahab waren politische Interessen immer wichtiger als konsequente Ermittlungen. Das Regime will weder eine Präsenz von al-Qaida noch die Existenz einer einheimischen terroristischen Islamistenszene zugeben. Eine Aufklärung der Morde in Hag Hammadi ist nur zu erwarten, wenn die Wahrheit dem Regime genehm ist, also tatsächlich isolierte Täter ohne politische Motive verantwortlich waren.