Der Wettbewerb der Helfer in Haiti

Die Stunde der Heuchler

Nach dem Erdbeben in Haiti begann der Wettbewerb der Helfer. Doch die »internationale Gemeinschaft« hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Katastrophe eine schutzlose und ausgehungerte Be­völkerung traf.

Die Haitianer sollten »geduldiger« sein, forderte der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon bei seinem Besuch in Port-au-Prince am Sonntag. Doch er begegnete wütenden Überlebenden, denn fünf Tage nach dem Erdbeben hatten die meisten noch immer keine Hilfe erhalten. »Es gibt kaum Anzeichen für eine umfangreiche Hilfsgüterverteilung«, urteilte die NGO Ärzte ohne Grenzen.
Für Verzögerungen sorgten auch die Foto­termine hochrangiger Politiker. So wurde die Verladung von Hilfsgütern auf dem US-Flughafen Homestead für drei Stunden unterbrochen, weil Vizepräsident Joe Biden dort verkünden wollte, dass »Hilfe unterwegs« sei. Schließlich geht es bei der Katastrophenhilfe immer auch um das politische Ansehen. Barack Obama versprach 100 Millionen Dollar, denn Hugo Chávez und Raúl Castro schlafen nicht, und chinesische Helfer gehörten zu den ersten, die in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince eintrafen.
Der Wettbewerb mag irgendwann den Überlebenden zugute kommen. Der haitianische Gesundheitsminister Jean-Max Bellerive schätzt die Zahl der Todesopfer auf mehr als 100 000, etwa drei Millionen Menschen benötigen Nahrungsmittel und Wasser, Hunderttausende warten auf medizinische Hilfe. Dass die Helfer in einem Land, in dem es auch vor dem Beben kaum staatliche Institutionen und Infrastruktur gab, unter fast vorindustriellen Bedingungen arbeiten müssen und viele der Überlebenden nun wohl zum ersten Mal seit Jahren satt werden, ist jedoch nicht zuletzt die Schuld jener, die sich nun mit Mitleidsbekundungen und Hilfsversprechen gegenseitig überbieten.
Seit knapp sechs Jahren steht Haiti faktisch unter der Kontrolle der »internationalen Gemeinschaft«. Zuvor hatten die USA und Frankreich den von einem Aufstand rechtsextremer Milizen bedrängten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide in einer dubiosen Aktion aus dem Land geschafft. Warum dies geschah, ist bis heute ungeklärt, denn der linke Populist Aristide hatte sich längst für eine pragmatische Elendsverwaltung entschieden. Doch Artistides Partei Famni Lavalas durfte seitdem nicht an den Wahlen teilnehmen. Die Haitianer wählten im Jahr 2006 René Préval zum Präsidenten, einen ehemaligen Verbündeten Aristides, von dem sie sich noch am ehesten soziale Verbesserungen erhoffen konnten. Die Uno solle »uns mit mehr Traktoren, Bulldozern und Lastwagen helfen, um Straßen und Bewässerungskanäle zu bauen«, forderte Préval in seiner Antrittsrede. »Wir brauchen keine Panzer mehr.«

Die »internationale Gemeinschaft« war anderer Ansicht. Etwa 7 000 Soldaten und mehr als 2 000 Polizisten der UN-Mission Minustah haben das Mandat, für eine »sichere und stabile Umgebung« zu sorgen. Doch bei Kampfeinsätzen in den Armenvierteln wurden zahlreiche Zivilisten getötet. Auch die Beteiligung an politischen Morden und die Vergewaltigung von Kindern werden den UN-Soldaten vorgeworfen.
Von ziviler Aufbau- und Entwicklungshilfe ist im UN-Mandat hingegen gar nicht erst die Rede. Als im Jahr 2008 die Nahrungsmittelpreise immens stiegen, revoltierten die Haitianer und belagerten den Präsidentenpalast. Die UN-Soldaten schützten Préval, doch musste er sich mit dürftigen zwölf Millionen Dollar Nothilfe begnügen. Ähnlich geringe Beträge flossen für den Aufbau politischer Institutionen und Entwicklungsprojekte. Es ist daher kein Wunder, dass viele Haitianer die Blauhelme als Besatzungsmacht betrachten. Als nach dem Erdbeben die UN-Soldaten wieder Patrouille fuhren, ohne Hilfsgüter zu verteilen, errichteten Protestierende in mehreren Straßen von Port-au-Prince Barrikaden aus Leichen. Dass die Entsendung von Soldaten, nun vorrangig von US-Marines, wieder Prioriät hat, sorgt für Unmut.
Abhängig von Entwicklungshilfe und Kapitalimporten, hat die haitianische Regierung kaum eine andere Wahl, als den Vorgaben der internationalen Finanzinstitutionen zu folgen. Die Landwirtschaft wurde durch die Freihandelspolitik geschädigt. Die Kleinbauern, noch immer etwa zwei Drittel der Bevölkerung, konnten mit den ausländischen Agrarkonzernen nicht konkurrieren, viele zogen in die Armenviertel der Hauptstadt, wo sie nun unter den Trümmern ihrer Hütten begraben wurden. Da das Geld für Importe fehlt, ist Holzkohle auch für die Armen die einzige Energiequelle geblieben. Wegen der Entwaldung gibt es nach dem Beben »ein extrem großes Risiko von Böschungsbrüchen und Erdrutschen, die sehr ausgedehnt sein können«, sagt der Geophysiker Colin Stark.

Die jahrzehntelange Diktatur der Duvaliers hatte die haitianische Gesellschaft zerrüttet und eine Oligarchie hinterlassen, die sich rechtsextremer Milizen bedient, um ihre Macht zu sichern. Auch die Anhänger Aristides bildeten Milizen, andere Haitianer griffen zu den Waffen, um sich einen Lebensunterhalt zu verschaffen. Die Uno hat sich in diesem Konflikt faktisch auf die Seite der Oli­garchie geschlagen, Aristide, der nach Haiti zurückkehren will, könnte in den kommenden Wochen zum Anführer einer Protestbewegung werden.
Haiti gehört zu den failed states, doch da die Bewohner der Insel es versäumt haben, eine globale terroristische Bedrohung hervorzubringen, interessiert das kaum jemanden. Obamas Versprechen, dass die Haitianer »nicht vergessen werden«, kann man daher getrost vergessen. Auch bei den Hilfszusagen ist Vorsicht geboten. Nach dem Erdbeben in der iranischen Stadt Bam im Jahr 2002 versprach die »internationale Gemeinschaft« 1,1 Milliarden Dollar. Ausgezahlt wurde kaum mehr als ein Zehntel dieser Summe.